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Titel
Recht oder Politik?. Die Kelsen-Schmitt-Kontroverse zur Verfassungsgerichtsbarkeit und die heutige Lage


Autor(en)
Grimm, Dieter
Erschienen
Anzahl Seiten
51 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Techet, Institut für Staatswissenschaften und Rechtsphilosophie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

„Der scheinbar schon erledigte Streit zwischen Schmitt und Kelsen steht wieder auf der Tagesordnung“ (S. 49) – so endet der kurze Essay von Dieter Grimm, der eben diesen berühmten Streit der Weimarer Staatsrechtslehre aus der Gegenwartsperspektive neu erzählt und verortet. Das Büchlein ist die verschriftlichte Version eines Vortrags, den der ehemalige Bundesverfassungsrichter und Berliner Juraprofessor im Rahmen der Carl-Schmitt-Vorlesungen in Berlin hielt. Trotz des Namengebers der Vorlesungsreihe scheint Grimm eher Partei für Kelsen zu ergreifen, der in der Auseinandersetzung mit Carl Schmitt die institutionalisierte Verfassungsgerichtsbarkeit in Schutz nahm und ihre Notwendigkeit für einen Verfassungsstaat bzw. eine pluralistische Demokratie betonte. Grimms Essay ist zweigeteilt: Im ersten Teil lässt er die Debatte zwischen Kelsen und Schmitt Revue passieren; im zweiten Teil untersucht er die damaligen Positionen aus heutiger Sicht.

Als Kelsen die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht nur theoretisch begründete, sondern als „Architekt“ der vor 100 Jahren entstandenen österreichischen Verfassung dafür sorgte, dass eine solche Institution errichtet wurde, gehörte er keinesfalls zur „herrschenden Meinung“. Ein Verfassungsgerichtshof wurde nach dem Ersten Weltkrieg nur in zwei habsburgischen Nachfolgestaaten, Österreich und der Tschechoslowakei, eingeführt. Weil der tschechoslowakische Verfassungsgerichtshof über viel weniger Kompetenzen verfügte und seine politische Relevanz dementsprechend geringer war, ist es nicht übertrieben, den österreichischen Verfassungsgerichtshof (VfGH) als das Ursprungsmodell zu bezeichnen, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg dann in vielen Ländern verbreitete. Kelsen war nicht nur Ideengeber, sondern wurde selber 1920 zum Verfassungsrichter ernannt. Insofern war es für ihn aus mehreren Gründen wichtig, diese neue Institution gegen Kritik zu verteidigen.

Ein großer Kritiker der Verfassungsgerichtsbarkeit war Carl Schmitt. Obwohl sowohl Kelsen als auch Schmitt die Verflechtung zwischen Recht und Politik nicht infrage stellten, wollte Schmitt die Judikative insofern „unpolitisch“ belassen, als er die politische Macht dem Recht voranstellte. Schmitt meinte, dass die Judikative eine vollkommen unpolitische, die Gesetze mechanisch anwendende Tätigkeit sei – diese Meinung widersprach übrigens auch seinem früheren Buch über „Gesetz und Urteil“ aus dem Jahre 1912. Daher warf er Kelsen vor, die Judikative politisch zu überlasten. Für Kelsen galt dieses Argument nicht, weil er in seiner sog. Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung die klassische – von Schmitt überraschenderweise übernommene – Trennung zwischen Rechtssetzung und Rechtsanwendung aufhob (S. 15ff.). Dass ein gerichtliches Urteil – nicht nur an einem Verfassungsgerichtshof – immer in gewisser Hinsicht rechtsschöpferisch sei, folgt aus der Kelsenschen Rechtslehre.

Schmitt zweifelte die juristische Möglichkeit einer Verfassungsgerichtsbarkeit schlechthin an, „um dadurch einen anderen, geeigneteren Hüter der Verfassung ins Spiel zu bringen“ (S. 23). Seine Aversion war also nicht rechtstheoretisch begründet, sondern galt der spezifischen Institution eines Verfassungsgerichtes (S. 22): Er traute lieber einem konservativen Reichspräsidenten als einer neuen (womöglich, wie es in Österreich der Fall war, eher progressiven) Institution die Aufgabe des Verfassungsschutzes zu.

Die Schmitt-Kelsen-Kontroverse lässt sich auch rückblickend nicht entscheiden, weil ihr unterschiedliche Rechts- und Politikkonzepte zugrunde lagen. Wie Grimm treffend zusammenfasst: „Die Kontroverse der beiden Antipoden lag darin begründet, dass Schmitt politische Entscheidungen nicht der Justiz überlassen, Kelsen die Befolgung der Verfassung nicht ins Belieben der Politik stellen wollte. Wem man folgt, hängt davon ab, wie Verfassungsrechtsprechung einzuordnen ist, beim Recht oder bei der Politik.“ (S. 29)

Heutzutage stellt sich die Frage vor allem bezüglich der Demokratietauglichkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit (S. 35ff.). Grimm beschreibt das Problem so: „Verfassungsgerichte sind anti-majoritäre Institutionen.“ (S. 36) Grob gefragt: Ist es legitim, nicht demokratisch gewählten Verfassungsrichter/innen das letzte Wort in puncto Verfassungsauslegung zu überlassen? Ist es nicht undemokratisch, die Volks- und/oder Parlamentssouveränität – und vor allem: die demokratisch gebildete Mehrheit – durch eine solche „aristokratische“ Institution zu begrenzen? Kelsens Rechts- und Demokratielehre verneint freilich beide Fragen. Demokratie ist bei ihm nicht die Souveränität der Mehrheit (eines Volkes etwa), sondern ein System, in dem die jeweilige Minderheit einerseits jederzeit zu Mehrheit werden kann, andererseits auch als Minderheit in ihren Rechten geschützt ist. Grimm gibt aber selber zu: „Wenn man sich nicht Kelsens Reine Rechtslehre zu eigen macht, lässt sich schwer leugnen, dass zwischen Demokratie und Verfassungsgerichtsbarkeit ein Spannungsverhältnis besteht.“ (S. 35)

Grimm will daher diese Kontroverse über Recht und Politik bzw. Demokratie und Verfassungsgerichtsbarkeit nicht auflösen, sondern umgehen: Er geht nicht der Frage nach, ob die Verfassungsgerichtsbarkeit politisch und demokratietheoretisch problematisch ist (sie ist es; S. 40f.), sondern untersucht die politischen Bezüge der Verfassungsgerichtsbarkeit nach Gegenstand, Wirkung und Methode (S. 40ff.). Sowohl der Gegenstand als auch die Wirkung der Verfassungsgerichtsbarkeit sind klar politisch. Was aber nicht bedeuten muss, dass die Verfassungsrichter/innen selber politisch agieren. Grimm sieht einen „Arenenwechsel“ (S. 43), wenn Fälle vor ein Verfassungsgericht gelangen: Politik sei dort nicht mehr Subjekt, sondern Objekt (S. 43). Die spezifisch juristische Denkweise (Methode, Dogmatik usw.), so Grimm, zwinge „zu einer reflektierten statt intuitiven Lösung von Rechtsproblemen“ (S. 44) – und in diesem Sinne sei die Verfassungsgerichtsbarkeit doch nicht mehr politisch.

Dass diese Antwort für diejenigen, die die Verfassungsgerichtsbarkeit aus theoretischen (etwa Ran Hirschl, Market Tushnet oder Jeremy Waldron) oder – was heutzutage viel öfter vorkommt – aus machtpolitischen (siehe Ungarn und Polen) Gründen kritisieren, nicht überzeugend wirkt, ist auch Grimm bewusst. Daher wieder der letzte Satz: „Der scheinbar schon erledigte Streit zwischen Schmitt und Kelsen steht wieder auf der Tagesordnung.“ (S. 49) Aber wenn man die damaligen Konsequenzen bedenkt – Kelsen verlor letztendlich seine Position als Verfassungsrichter infolge einer „Entpolitisierung“ des VfGH in Österreich –, ist ein Rückblick auf die Weimarer Debatte auch eine Warnung an die heutige Zeit. Indem Grimm mit seinem Essay die fast hundertjährige Debatte über die Verfassungsgerichtsbarkeit bzw. über das Verhältnis zwischen Recht und Politik in Erinnerung ruft, leistet er nicht nur eine knappe und präzise Zusammenfassung des Streites. Er zeigt dabei auch, wie unentschieden diese Fragen weiterhin sind – nicht nur für die Rechtstheorie, sondern auch in der heutigen Politik.

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