Vier geschichtspolitische Felder machen, so der Hamburger Politikwissenschaftler Peter Reichel, die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Bundesrepublik aus. Die „Vergangenheitspolitik“ (Norbert Frei) der 1950er und 1960er-Jahre, also Entnazifizierung, Reintegration der Täter durch die Straffreiheitsgesetze und das 131er-Gesetz, die Wiedergutmachung sowie der Versuch, die Täter zu ermitteln und zu bestrafen, bilden Reichel zufolge das geschichtspolitische Feld, das des politisch-rechtlichen und politisch-kulturellen Handelns. Diesen mittlerweile relativ gut erforschten Bereich hat er in seiner 2001 erschienenen Studie über die „Vergangenheitsbewältigung in Deutschland“ dargestellt.1 Die konfliktbeladenen Anfänge der Konzentrationslager-Gedenkstätten und ihre Gestaltung, die Diskussionen um Gedenktage und beispielsweise die Debatte über das zentrale Holocaust-Mahnmal in Berlin – Themen, die Reichel unter der Überschrift der öffentlichen Erinnerung an die NS-Zeit zusammenfasst – sind in den letzten Jahren immer stärker in den Fokus der Forschung gerückt.2 Auch die Zeitgeschichtsforschung über den Nationalsozialismus ist mehr und mehr zum Gegenstand der Analyse geworden, unter anderem durch die Untersuchung von Nicolas Berg.3 Einer genaueren, vor allem auch interdisziplinären Erforschung bedarf nun der Umgang der ästhetischen Kultur mit der NS-Diktatur, und diesem Feld widmet sich Reichel in seinem jüngsten Buch über die „Erfundene Erinnerung“.
Im ersten Teil untersucht Reichel das Kriegs- und Soldatenbild in Film und Theater besonders der 1940er und 1950er-Jahre. Er geht der Frage nach, wie der Mythos von der „sauberen Wehrmacht“ entstanden ist, der sich so hartnäckig bis weit in die Nachkriegszeit gehalten hat. Im zweiten Teil des Buches stehen die auf der Leinwand und Bühne vorgestellten Deutungen von Auschwitz im Mittelpunkt. Anders als in Reichels Darstellung der „Vergangenheitsbewältigung in Deutschland“ reicht die Analyse der filmischen und theatralischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bis in die Gegenwart und berücksichtigt auch Beispiele aus der DDR, wobei die vergangenheitspolitischen Hintergründe für die DDR allerdings äußerst blass bleiben. Besonderes Gewicht legt Reichel auf die Untersuchung von Filmen, was angesichts seines Auswahlkriteriums nicht weiter überraschend ist: Werke, die für ihre Zeit als mehr oder weniger repräsentativ angesehen werden können, d.h. die einen deutlichen Nachhall in der politischen Öffentlichkeit gefunden und zum Teil leidenschaftliche Debatten ausgelöst haben, sollen den Schwerpunkt bilden. Wer eine so umfassende Darstellung anstrebt, muss aus der Masse des Materials streng auswählen und setzt sich damit dem Risiko der Kritik aus, wichtige Werke vernachlässigt zu haben. Reichel ist es aber sehr überzeugend gelungen, einen Kanon der zentralen Werke zusammenzustellen. Allenfalls die Nichtbeachtung der Verfilmung und des Bühnenstücks zum Tagebuch von Anne Frank ließe sich bemängeln (sie werden auf S. 145, 250, 323 lediglich kurz gestreift), doch tut diese Lücke der Darstellung und Argumentation keinen Abbruch.
Die Selbstwahrnehmung der deutschen Trümmergesellschaft als Opfer, die Reichel bereits in seinem Buch zur „Vergangenheitsbewältigung“ konstatiert hatte, fand schon früh ihre dramatische Umsetzung, Bestätigung und Verstärkung in Wolfgang Borcherts Heimkehrer-Drama „Draußen vor der Tür“, dem man nahezu eine konstituierende Funktion für die „Opfergemeinschaft“ der Deutschen beimessen kann. Untermauern kann Reichel seine Befunde durch die Analyse der zeitgenössischen Kritik und vor allem durch Hörerbriefe. Allerdings zeigt sich hier das bekannte Phänomen, dass die Rezeptionsforschung auf massive Probleme stößt, denn Zuschauerzahlen, Auflagen und Kritiken sagen relativ wenig über das Rezeptionsverhalten und die Motive der Kino- und Theaterbesucher aus.
Die Selbstwahrnehmung als Opfer und das Bild von der tragischen „Verstrickung“ in den Nationalsozialismus dominierten bis weit in die 1950er-Jahre hinein Leinwand und Bühne. Diese Deutungsmuster prägten auch das Bild, das von der Wehrmacht gezeichnet wurde, nicht nur durch die Vergangenheitspolitik der Generäle in eigener Sache, sondern auch und vor allem im Film der 1950er-Jahre. Angefangen vom literarischen Denkmal, das Zuckmayer dem Kriegsflieger Udet mit seinem Stück „Des Teufels General“ setzte, über die filmische Verklärung des Abwehrchefs Canaris zum tragischen Helden bis hin zu den Kassenschlagern „Der Arzt von Stalingrad“ und „08/15“ erschienen Wehrmacht und Krieg als ideologiefreier Raum der Kameradschaft und des tapferen und ritterlichen Kampfes.
Die 1960er-Jahre bedeuteten eine Zäsur für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, da die Ermordung der europäischen Juden nun stärker in den Blick geriet. Die juristische Verfolgung der NS-Verbrechen wurde seit der Gründung der Zentralen Stelle in Ludwigsburg systematisiert und – wenn auch zögerlich – vorangetrieben, der Eichmann-Prozess in Jerusalem und der Frankfurter Auschwitz-Prozess sorgten für eine Wende im öffentlichen Bewusstsein, und die Verjährungsdebatten 1965 und 1969 zeigten auch auf politischer Ebene eine – in engen Grenzen – erhöhte Sensibilität. Untrennbar damit verbunden sind die beiden herausragenden Theaterereignisse der 1960er-Jahre: die hitzige Debatte um Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“ und die flächendeckende Premiere der „Ermittlung“ von Peter Weiss. Allerdings ging es im „Stellvertreter“ wenig bis gar nicht um die Darstellung des Holocaust, sondern vielmehr um die Anklage des Vatikans. Nach einer merkwürdigen, noch kaum untersuchten Stille in den 1970er-Jahren brachte die US-Serie „Holocaust“ 1979 eine entscheidende Wende – sie stand quasi am Anfang einer bis heute andauernden Fülle von Filmen und Veröffentlichungen zum Thema. Im Theater aber herrschte weitgehend Schweigen – zumindest in den Stücken deutscher Autoren.
Dass Reichel die Darstellung der (vergangenheits-)politischen Entwicklung vor allem der Bundesrepublik mit der Untersuchung der Filme und Theaterstücke verzahnt, ist sehr fruchtbar und so bisher noch nicht geleistet worden. Auf diesem Wege wird die wechselseitige Beeinflussung der geschichtspolitischen Felder erst richtig offenbar. Zusammen mit seinen beiden vorangegangenen Büchern hat Reichel einen überzeugenden Überblick zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus vor allem in der Bundesrepublik geliefert.
Anmerkungen:
1 Reichel, Peter, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001 (siehe dazu die Rezension von Matthias Haß: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-3-143>). Grundlegend für die 1950er-Jahre: Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996. Zu den 1960er-Jahren zuletzt: Miquel, Marc von, Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen 2004.
2 Vgl. etwa Young, James E. (Hg.), Mahnmale des Holocaust. Motive, Rituale und Stätten des Gedenkens, München 1994; Ders., Formen des Erinnerns. Gedenkstätten des Holocaust, Wien 1997; Ders., Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur, Hamburg 2002; Reichel, Peter, Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, München 1995 (siehe dazu die Rezension von Stefan Gunther: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/REZENSIO/buecher/gust1098.htm>); Kirsch, Jan-Holger, „Wir haben aus der Geschichte gelernt“. Der 8. Mai als politischer Gedenktag in Deutschland, Köln 1999; Ders., Nationaler Mythos oder historische Trauer? Der Streit um ein zentrales „Holocaust-Mahnmal“ für die Berliner Republik, Köln 2003.
3 Berg, Nicolas, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003. Siehe dazu das Forum: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?id=412&pn=texteexte>.