Unser westeuropäisches Verständnis von Krieg ist nachhaltig durch die Weltkriege geprägt. Andere Kriegsformen werden entweder als „neue Kriege“ verstanden oder als Vorstufen einer Entwicklung, die seit dem 18. Jahrhundert vom Kabinettskrieg über den Volkskrieg zum „totalen Krieg“ führte. Letzteres gilt auch für den deutsch-französischen Krieg, dessen historischer Stellenwert seit gut zehn Jahren in der Forschung lebhaft diskutiert wird. Inwieweit ging dieser Feldzug den Kriegen des 20. Jahrhunderts voraus? Befand er sich auf dem Weg zum „totalen Krieg“? 1
Diese Diskussion nimmt die Dissertation Alexander Seyferths zu ihrem Ausgangspunkt. Ziel der Arbeit ist, die deutsche „Heimatfront“ im 1870er Krieg zu untersuchen. Gefragt wird, wie diese entstand, wie geschlossen sie war und was sie zusammenhielt. Dass der Begriff „Heimatfront“ – den Zeitgenossen 1870/71 noch unbekannt 2 – der Studie als Titel dient, formuliert bereits eine ihrer Hauptthesen. Denn die Herausbildung einer „Heimatfront“ ist Merkmal einer intensivierten Kriegführung, die ohne eine breite Unterstützung der Bevölkerung in der Heimat nicht auskommt. Die Formierung der „Heimatfront“, die Seyferth für den Einigungskrieg konstatiert, versteht er als Schritt hin zum „totalen Krieg“, bei dem in der gängigen Definition das gesamte wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben der Krieg führenden Nationen auf diesen ausgerichtet wird.
Die Studie ist in zwei Hauptteile gegliedert, von denen der erste die Reaktionen der deutschen Bevölkerung auf den Krieg analysiert und vor allem die Bruchlinien der „Heimatfront“ aufdeckt. Seyferth legt hier dar, dass der Waffengang nicht in einmütiger Begeisterung begrüßt wurde, sondern dass von Beginn an die Sorge um die Angehörigen im Felde die Stimmung drückte. Insbesondere als sich der Krieg nach der Kapitulation Napoleons III. unerwartet monatelang hinzog, machte sich – wie bei den Truppen 3 – auch in der Heimat Friedenssehnsucht breit. Friedenshoffnungen und die Sorge um Angehörige sind allerdings nicht, wie Seyferth dies tut (z.B. S. 54), mit einer grundsätzlichen Ablehnung des Krieges gleichzusetzen – leider, denn andernfalls wären viele Kriege vielleicht früher beendet worden.
Tatsächlich hingegen lässt sich Kriegskritik an den regionalen, dynastischen, ethnischen, konfessionellen und politischen Konfliktlinien festmachen, die – wie andere Studien bestätigen 4 – das neu gegründete Reich durchzogen: Seyferths Interesse gilt hier insbesondere den Widerständen, die der preußisch dominierten Reichseinigung und dem Einigungskrieg von Partikularisten, (süddeutschen) Katholiken, Sozialdemokraten und von den polnischen und dänischen Minderheiten entgegengebracht wurden.
Als weitere Belastung der „Heimatfront“ betrachtet Seyferth schließlich die bisher kaum erforschten wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges auf die Heimat: Arbeitskräftemangel in einigen Wirtschaftsbereichen, Arbeitslosigkeit in anderen, Transportstockungen und Preissteigerungen erschwerten das Leben und führten etliche Arbeiter, Bauern oder Handwerker in die Existenznot.
Der zweite Hauptteil widmet sich den staatlichen Bemühungen um Einflussnahme auf die Heimatfront. Zunächst untersucht Seyferth hier die Kontrolle des staatlichen Verwaltungsapparats und legt den Konformitätsdruck offen, den die Regierungen während des Krieges auf die Staatsangestellten ausübten. Analysiert werden überdies die massiven staatlichen Bemühungen um eine Meinungslenkung durch Zensur einerseits, gezielte Förderung regierungsfreundlicher Presseorgane andererseits. Wenngleich die Spielräume für eine freie Presseberichterstattung wohl größer waren als es in der Studie erscheint – immerhin gab es trotz aller Repressionsmaßnahmen Zeitungen, wie die „Frankfurter Zeitung“ oder den württembergischen „Beobachter“, die durchaus kriegskritisch berichteten – zeigen Seyferths Ausführungen, dass die Forschung der Pressezensur bislang zu wenig Beachtung geschenkt hat.
Die staatlichen Stimmungslenkungsversuche, zu denen die verbreitete Friedenssehnsucht und die inneren Konflikte Anstoß gaben, sind für Seyferth Vorläufer der massiven staatlichen Propaganda des „totalen Krieges“. Ähnlich argumentiert er abschließend für die Wirtschaftslenkung: Aufgrund der kriegsnotwendigen staatlichen Wirtschaftspolitik habe der deutsch-französische Krieg „viel weniger gemein mit dem ,Bruderkampf‘ von 1866 als mit dem Ersten Weltkrieg“ (S. 264).
Diese These bleibt indes anfechtbar: Einzuwenden ist zunächst, dass die Konzentration auf die „Heimatfront“ nur eines der Definitionsmerkmale des „totalen Krieges“ ist, andere Definitionskriterien, vor allem Kriegsziele und -methoden, jedoch unberücksichtigt lässt. Dass Kriegsziele und Kriegführung im deutsch-französischen Krieg auf eine Totalisierung hinweisen, ist allerdings – anders als von Seyferth suggeriert (S. 11ff.) – in der Forschung keineswegs Konsens. 5 Dagegen sprechen u.a. all jene Einhegungsmaßnahmen, mit denen die Zeitgenossen versuchten, das Kriegsgeschehen zu humanisieren. Zu nennen ist hier insbesondere das Kriegsrecht: Der 1870er Feldzug war der zweite Krieg, in dem die Genfer Konvention Geltung hatte. Wenngleich beide Kriegsgegner sich wiederholt deren Nichteinhaltung vorhielten, wurde die Konvention doch hochgeschätzt und im Großen und Ganzen beachtet.
Ein Humanisierungsbemühen ließ sich aber nicht allein auf dem Kriegsschauplatz beobachten, dazu gehörte ebenso, dass – wie Seyferth selbst feststellt – in der Heimat eine gute Behandlung der Kriegsgefangenen angestrebt wurde. Und zwar nicht nur staatlicherseits: Die deutsche Bevölkerung brachte den französischen Gefangenen vielfach Mitleid entgegen, beschenkte sie mit Tabak und Schokolade und bescherte sie zu Weihnachten. Die nationale Feindschaft verbot dies nicht.
Das führt zu einem weiteren Punkt: Sprechen nicht die unvollständige Nationalisierung, die brüchige Einigkeit und die bei vielen fehlende oder schwache Kriegsbereitschaft ebenfalls gegen die These, dass der Einigungskrieg die Weltkriege vorbereitete? Dass Seyferth die Propaganda- und Repressionsmaßnahmen, welche Einheit und Kriegsbereitschaft festigen sollten, als Anzeichen einer gesteigerten Bedeutung staatlicher Kontrolle und damit als Charakteristika eines auf dem Weg zur Totalisierung weit vorangeschrittenen Krieges deutet, erscheint etwas auf die These hin zurechtgebogen.
Ob der 1870er Krieg den Weltkriegen ähnlicher war als dem 1866er Krieg, ist schließlich auch angesichts des Ausmaßes der staatlichen Wirtschafts- und Meinungslenkungsversuche zweifelhaft. Seyferth räumt zwar ein, dass der deutsch-französische Feldzug hierin weit hinter die Weltkriege zurückfällt, deutet aber in kontrafaktischer Spekulation an, dass dieser Rückstand bei längerer Dauer des Einigungskrieges möglicherweise aufgeholt worden wäre (S. 570). Ebenso lässt sich aber doch argumentieren, dass sich die Unterschiede bei kürzerer Kriegsdauer vergrößert hätten. Dass die Kriegshandlungen 1871 nach einem halben Jahr beendet werden konnten, ist eben auch ein Kennzeichen des gehegten Staatenkrieges.
Diese Einwände sollen das Verdienst der Arbeit Seyferths nicht in Abrede stellen. Man muss seiner Argumentation nicht in allen Punkten folgen und mag über einige unsauber formulierte Sätze und gelegentliche Redundanzen stolpern. Überdies sind die Ergebnisse der Studie wohl nicht gar so revolutionär wie auf dem Klappentext versprochen – schließlich wird der Krieg hier nicht erstmals als Vorbote der Weltkriege gedeutet. Allemal jedoch liefert das Buch mit zahlreichen Ergebnissen einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des Reichseinigungskrieges, indem es neue Fragen stellt und – insbesondere mit den Stimmungsberichten der Regierungspräsidien – bislang vernachlässigte Quellen erschließt.
Anmerkungen
1 Siehe insbesondere Förster, Stig; Nagler, Jörg (Hgg.), On the Road to Total War. The American Civil War and the German Wars of Unification, 1861-1871, Washington/Cambridge 1996.
2 Zweifel, ob der Begriff dem 1870er Krieg angemessen ist, äußert Wencke Meteling in ihrer derzeit am Tübinger SFB „Kriegserfahrungen“ entstehenden Dissertation.
3 Siehe hierzu Kühlich, Frank, Die deutschen Soldaten im Krieg von 1870/71. Eine Darstellung der Situation und der Erfahrungen der deutschen Soldaten im Deutsch-Französischen Krieg, Frankfurt/Main 1995; Rohkrämer, Thomas, Der Militarismus der „kleinen Leute“. Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, München 1990.
4 Siehe hierzu z.B. Buschmann, Nikolaus, Einkreisung und Waffenbruderschaft. Die öffentliche Deutung von Krieg und Nation in Deutschland (1850-1871), Göttingen 2003; Rak, Christian, Krieg, Nation und Konfession. Die Erfahrung des deutsch-französischen Krieges von 1870/71, Paderborn 2004; sowie die am Tübinger SFB „Kriegserfahrungen“ entstehende Dissertation von Ingrid Mayershofer.
5 Einwände z.B. jüngst bei: Buschmann, Nikolaus; Langewiesche, Dieter, „Dem Vertilgungskriege Grenzen setzen“: Kriegstypen des 19. Jahrhunderts und der deutsch-französischer Krieg 1870/71. Gehegter Krieg – Volks- und Nationalkrieg – Revolutionskrieg – Dschihad, in: Beyrau, Dietrich u.a. (Hgg.), Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 163-196.