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Titel
Die Komamethode. Willensfreiheit, Selbstverantwortung und der Anfang vom Ende der Roten Armee Fraktion im Winter 1984/85


Autor(en)
Stoff, Heiko
Reihe
Kaleidogramme
Erschienen
Anzahl Seiten
435 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gisela Diewald-Kerkmann, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Schon seit längerer Zeit ist es Gegenstand der Forschung: Im Kontext des bundesdeutschen Linksterrorismus verweigerten inhaftierte Mitglieder der Rote Armee Fraktion (RAF) bei ihren Hungerstreiks bewusst die Nahrungsaufnahme, mit dem Risiko, etwa nach drei bis vier Wochen eintretende schwere gesundheitliche Schäden oder sogar den Tod in Kauf zu nehmen. Die verweigerte Flüssigkeitsaufnahme, der „trockene Hungerstreik“, und der Wasserverlust im Körper (Dehydratation) konnten zu Bewusstlosigkeit und zum Tod führen. Ebenso wird die Zwangsernährung thematisiert, bei der mittels eines Schlauches flüssige Nahrung durch Nase oder Mund eingeflößt wurde. Das ist ein schmerzhafter Prozess, da die zu ernährende Person hierfür fixiert werden muss. Insgesamt führten die inhaftierten Mitglieder der RAF im Zeitraum von 1973 bis 1994 zehn kollektive Hungerstreiks durch, mit der Absicht, ihren eigenen Körper als Waffe einzusetzen. Laut Kassibern, Erklärungen und Direktiven zu den Hungerstreiks dominierte bei den RAF-Inhaftierten der Wille, sich unter Einsatz des eigenen Lebens vor allem gegen ihre Haftbedingungen zu wehren. Darüber hinaus ging es um die Zusammenlegung in größere Gruppen sowie um die Anerkennung als politische Gefangene – und nicht zuletzt um eine mediale Aufmerksamkeit.

Vor diesem Hintergrund lenkt der Historiker Heiko Stoff (Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover) mit seiner Mikrostudie die Aufmerksamkeit auf ein bislang nur vereinzelt1 behandeltes Kapitel der RAF-Geschichte, konkret auf die „Komamethode“. So wurde der komatöse RAF-Gefangene Knut Folkerts am 29. Januar 1985 aus dem Hochsicherheitstrakt in der Justizvollzugsanstalt Celle I auf die Intensivstation der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) verlegt. Dabei darf die grundsätzliche Problematik nicht ausgeklammert werden, dass die Pflicht des Staates, Leben zu erhalten, dem individuellen Recht auf Autonomie respektive Selbstbestimmung des Betroffenen gegenüberstand. „Dies kulminierte Ende Januar des Jahres 1985, als der an der MHH tätige Oberarzt Gerhard Walter Sybrecht mit der sogenannten Komamethode das Leben des hungerstreikenden Knut Folkerts rettete, ohne jedoch dessen freien Willen auf Nahrungsverweigerung in Frage zu stellen.“ (S. 8) Während der niedersächsische Justizminister in diesem Zusammenhang von einer Behandlung im Koma sprach, prägte Folkerts' Anwältin den Begriff der „Komalösung“. Stoff hebt hervor, dass gemäß der „Komamethode“ ein intensivmedizinischer Eingriff bei Hungerstreikenden, die jegliche Behandlung ablehnen, erst dann möglich sei, wenn diese ohne Bewusstsein und damit also auch ohne freien Willen sind. Damit werde der staatlichen Fürsorgepflicht wie auch dem Selbstbestimmungsrecht des Individuums Rechnung getragen. Insoweit habe sich „sukzessive das in der Zwangsernährung reproduzierte Gewaltverhältnis […] zu einer kommunikativen Beziehung zwischen Arzt und Patient“ verschoben (S. 16). Ob die RAF damit aber – wie der Verfasser konstatiert – „ihren imaginierten Gegner, den faschistischen Staat“ (S. 17), verlor, ist kritisch zu hinterfragen.

In den 1970er- und 1980er-Jahren gab es heftige Kontroversen in der bundesdeutschen Gesellschaft über die Zwangsernährung, aber auch medizinethische Debatten zu den Grenzen des individuellen Selbstbestimmungsrechts über den menschlichen Körper. Gerade der Tod des RAF-Mitglieds Holger Meins am 11. November 1974, der nach knapp 17 Tagen Hungerstreik als Erster aus der Gruppe künstlich ernährt wurde und nach 54 Tagen an den Folgen des Hungerstreiks starb, verschärfte die Auseinandersetzungen. Der 33-jährige Meins hatte nach acht Wochen Hungerstreik bei einer Größe von 1,83 Meter nur noch 40 Kilogramm gewogen. Zu Recht konstatiert Stoff, dass die Praxis der Zwangsernährung weder den Hungerstreikenden noch den Ärzten zuzumuten gewesen sei. Dies sei zu Beginn der 1980er-Jahre eine konsensuelle Überzeugung gewesen. Bereits einige Jahre zuvor gab es Ansätze, die Zwangsernährungspraxis zu reformieren, mit der Intention, die Verantwortung stärker auf den einzelnen Patienten zu verlagern. „Durch eine Stärkung der ‚Selbstverantwortlichkeit‘ dieser Inhaftierten sollte neben der ‚freie[n] Willensentscheidung‘ auch gleichermaßen das gespannte ‚Arzt-Patient-Verhältnis‘ in den Haftanstalten entlastet werden“.2 In diesem Kontext gewann die novellierte Fassung des Paragrafen 101 Strafvollzugsgesetz, die am 24. Januar 1985 verabschiedet wurde, eine zentrale Bedeutung. Jetzt wurde geregelt, „dass jene Hungerstreikenden, die ihr Bewusstsein und damit ihren freien Willen verloren haben, intensivmedizinisch behandelt werden müssen“ (S. 14) – oder wie Jan-Hendrik Schulz schreibt: „Ein Gefangener musste sich fortan im Klaren sein, dass er sich in einem Hungerstreik nicht länger auf die Fürsorge des Staates ‚in Gestalt der Vollzugsbediensteten und der Vollzugsärzte‘ verlassen konnte, sondern selbst für die ‚unkalkulierbare[n] Risiken‘ und die Folgen der Nahrungsverweigerung verantwortlich war. Die Anstaltsleitung war lediglich ‚zum Handeln berechtigt‘, wenn der/die ‚PatientIn‘ ins Koma fallen sollte.“3 Aber die besagte „Komamethode“ wurde nicht nur bei Knut Folkerts in der Medizinischen Hochschule Hannover angewendet, sondern ebenfalls bei dem RAF-Häftling Günter Sonnenberg im Katharinenhospital Stuttgart.

Die vorliegende Studie, die Medizin-, Rechts- und Politikgeschichte verbinden soll, ist in 30 Kapitel bzw. Abschnitte gegliedert (plus „Conclusio“ am Ende). Angesichts der Komplexität des Themas wären eine stärkere Gewichtung der Konfliktfelder und eine Fokussierung auf wichtige Phasen respektive Zäsuren, überhaupt eine stärkere Verknüpfung von Rechts- und Politikgeschichte hilfreich gewesen. Während die Kapitel 1 bis 7 sich auf die Geschichte der RAF konzentrieren, angefangen vom Konzept „Stadtguerilla“ und „Eskalationen des Trennungsstrichs“ bis zur „Zwangsernährung: Fürsorgliche Gewalt“, geht es in den Teilen 10 bis 17 etwa um „Die Grenzen der Willensfreiheit“, um den „neunte[n] kollektive[n] Hungerstreik“, um die „[p]olizeiliche Mobilisierung“ und um die „Last Minute Rescue“ (im Titel als Zitat verwendet). Auch die weiteren Kapitel setzen sich äußerst detailliert – manchmal zu ausführlich – mit etlichen Aspekten des Untersuchungsgegenstandes auseinander.

Aufschlussreich sind vor allem das 18. Kapitel („Im Koma: ‚Last Minute Rescue‘“) und das 25. Kapitel („Ausnahmezustand an der MHH“). Schon einen Tag vor Folkerts' Einlieferung ins Krankenhaus hätten Ärzte der Medizinischen Hochschule Hannover mit seinem Tod gerechnet. Am 29. Januar 1985 wurde im Arztbericht dokumentiert, dass Folkerts „röchelnd“ und „moribund“ vorgefunden wurde. Der zuständige Oberarzt Sybrecht erinnerte sich bei einem Interview Ende 2017: „Der Gefangene sei nicht mehr bei Sinnen, sei ihm gesagt worden, und dann sei er dahin gekommen und habe ihn sich angeguckt. […] Es war eine sehr riskante Situation, die nur gut ging, weil er früh genug da gewesen sei, sonst wäre Folkerts gestorben.“ (S. 214) Die Medizinische Hochschule Hannover sah sich während der intensivmedizinischen Behandlung Folkerts' vom 29. Januar bis zum 7. Februar 1985 in einem Ausnahmezustand. Das angespannte gesellschaftliche Klima spiegelte sich nicht zuletzt in Hunderten von Polizei- und Grenzschutzbeamten, im Einsatz einer Hundeführerstaffel, in der Präsenz von Wasserwerfern sowie in kurzfristigen Festnahmen wider. Es gab Autokontrollen und vor dem Hauptzugang der Station hätten sich – so Stoff – Bundesgrenzschützer hinter Wäschewagen verschanzt. Mehrere Printmedien hatten anonyme Drohschriften erhalten (beispielsweise: „29.1.1985 warnung! sollte auch nur ein kaempfer der r.a.f. durch die staatliche moerderhand der b.r.d. umkommen, so kann fuer nichts garantiert werden – dann wird zurueckgeschlagen!“, S. 282), wobei nach Auffassung von Stoff deren Duktus jedoch recht untypisch für die linksradikale Szene gewesen sei. Bei der Telefonzentrale der MHH gingen Drohanrufe ein („In einer Stunde knallt’s“), und in Celle gab es am 30. Januar 1985 eine Demonstration mit etwa 500 Teilnehmer/innen, „tatsächlich auch ein Höhepunkt der Mobilisierung, über den in den Medien ausführlich berichtet wurde, vor allem, weil sie mit der Einlieferung Folkerts' an die MHH einherging“ (S. 284).

In seinem Fazit unterstreicht Heiko Stoff, dass der „Komamethode“ eine „wichtige Rolle“ zugekommen sei, da sie „für das Dilemma der Gefangenen einen Ausweg lieferte, bei dem sie selbst nicht aktiv sein mussten“: „Nicht nur das Justizministerium nutzte den behandelnden Arzt, um die politische Situation zu lösen, sondern dieser hob auch für die hungerstreikenden Gefangenen die ausweglos erscheinende Situation zwischen Kriegszustand und Weiterleben auf, indem er die Verantwortung für das Leben eines Patienten übernahm, der dies als Militanter eigentlich ablehnte.“ (S. 355) Aber es bleibt offen, ob die direkte Konfrontation zwischen Staat und RAF – hier in der körperlichen Gewaltpraxis der Zwangsernährung – tatsächlich durch eine von ärztlichen Experten durchgeführte intensivmedizinische Behandlung ersetzt wurde. Ungeachtet dessen ist Stoffs Buch mehr als eine interessante Lokalstudie über einen Intensivmediziner und einen Hungerstreikenden oder über einen Ausnahmezustand an der Medizinischen Hochschule Hannover im Januar und Februar 1985.

Anmerkungen:
1 Hier ist vor allem die Dissertation von Jan-Hendrik Schulz zu nennen: Unbeugsam hinter Gittern. Die Hungerstreiks der RAF nach dem Deutschen Herbst, Frankfurt am Main 2019; rezensiert von Caroline Peters, in: H-Soz-Kult, 31.01.2020, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-25448 (10.02.2021).
2 Vgl. ebd., S. 295.
3 Ebd., S. 296.