Ohne Zweifel zählt Hans-Ulrich Wehler zu den bedeutendsten Historikern der letzten Jahrzehnte in der Bundesrepublik, die den Aufstieg der Sozialgeschichte entscheidend gefördert und mitgestaltet haben. Sein neuestes Buch geht auf einen Vortrag zurück, den er am 15. November 1999 am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen gehalten hat. Der Vortragstext wurde in Teilen erweitert, blieb in seinem Vortragsstil jedoch weitgehend erhalten.
Einerseits kann das Buch als Bilanzierung geschichtswissenschaftlicher Strömungen in den USA und Westeuropa gelesen werden, andererseits aber handelt es sich unzweifelhaft auch um einen Versuch der Selbstpositionierung innerhalb der derzeitig dominanten historischen Denkschulen, allen voran der neueren Kulturgeschichte. Das in acht Kapitel unterteilte Werk lässt sich entsprechend zwei großen Blöcken zuordnen: In den ersten vier Kapiteln gibt Wehler aus seiner Sicht einen Überblick über zentrale Denkrichtungen, Methoden und Theorien der Geschichtswissenschaft seit 1945 in den USA, England, Frankreich und Westdeutschland (die DDR wird nur sehr knapp gestreift). Im zweiten Teil widmet er sich mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen einerseits der Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch postmoderne Ansätze, andererseits diskutiert er die Vor- und Nachteile der "neuen Kulturgeschichte".
Hans-Ulrich Wehler ist für seine wortgewaltigen, oftmals sehr zugespitzten Urteile bekannt und gefürchtet. Auch in diesem Buch wird er diesem Ruf gerecht. So stellt er beispielsweise gleich auf den ersten Seiten bei den Vertretern der Diplomatiegeschichte in den USA eine "bestrickende Naivität" fest, mit der S. Bemis und Th. Baily am nationalistischen Paradigma festgehalten hätten (S. 12); die Psychohistorie verdammt er immer noch - wie schon vor dreißig Jahren - als einen "Aufbruch in einen Irrgarten" (S. 14), von dem eigentlich nichts mehr übrig geblieben sei, und auch über den "hochgemuten Exklusivitätsanspruch" so unterschiedlicher Richtungen wie der "Cliometriker", der "New Social History" sowie der "New Political History" sei "die Zeit erbarmungslos hinweggegangen." (S. 19) Den Maßstab zur Bewertung dieser unterschiedlichen amerikanischen historischen Schulen gewinnt Wehler aus zwei Perspektiven: Einerseits fragt er, inwieweit die skizzierten Denkrichtungen sozialgeschichtliche oder auch mentalitätsgeschichtliche Ansätze wie etwa die Annales befördert oder behindert haben; andererseits interessieren ihn die Ursachen für das "[E]inbrechen" des "linguistic turn" sowie der neuen Kulturgeschichte in das "Gehege der amerikanischen Geschichtswissenschaft". (S. 20).
Dass es sich bei dem vorliegenden Buch - das der Leserin in weiten Teilen wie eine Abrechnung mit vielen, sehr unterschiedlichen und oftmals doch nicht ganz so toten Strömungen erscheint - um eine Art von "Revierverteidigung" handelt (die Wehlersche Metapher vom "Gehege" legt diese Deutung nur allzu nahe), wird deutlich, wenn man die über das ganze Buch verstreuten polemischen Passagen liest, in denen Wehler einen seiner Lieblingsgegner beschreibt. Es handelt sich um den "radikal antinormativistische[n], von jeder Kenntnis der Hermeneutik unbeleckte[n] Repräsentant[en] der postmodernen Denkverwilderung" (S. 21) - Michel Foucault. Obgleich Wehler selbst seine Darstellung Foucaults, dem er sogar "scharlataneske Züge" (S. 21) zuschreibt, als harsches Pauschalurteil tituliert und in Bezug auf die Anregungen, die Foucault für die Geschlechtergeschichte in positiver Weise gebracht habe, differenziert, ist das Gesamturteil - das auf eine Begründung großzügig verzichtet - über diesen hochanregenden Denker durchweg vernichtend.
In ähnlicher Weise wird mit Vertretern der "cultural studies" verfahren. Dekonstruktivistische Studien, die sich mit der Konstruktion von gesellschaftlichen Differenzen beschäftigen, werden in Bausch und Bogen verdammt; der Terminus "Differenz" wird von Wehler kurzerhand zum "Zauberwort der Kulturalisten" oder gar zum "neuen Schibboleth" von "Schwarmgeistern" (S. 23) deklariert, und prominente Vertreter des "Postcolonialism" wie Homo Bhaba werden als "irrlichternde Geister" (S. 23) gebrandmarkt. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass es sich bei diesem Buch im Wesentlichen um einen Vortragstext mit den üblichen zugespitzten Formulierungen handelt, sind diese Pauschalverurteilungen doch nur schwer zu ertragen.
Die Darstellung der Historikergenerationen in England (S. 29-32) ist insgesamt ausgewogener und wohlwollender. Wehler schildert die belebende Wirkung einer unorthodoxen marxistischen Geschichtsschreibung, deren herausragende Köpfe wie E.P. Thompson, E. Hobsbawm, Chr. Hill u.a. weit über England hinaus Beachtung gefunden hätten. Durchaus anerkennend skizziert er den Einfluss neomarxistischer Historiker wie R. Evans, G. Eley und D. Blackbourn auf die lange Zeit auf Eliten konzentrierte Sicht der deutschen Moderne durch westdeutsche Historiker; die Leistungen der englischen Sozialgeschichte, wie etwa in den Arbeiten von C. Cannadines und P. Joyces sichtbar, werden ebenfalls positiv hervorgehoben.
Für die Situation der Geschichtswissenschaft in Frankreich (S. 35-39) nach dem Zweiten Weltkrieg hält Wehler das "Duell" (S. 35) zwischen der Schule der Annales und der eher traditionalistischen Politikgeschichte für entscheidend. Die Schule der Annales in ihren zwei unterschiedlichen Ausrichtungen - einerseits ein auf quantifizierenden Methoden beruhender sozioökonomischer und andererseits ein stärker mentalitätshistorischer, mit den Soziologen E. Durkheim und M. Halbwachs verbundener Ansatz - zeichnet sich nach Wehler bis heute durch eine einseitige Schwerpunktsetzung auf die Zeit vor der Französischen Revolution aus, und es ist sicherlich zutreffend, dass der Aufstieg der Kulturgeschichte in Frankreich methodischen und inhaltlichen Mängeln der Annalesschule mitgeschuldet ist. Dennoch ist der von Wehler aus vorgenannten Gründen verschwiegene Einfluss Michel Foucaults auf die jüngere Historikergeneration, und sei es nur in kritischer Auseinandersetzung mit ihm, nicht zu übersehen. Zu recht weist Wehler abschließend auf das lange Schweigen der französischen Historiker über die Frage der Kollaboration mit den Nationalsozialisten hin, das schließlich durch beharrliches Insistieren nichtfranzösischer Historiker gebrochen werden konnte.
Aus naheliegenden Gründen widmet sich Wehler der Situation in Deutschland ausführlicher (S. 43-60). Er beginnt mit der Darlegung der geschichtswissenschaftlichen Situation der Nachkriegszeit, die von Traditionalismus, einem "maßvoll geläuterten Historismus" (S. 44) sowie (in der Gestalt G. Ritters) von einem "unaufgeklärten Neorankeanismus" (S. 45) gekennzeichnet gewesen sei. Ausführlich stellt Wehler die Verstrickung von prominenten Historikern wie etwa H. Heimpel, P.E. Schramm und R. Wittram, aber auch O. Brunner und H. Aubin in den Nationalsozialismus dar; er benennt die Netzwerke der "Volkshistoriker", die es so manchem belasteten Geschichtswissenschaftler ermöglichten, nach 1945 einen Lehrstuhl zu ergattern. (S. 48) Ebenfalls angerissen wird die gerade erst begonnene Diskussion über die schwierige Frage, inwieweit von der durch das nationalsozialistische Engagement belasteten Forschung auch entscheidende Impulse für die bundesrepublikanische Geschichtswissenschaft ausgingen - vergleichbar etwa den Anregungen des Marxismus für die Arbeitergeschichtsschreibung. Sind die Ergebnisse der Volksgeschichte haltbar? Fragen, die in den nächsten Jahren weiterhin intensiv diskutiert werden müssen und die Wehler zu recht offen lässt.
In knappen Zügen beschreibt Wehler den mühsamen Weg der deutschen Geschichtswissenschaft zur Erforschung des Nationalsozialismus: Von Einzelstudien wie Brachers Werk über die Auflösung der Weimarer Republik abgesehen, verdankt die akademische Geschichtswissenschaft dem außeruniversitären Institut für Zeitgeschichte sowie dem Institut für Politische Wissenschaft in Berlin entscheidende Anregungen für eine breite Erforschung der Ursachen des Nationalsozialismus. Vor allem aber hätten die großen Justizprozesse (Auschwitz-, Majdanekprozess) sowie öffentlich ausgetragene Historikerkontroversen (Wehrmachtsausstellung) zur Aufklärung über die nationalsozialistische Vergangenheit beigetragen.
Schließlich schildert Wehler den Aufstieg der Sozialgeschichte seit den 1960er Jahren, die Anregungen der Nachbardisziplinen Politikwissenschaft, Ökonomie und Soziologie in fruchtbarer Weise aufnahm, deren Konzentration auf Strukturen und Prozesse jedoch nur - wie Wehler (selbst-)kritisch bemerkt - "um den Preis einer klaren Abwertung der individuellen Akteure" (S. 54) erreicht werden konnte.
Im zweiten Teil seines Buches (S. 61ff.) widmet sich Hans-Ulrich Wehler ausführlich den von ihm wiederum als "Duell" (S. 61) verstandenen Unterschieden zwischen Sozial- und Kulturgeschichte. Er sieht die Sozialgeschichte aus zweierlei Gründen unter den "Druck einer Zangenbewegung" (S. 63) geraten: Einerseits habe die Sozialgeschichte die Wahrnehmungs- und Sinndeutungsweisen der Individuen vernachlässigt, andererseits habe das "geistige Großklima" sich verändert und durch einen "Skeptizismus im Stil des Aufklärungshassers Foucault" (S. 63) die tragende Säule des sozialgeschichtlichen Ansatzes - "den Glauben an das überlegene Projekt der westlichen Modernisierung" - verabschiedet. Auch wenn Wehler Versäumnisse der Sozialgeschichte eingesteht, widmet er sich doch in zwei Kapiteln zunächst allgemein den "Defizite[n] der >neuen Kulturgeschichte<" (S. 69ff.), ehe er eigens das aus seiner Sicht entscheidende Problem der Kulturgeschichte, ihre vermeintliche "apolitische Abstinenz" (sic! S. 79), genauer angeht.
Wehlers Kritik an der neuen Kulturgeschichte lässt sich in zwei Punkten zusammenfassen: Zum einen wirft er deren Vertretern und Vertreterinnen einen "naiven Entdeckungseifer" (S. 71) vor, da zentrale kulturgeschichtliche Erkenntnisse bereits seit 100 Jahren bekannt und von der neokantianischen Erkenntnistheorie ausführlich diskutiert worden seien - frei nach dem Motto Hermann Heimpels: "Belesenheit schützt vor Neuentdeckungen" (S. 65). Diese eingeforderte Belesenheit stünde Wehler selbst jedoch ebenso gut zu Gesicht, denn beispielsweise Ute Daniel diskutiert in ihrem jüngst erschienenen "Kompendium Kulturgeschichte" nicht nur ausführlich die "Klassiker" der Kulturgeschichte wie etwa Ernst Cassirer, sondern sie weist auch explizit auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen "alter" und "neuer" Kulturgeschichte hin! Aber auch in der einschlägigen Einführung in die Kulturwissenschaft von Hartmut Böhme u.a. finden sich entsprechende Kapitel. Zum anderen wiederholt Wehler mit immer neuer Verve den Vorwurf, die neue Kulturgeschichte zeichne sich durch eine "apolitische Grundhaltung" (S. 81) aus, sie verdränge gesellschaftliche und ökonomische Phänomene und vernachlässige die Politikgeschichte (S. 72ff.). Der Grund für eine derartige Haltung, die sich schließlich auch in einer unpolitischen Geschlechtergeschichte niedergeschlagen habe (S. 84), liege in der die jüngeren Historiker und Historikerinnen prägenden generationsspezifischen Erfahrung einer "Normalität von Politik" (S. 81). Nun mag es sicherlich zutreffend sein, dass die neue Kulturgeschichte eine besondere Herangehensweise an geschichtliche Phänomene hat. Ihr jedoch fehlendes politisches Engagement zu unterstellen, ist gerade mit Verweis auf den "Pariser Heiligen" (S. 77) Foucault und seine Untersuchungen subtiler Machtprozesse schlichtweg absurd. Dass Foucault das Schwergewicht seiner Forschungen auf die Schattenseiten der Moderne legt, zeugt doch sehr deutlich von einer politischen Blickweise, die allerdings ohne den anbefohlenen "Thesaurus des Weberschen Werks" (S. 96) auskommt.
Schließlich muss die Sicht Wehlers, wonach Kulturgeschichte wie Sozialgeschichte nur weitere "Bindestrich-Geschichten" darstellen, keineswegs geteilt werden. Vielmehr verspricht ein kulturgeschichtlicher Blick auf Politik und Ökonomie, auf Menschen und Institutionen, auf Kunst, Wissen und sonstige Phänomene der geschichtlichen Welt eine erweiterte Perspektive, die den Wahrnehmungsweisen, Deutungsmustern und Sinnstiftungsformen verstärkte Aufmerksamkeit zukommen zu lässt.
Sieht man von der z.T. dem Vortragsstil geschuldeten polemischen Sprache und den pauschalen Verurteilungen historischer Denkströmungen ab, ist dieses Buch Hans-Ulrich Wehlers dennoch zu empfehlen: Es bietet einerseits einen knappen Überblick über westliches geschichtswissenschaftliches Denken und dessen Protagonisten (es werden übrigens keine Historikerinnen genannt). Gewünscht hätte man sich allerdings einen ausführlichen Anmerkungsapparat, in dem die herangezogenen Werke noch einmal eigens aufgeführt worden wären. Auch die Streitkapitel gegen die Kulturgeschichte sind durchaus lesenswert - bieten sie doch einen guten Ausgangspunkt für eine fruchtbare Auseinandersetzung über die Vor- und Nachteile kulturgeschichtlichen und/oder sozialgeschichtlichen Denkens.
Anmerkung:
Hartmut Böhme/Peter Matussek/Lothar Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek 2000.
Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt/Main 2001.