Titel
Harvest of the Despair. Life and Death in the Ukraine under Nazi Rule


Autor(en)
Berkhoff, Karel
Erschienen
Cambridge / London 2004: Harvard University Press
Anzahl Seiten
463 S.
Preis
$ 29.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernhard Chiari, Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam

Karel C. Berkhoff, mittlerweile Associate Professor am Center for Holocaust and Genocide Studies in Amsterdam, gilt seit Jahren als einer der besten Kenner der internationalen Forschung zur Ukraine während des Zweiten Weltkriegs.1 Mit Harvest of Despair liegt nun seine Studie zum Reichskommissariat Ukraine vor, die auf absehbare Zeit Standards zur Geschichte der Region zwischen 1941 und 1944 setzen dürfte. Berkhoff ist zu einem unprätentiös geschriebenen und gut lesbaren Buch zu gratulieren, das durch seine Quellendichte und –vielfalt besticht.2 Auf rund 300 Seiten und auf der Basis einer Fülle u.a. ukrainischer und deutscher Archivalien erzählt Berkhoff die Geschichte der deutschen Besatzung - vornehmlich aus der Sicht der Opfer.

Während die Genese deutscher Okkupationspolitik, der deutsche Herrschaftsapparat sowie die Planungen für die Entrechtung und schließlich planmäßige Ermordung der ukrainischen Juden eher kursorisch behandelt werden, wird das erschreckende Gesicht des Krieges anhand verschiedener Opfergruppen sichtbar: Neben Juden sowie Sinti und Roma behandelt Berkhoff auch die sowjetischen Kriegsgefangenen; das Alltagsleben unter deutscher Herrschaft wird für die Landbevölkerung und die Stadtbewohner gezeigt. Ein eigenes Kapitel ist der Stadt Kiew gewidmet, wo die Einwohnerzahl infolge der sowjetischen Evakuierungen und durch Abwanderung, Verhaftungen und Hunger von 890.000 im Januar 1941 auf schätzungsweise 220.000 Menschen im Dezember 1943 gesunken war. Berkhoff betrachtet intensiv die popular culture während des Krieges sowie Fragen der ethnischen Identität und politischer Loyalitäten.3 Weitere Kapitel haben die Auswirkungen von Religion und Volksfrömmigkeit bzw. von Verschleppung und Zwangsmigration zum Inhalt. Dies führt schließlich zu einem Überblick über jene Zerstörungen, die der deutsche Rückzug für die Region mit sich brachte.

Berkhoff behandelt Phänomene, die sich weitgehend der Quantifizierung entziehen. Die Diskussion von Einzelbeispielen ermöglicht jedoch authentische Einblicke in das Kriegsgeschehen, die in ihrer Gesamtheit ein umfassendes Bild der komplizierten Besatzungsrealität vermitteln. Diese wird als Interaktion zwischen Herrschern und Beherrschten geschildert, wobei die Darstellung meist den Bogen zu den Voraussetzungen für die deutsche Okkupation schlägt, die sich aus der sowjetischen Herrschaftspraxis vor 1939/41 bzw. aus den politischen Spannungsfeldern ergeben, die Ost- und Ostmitteleuropa in der Zwischenkriegszeit dominiert hatten. Harvest of Despair ist die Geschichte von Zwang, Terror und Zerstörung, vor allem aber auch die Geschichte enttäuschter Hoffnungen, die sich zunächst in den bereits vor 1939 sowjetischen Gebieten des Reichskommissariats sowie in den bis dato polnischen Teilen wie Wolhynien mit dem deutschen Einmarsch verbanden.

Berkhoff zeigt außer der schrittweisen Ernüchterung und Verbitterung der Bevölkerung auch die Anknüpfungspunkte, welche die Besatzungsmacht bei ihrer Suche nach einheimischen Helfern nutzen konnte. Neben der Aussicht auf die Privatisierung des Bodens waren dies der Aufstieg in Polizei und Hilfsverwaltung, Versprechen bezüglich der nationalen Selbständigkeit sowie in der ersten Kriegsphase auch die Erwartung des sowjetischen Zusammenbruchs und vor allem die nackte Angst um das materielle Überleben der Familien. Das düstere Fazit Berkhoffs zeigt zu Kriegsende eine weitgehend zerstörte Region, in der die deutsche Herrschaft, der Kampf gegen sowjetische und ukrainische Widerstandsgruppen und auch der Vernichtungsfeldzug der ukrainischen Aufständischenarmee (UPA) gegen die polnische Heimatarmee und ethnische Säuberungen ganzer Landstriche in Wolhynien und Ostgalizien kaum einen Stein des sozialen Gefüges auf dem anderen ließen. Dieser Befund ist nicht neu, doch ist er bislang in dieser Detailgenauigkeit noch nicht beschrieben worden.

Auch einige relativierende Anmerkungen seien zu diesem überzeugenden Buch erlaubt. Berkhoff hat sich in seiner Darstellung unter Ausklammerung der Gebiete unter Militärverwaltung sehr stark auf die ukrainische Seite beschränkt, während die zahlenmäßig bedeutende polnische Bevölkerungsgruppe vor allem im Westen - abgesehen von den bereits angesprochenen ethnischen Säuberungen der UPA und der von polnischer Seite heute meist als reine Gegenwehr dargestellten Übergriffe gegen ukrainische Zivilisten - nur am Rande vorkommt.4 Der Autor kann die These belegen, dass politische Interessen und nationale Ambitionen angesichts sowjetischer Vorprägungen und der von elementaren Alltagssorgen dominierten Besatzungsrealität für die Landbevölkerung, aber auch für die Stadtbewohner des Reichskommissariats eher eine untergeordnete Rolle spielten. Dennoch hätte der vergleichende Blick auf das Generalgouvernement, wo die ukrainische Minderheit vor 1941 eine ganz erhebliche Aktivität entfaltete und sich in Auseinandersetzung mit den Besatzungsbehörden (und in Abgrenzung gegenüber Polen und Juden) substanzielle Freiräume für eine nationale ukrainische Interessenvertretung schuf, die Brisanz interethnischer Macht- und Verteilungskämpfe unter den Bedingungen der Fremdherrschaft zeigen können.5

Selbst in Kiew, von den deutschen Besatzern an den Rand der Vernichtung gebracht, versuchten unterschiedliche ukrainische Fraktionen, ihre Leute mit allen Mitteln auf Schlüsselpositionen in der einheimischen Verwaltung zu bringen und dort „Politik“ zu machen. Gerade die Rolle der Fraktionen der OUN, die 1941 vom Generalgouvernement aus so genannte Marschgruppen in den Osten entsandten, die im Kielwasser der Wehrmacht die von den Sowjets „befreiten“ Gebiete für die ukrainische nationale Sache sichern sollten, bleibt in der Darstellung undeutlich. Auch hier scheint mir die dynamisierende Wirkung, welche nationalistische Gruppierungen überall in der besetzten UdSSR auf die Eskalation der Gewalt ausübten, bislang nicht abschließend geklärt zu sein.6 Dies trifft ebenso auf das Aufeinandertreffen von „sowjetischen“ und „polnischen“ Ukrainern nach 1941 zu, das möglicherweise spannungsreicher verlief und mehr von einem clash of cultures gekennzeichnet war als im Buch geschildert.

Schließlich lässt sich für Harvest of Despair eine Feststellung treffen, wie sie für fast alle Beispiele einer „Geschichte von unten“ gilt: Nach den Paradigmen der Sozialgeschichte liefert auch die vorliegende Studie nur eine unvollkommene Analyse gesellschaftlicher Strukturen zu Kriegsbeginn und ihres Wandels, im ukrainischen Fall trägt hierzu alleine schon die Geheimhaltungsneurose sowjetischer Vorkriegsstatistik entscheidend bei. Dies setzt der Gültigkeit der These Berkhoffs, in der Ukraine sei es – trotz der anschaulich beschriebenen Zerstörungen letztlich in allen Bereichen - zu keiner gesellschaftlichen „Atomisierung“ gekommen, Grenzen.

Unbeschadet davon: Als Lehrstück über den Krieg im Osten ergänzt das nun vorliegende Standardwerk die oft reichlich theoretischen Diskussionen über das Wesen der nationalsozialistischen Herrschaft und des rassenideologischen Vernichtungskrieges in der Sowjetunion, die Berkhoff eher zwischen den Zeilen abhandelt, um ein eindringliches Fallbeispiel.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa den erschöpfenden Forschungsüberblick Berkhoff, Karel C., Ukraine under Nazi Rule (1941-1944): Sources and Finding Aids, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 45 (1997), S. 85-103, 273-309.
2 Eine Anmerkung zur Benutzbarkeit: Dieser wäre eine Bibliografie zugute gekommen. So bleibt dem Leser nur der Weg durch mehr als 100 Seiten Anmerkungen. Das Bundesarchiv-Militärarchiv befindet sich nicht in Koblenz, sondern in Freiburg.
3 Zu letzterem Aspekt nicht mehr berücksichtigt ist: Kappeler, Andreas; Kohut, Zenon E.; Sysyn, Frank E.; von Hagen, Mark (Hgg.), Culture, Nation and Identity. The Ukrainian-Russian Encounter, 1600-1945, Edmonton 2003.
4 Nach Drucklegung des besprochenen Bandes erschien: Motyka, Grzegorz, Der polnisch-ukrainische Gegensatz in Wolhynien und Ostgalizien, in: Chiari, Bernhard (Hg.), Die polnische Heimatarmee. Geschichte und Mythos der Armia Krajowa seit dem Zweiten Weltkrieg, München 2003, S. 531-547.
5 Vgl. etwa The Correspondence of the Ukrainian Central Committe in Cracow and Lviv with the German Authorities 1939-1944, hrsg. vom Canadian Institute of Ukrainian Studies University, Edmonton 2000.
6 Vgl. Golczewski, Frank, Die Kollaboration in der Ukraine, in: Dieckmann, Christoph; Quinkert, Babette; Tönsmeyer, Tatjana (Hgg.), Kooperation und Verbrechen. Formen der „Kollaboration“ im östlichen Europa 1939-1945 (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 19), Göttingen 2003, S. 151-182.

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