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Titel
Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949-1970


Autor(en)
Günther, Frieder
Reihe
Ordnungssysteme - Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 15
Erschienen
München 2004: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Carl Schmitt selbst betrachtete sich nach 1945 als „Sündenbock“ und „Outlaw“. Die „Schmittianer“ stellten diesem Selbstbild die Legende von seiner großen internationalen Wirkung zur Seite. Der Nachweis sollte erbracht werden, dass der Diagnostiker und „Aufhalter“ überall auf der Welt, nur nicht im eigenen Lande zählt.1 Jürgen Habermas baute Schmitt dagegen verstärkt als den gefährlichsten Vater des bundesdeutschen Neokonservatismus und Nationalismus auf. Auf der Grundlage des Nachlasses wurden die tatsächlichen Beziehungen und Rezeptionen dann 1993 erstmals von Dirk van Laak2 erschlossen. Van Laak zeichnete ein Bild intellektueller Gegendiskurse um Schmitt mit breiter Ausstrahlung in diverse Geisteswissenschaften. Jan-Werner Müller3 verdeutlichte dieses Bild unlängst in internationaler Perspektive und pflegte dabei erneut die Legende von der großen und geheimen pandämonischen Wirkung. Gerade ist das Erscheinen von Schmitts Briefwechsel mit Ernst Forsthoff angekündigt, da erscheint eine lupenreine historische Studie, die den Kern der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Schmitts nach 1945 auf der Basis der Archive wie der zeitgenössischen Debatten und Werke auslotet. Es ist eine Doppelbiografie. Günther schreibt die Geschichte der Schmitt-Schule und der rivalisierenden Smend-Schule bis 1970. Damit bietet er ein gutes Stück Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts im Focus des wichtigsten Schulgegensatzes. Er zeichnet die Diskursdynamik vor, die Michael Stolleis in einem kommenden vierten Band seiner „Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland“ hoffentlich bald breiter ausmalen wird. Sie ist Teil einer Geschichte des „Staatsverständnisses“ der frühen Bundesrepublik und damit von hohem historischem Interesse.

Die Studie gliedert sich in sechs Teile. Nach der (I.) Einleitung folgt (II.) ein Vorspann über „Staatsrechtslehre und Staat vor 1945“, woran ein erster Hauptteil (III.) über den „Wiederaufbau der Staatsrechtslehre bis Ende der fünfziger Jahre“ anschließt. Im zweiten quantitativen Hauptteil konstatiert Günther dann (IV.) einen „Umbruch in der ersten Hälfte der sechziger Jahre“, woran (V.) ein kürzerer Abspann über „Eine gewandelte Wissenschaft“ sowie (VI.) ein knapper abschließender „Ausblick: Staatsrechtslehre ohne Staat“ anschließen. Die Gliederung folgt also einer geläufigen zeitgeschichtlichen Periodisierung.

Günther thematisiert die „Schulen“ einleitend als „Denkstile“, charakterisiert sie durch den Gegensatz von „Dezision“ (Schmitt) und „Harmonisierung“ oder „Integration“ (Smend) und spannt diese Unterscheidungen noch in Fragen nach „Verwestlichung“ oder „Westernisierung“ ein, wobei er auch Worte wie „Westernisierungsprozeß“ oder „Westernisierungsblickwinkel“ (S. 14) nicht scheut. Im zweiten Kapitel geht er von der etatistischen Tradition hegelschen Staatsdenkens aus, zeichnet die „Denkansätze“ von Schmitt und Smend im Weimarer „Richtungsstreit“ näher und skizziert dann die „Staatskrise“ des Präsidialsystems als den entscheidenden „Erfahrungshintergrund“, der die „etatistischen“ Staatsrechtslehrer 1933 zu Hitler führte und bald wieder von ihm entfernte. „Nur eine Minderheit rang auf Dauer um die Meinungsführerschaft bei der Gestaltung der nationalsozialistischen Herrschaft“ (S. 51), meint Günther. Selbst die Werke von Forsthoff und Huber sieht er in der etatistischen Linie des „Denkens von der Verwaltung her“, das „die totalitäre Herrschaft auf unterer Ebene zu zügeln und den staatlichen Apparat im Sinne von Verbindlichkeit und Regelhaftigkeit funktionsfähig zu halten“ (S. 54) suchte. Günther findet den traditionalen Etatismus der Staatsrechtslehre vor 1945 also durchaus bestärkt.

Das Kapitel über den „Wiederaufbau“ geht dann einleitend von den US-amerikanischen Impulsen aus und gibt eine genaue Bestandsaufnahme der personellen Kontinuitäten. Die Zunft benötigte „Sündenböcke“ und zog einen klaren „Trennstrich“ gegenüber stark belasteten Kollegen. Während die Ausgrenzung von Schmitt, Höhn und anderen relativ unstrittig war, gab es Kontroversen insbesondere um Koellreutter und Huber. Eindrücklich schildert Günther aus den nachgelassenen Korrespondenzen den „Druck zu harmonistischen Umgangsformen“ (S. 72) bei der Behandlung solcher Fragen. Deutlich zeigt er, wie die Schmitt-Schule, insbesondere Forsthoff und Werner Weber, sich anfangs privatim als „aktive Feinde des Grundgesetzes“ (Forsthoff) verstanden und mit ihren Publikationen strategisch agierten. Einigte man sich in der Zunft zunächst auf die vieldeutige Konsensformel des „Rechtsstaats“, entstand mit dem Bundesverfassungsgericht bald ein neuer Boden, zu dem man in ein Verhältnis treten musste. Deutlich schieden sich hier die Wege der Schmitt- und der Smend-Schule.

Nach dieser ersten Skizzierung der neuen Aufgaben und Fronten erörtert Günther die „Formierung der Denkkollektive“, der beiden Schulen, eingehend. Zurecht stellt er dabei den großen Unterschied heraus, dass die Schmitt-Schule sich nur über die persönliche Bindung an Schmitt formierte, während Smend sein Seminar, hohes Ansehen und Einfluss und damit auch akademische Protektion bieten konnte. Wohl erstmals ist der strategische Zusammenhalt der „Schmittianer“ und die Radikalität ihrer freund-feindlichen Wahrnehmung der Zunft und der Bundesrepublik aus den Korrespondenzen eindeutig belegt. Günther weist nach, dass es eine Schmitt-Schule gab, die strategisch agierte. Ich bedauere nur, dass er nicht ausführlicher aus den Briefen zitiert. Im Detail finden sich zahlreiche bisher unbekannte und wichtige Hinweise. Ein kleiner Einwand ist es auch, dass Günther Schmitts Denken prägnant vereinfacht. So überschätzt er, durch seinen wissenssoziologischen Ansatz verleitet, die Bedeutung von Schmitts „Verfassungslehre“ für die Schule wohl etwas (S. 122f.). Näher betrachtet hat Schmitt selbst schon seine Kategorien historisiert, und die Schule folgte ihm hier. Innerhalb der Schule macht Günther die zentrale Rolle von Roman Schnur (S. 149ff.) und den Sonderweg Hubers (S. 140ff.) erstmals aus den Quellen plastisch, während die Schlüsselrolle Forsthoffs länger bekannt war. Auch die volle Zugehörigkeit von Böckenförde wird deutlicher. Im Haupttext und Fußnotenapparat leuchtet Günther die aus. Bei der Smend-Schule betont er die „Umdeutung der Integrationslehre“ (vgl. S. 166ff.) schon bei Smend selbst: „An die Stelle eines Denkens vom Staat her trat gewissermaßen ein Denken von der Verfassung her.“ (S. 166) Er konzentriert sich dann auf die juristische Rezeption, rechnet Ulrich Scheuner (S. 175ff.) zur Schule und behandelt vor allem Konrad Hesse und Horst Ehmke als Schlüsselfiguren. Kundig schildert Günther die diversen Kontroversen des Schulstreits. Dabei stellt er besonders den Streit um die Auslegung des Grundgesetzes als objektive „Wertordnung“ als ein zentrales Thema heraus, das den „Rückgriff auf Weimar“ mit „ersten Unsicherheiten“ (S. 191ff.) über die Tragfähigkeit der leitenden Theorien oder „Denkstile“ erkaufte. Der Streit um das Verhältnis von „Rechtsstaat“ und „Sozialstaat“ schloss daran an.

Etwas knapper behandelt Günther den „Umbruch in der ersten Hälfte der sechziger Jahre“. Ermöglicht wurde er der jüngeren Generation nicht nur durch die Begegnung mit angelsächsischen Traditionen, sondern auch durch die Rezeption anderer Autoren des „Richtungsstreites“ (Kaufmann, Kelsen, Heller). Der Schulgegensatz zeigte sich auch in der Gegengründung der Zeitschrift „Der Staat“, die „das Monopol des ‚Archivs des öffentlichen Rechts’“ (S. 226), des Organs der Smend-Schule, brechen wollte. Weitere Kontroversen gab es beispielsweise um die Festschriften für Schmitt. Der wichtigste theoretische Streitpunkt betraf aber die „Normativität“. Die Schmitt-Schule sah sich als Anwalt der Trennung von Politik und Recht, Staat und Gesellschaft, gegenüber der Politisierung des Rechts durch die „fließende Geltungsfortbildung“ der Integrationslehre. Der Streit wurde nach 1968 insbesondere auch um die Verfassungstheorie Peter Häberles geführt. Während jüngere Schmitt-Schüler wie Schnur und Quaritsch sich im Verwaltungsrecht neuen Tendenzen öffneten, geriet der staatstheoretische Etatismus von Forsthoff und Weber allmählich ins Abseits. Der traditionale Staatsbegriff schien überholt.

Nur epilogisch behandelt Günther die Auflösung des Schulzusammenhangs und der Meinungsführerschaft beider Schulen nach 1968 in der allgemeinen Resignation über die Entwicklung der Universitäten. Im Ausblick nennt er noch den wichtigen Gesichtspunkt, dass der Niedergang des staatstheoretischen Diskurses nicht zuletzt dem Verlust an Überblick über „übergreifende Fragestellungen“ (S. 323) in der Ausdifferenzierung des Faches resultierte.

Günthers Buch ist reich im Detail und klar in der Erfassung der Akteure und Kontroversen. Der Schulstreit steht nun als historisches Faktum da. Weiteren Diskussionsbedarf sehe ich vor allem in der grundsätzlichen Einschätzung der Bedeutung staatstheoretischer Fragen und der theoretischen Entscheidung des Streites. Günther stellt sich auf die Seite der Smend-Schule. Er argumentiert für die Verabschiedung des Etatismus und für eine „Verwestlichung“ des Denkstils. Der faktische Niedergang der staats- und verfassungstheoretischen Diskussion, wenn es ihn gibt, ist aber kein Argument. Wie Günther ausführt, geht der Streit nicht zuletzt auf die perspektivische Differenz von Politik und Recht zurück. Vielleicht wäre eine theoretische Einigung möglich. Die gegenwärtigen Entwicklungen des Verhältnisses von „Staat“ und „Gesellschaft“, die „Liberalisierung“ überlieferter Strukturen bei Abbau von Kultur- und Sozialstaatlichkeit und Implosion staatlicher Gerechtigkeit, sollten Anlass geben, die theoretischen Fragen erneut aufzunehmen.

Anmerkungen:
1 Dazu noch vgl. Quaritsch, Helmut (Hg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988.
2 Laak, Dirk van, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993.
3 Müller, Jan-Werner, A Dangerous Mind. Carl Schmitt in Post-War European Thought, New Haven 2003.

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