Das „Erzählen vom Umbruch“ in Romanen und journalistischen Artikeln hat nach wie vor Konjunktur. Und auch die Erforschung dieser Erzählungen ist keineswegs an ein Ende gelangt, wie jüngst die am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam entstandene literaturwissenschaftliche Dissertation von Rainette Lange zeigt. Im Mittelpunkt ihrer Studie stehen Romane und Texte der sogenannten „Wendegeneration“ in Deutschland und Tschechien. Mit Literatur rückt die Autorin ein zentrales Medium im Erinnerungsdiskurs über 1989, Wende- und Nachwendezeit in den Mittelpunkt. Denn Literatur erfüllt vielfältige erinnerungskulturelle Funktionen, ermöglicht den Zugang zu vergangenen Lebenswelten, vermittelt Geschichtsbilder, ist Aushandlungsort von Erinnerungskonkurrenzen und gibt Raum für Reflexion über Prozesse und Probleme des kollektiven Gedächtnisses.
Im deutschen Erinnerungsdiskurs um die „lange Geschichte der ‚Wende’“1 spielen seit den 2000er-Jahren Autorinnen und Autoren eine wichtige Rolle, die zwischen 1970 und 1980 geboren wurden. Teilweise als Ergebnis einer Selbstbeschreibung als Generation im Zuge des Erfolgs von Jana Hensels Buch „Zonenkinder“ (2002), teilweise in Folge von Fremdzuschreibungen und Versuchen der Vereindeutigung etablierte sich zur Beschreibung der Autor/innen dieser Alterskohorte der Begriff der „Wendegeneration“. So weit, so bekannt. Interessant ist nun, dass eine solche Verbindung von Selbst- und Fremdzuschreibung keineswegs ein Selbstläufer ist, wie der Vergleich mit der tschechischen Gegenwartsliteratur zeigt. Dies ist ein erster wichtiger Befund der Dissertation von Lange, wenn sie argumentiert, dass in den Texten der jüngeren Autor/innen in Tschechien weder die „Samtene Revolution“ noch Umbruch und Transformation eine zentrale Rolle spielen. Im Gegenteil positionierten sich die Texte bemerkenswert oft in einem Außen, seien die Handlungsorte „in der Fremde“ angesiedelt, in anderen Ländern oder Epochen. Auch habe es in den tschechischen Feuilletons keine auch nur annähernd vergleichbar intensive Debatte über Wendeliteratur wie im deutschsprachigen Raum gegeben. Zur Beschreibung der zwischen 1970 und 1980 geborenen Autor/innen in Tschechien habe sich daher auch kein Äquivalent zu „Wendegeneration“, sondern der Begriff „Generation der Fliehenden“ (S. 11) etablieren können.
Die Beobachtung dieser Differenz nimmt Rainette Lange zum Anlass, sowohl die deutschsprachigen als auch die tschechischen Texte gegen den Strich zu lesen und neu zu perspektivieren. Anders als für die tschechische Gegenwartsliteratur bisher konstatiert, argumentiert sie, dass die Texte durchaus „vom Umbruch erzählen“, selbst wenn dieser nicht inhaltlich im Zentrum steht. Die Umbruchserfahrungen seien stattdessen eingebunden in umfassendere, vielfach transnationale und transgenerationale Erzählungen von Schuld, Scham und Verlust. Die Auseinandersetzung mit dem Umbruch erfolge hier quasi „über Bande“; der Blick „aus der Fremde“ ermögliche Neubewertungen der eigenen Identität und Vergangenheit.
Auf einen Blickwechsel zielt auch die Analyse der Texte der sogenannten „Wendegeneration“ in Deutschland. Ausdrücklich distanziert sich Lange dabei von der auch in der Forschung vielfach als Bezugspunkt konzipierten „Generation“ als Kategorie2 und untersucht vielmehr grundsätzlicher die erzählerische Verknüpfung von Jugend und „Wende“ in den Texten. Als Ergebnis konzipiert sie verschiedene „Körper- und Raumpoetiken“ jenseits der Generationssemantik. Diese analysiert sie ausgehend von konkreten Fallbeispielen in vier Kapiteln.
Kapitel I analysiert „Körpermetaphoriken der Kindheit“. Grundlage sind Texte sowohl deutscher als auch tschechischer Autor/innen, die sich mit der Lebenswelt im Sozialismus auseinandersetzen. Anknüpfend an das Konzept des Körpergedächtnisses3 kann Lange zeigen, wie Körper in den Texten zum zentralen Ort der Darstellung einer spezifisch kindlichen, das heißt vor allem sinnlich wahrgenommenen, Erfahrungs- und Lebenswelt im sozialistischen Alltag wird. Inwieweit die narrative und ästhetische Inszenierung des Körpers als Ort der Erfahrungswelt von Kindern eine Spezifik für die Auseinandersetzung mit dem Sozialismus ist, wäre zu diskutieren. Sicher ließen sich Romane wie Georg Kleins „Roman unserer Kindheit“ (2010), der eine kindliche Perspektive auf die Entwicklungen in der Bundesrepublik der 1960er-Jahre wirft, mit der Frage nach dem Körperlichen und nach sinnlichen Erfahrungen ebenfalls gut aufschließen.
In Kapitel II analysiert Lange zwei deutschsprachige Bücher. Ausgehend von den Konzepten der doppelten Entgrenzung sowie Victor Turners communitas rückt sie hier Clemens Meyers „Als wir träumten“ (2006) sowie Jana Simons „Denn wir sind anders“ (2002) in den Mittelpunkt. Lange diskutiert die literarische Verarbeitung von gleichzeitiger, sich wechselseitig verstärkender räumlicher und physischer Entgrenzung in einem großstädtischen Setting Anfang der 1990er-Jahre. Gewalt – in beiden Texten zentraler Bezugspunkt – interpretiert sie als eine im Spannungsfeld von Jugend und Wendezeit angesiedelte „außergewöhnliche Erfahrung einer exklusiven (Erinnerungs-)Gemeinschaft“ (S. 23). Hier wäre unter Bezug auf weitere Romane wie Manja Präkels „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ (2017), Peter Richters „89/90“ (2015) oder Daniela Kriens „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ (2011) sowie auf die Befunde der neueren Gewaltforschung zu diskutieren, ob Gewalterfahrungen in der Wende- und Nachwendezeit tatsächlich in dieser Weise „exklusiv“ waren. Ließen sie sich nicht auch als Teil einer (neuen) Normalität verstehen, in der Gewalt im Alltag eine politische Dynamisierung sowie soziale und räumliche Entgrenzung erfahren hat, die eher zu einer Allgegenwärtigkeit führte, von der unterschiedliche Teile der Gesellschaft unterschiedlich betroffen waren (als Täter, Opfer, Zeugen/Wegsehende)?
Kapitel III fokussiert entlang der Romane von Julia Schoch („Mit der Geschwindigkeit des Sommers“, 2009), Judith Zander („Dinge, die wir heute sagten“, 2010) sowie Judith Schalansky („Der Hals der Giraffe. Bildungsroman“, 2011) auf Darstellungen der Provinz, die als „Poetik der Ödnis“ gefasst werden. Dass gerade räumliche Peripherien die dichte Beschreibung von Trägheiten wie Dynamiken, von Wandel und Kontinuitäten ermöglichen, kann Lange gut plausibilisieren. Zugleich bindet sie die Texte an literarische Traditionen zurück und zeigt damit, wie diese auch mit Klischees und Stereotypen des „abgehängten Ostens“ spielen. Besonders differenziert in der Analyse und sensibel in der Beobachtung erscheint dieses Kapitel als Herzstück des Buchs. Überzeugend verfolgt Lange hier eine raum-zeitliche Perspektivierung, die auch über die untersuchten Texte hinaus als fruchtbar erscheint, um Wende- und Nachwendenarrative aufzuschließen.
In Kapitel IV rückt Lange ausschließlich tschechische Autor/innen in den Blick, deren Texte sie entlang der Darstellung von „Poetiken der Distanz“ analysiert. Im Mittelpunkt stehen hier der auch auf Deutsch erschienene Roman von Markéta Pilátová „Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein“ (2007) sowie die Bücher von Marek Janota „Všechno, co vidím“ (deutsch: „Alles, was ich sehe“ von 2009) sowie von Petra Hůlová „Strážci občanského dobra“ (deutsch: „Die Hüter des Gemeinwohls“ von 2010). Entfernung und Distanzierung verknüpft Lange dabei mit Rückkehr und Reflexion und interpretiert die Texte der „Generation der Fliehenden“ in ihrer Bezogenheit auf Herkunft. Die literarischen Formen von Distanz deutet sie als „raummetaphorischen Ausdruck der Identitätssuche in einer sich globalisierenden Gesellschaft“ (S. 24).
Die Perspektivierung auf Körper, Entgrenzung und Raum in den literarischen Texten zu Wende- und Nachwendezeit ist – gerade durch die vergleichende Perspektive – interessant und auch aus einer nicht-literaturwissenschaftlichen Perspektive analytisch anregend. Allerdings: So konzise die Kapitel in sich sind, die systematische Bezugnahme aufeinander kommt leider zu kurz. Vergleiche zwischen den literarischen Werken finden kapitelübergreifend nur stellenweise statt. Auch wird die Generationssemantik von Lange als eine Engführung markiert, die vor allem im medialen Diskurs die Funktion habe, Identifikationsbedürfnisse zu befriedigen, Aufmerksamkeit herzustellen und die eigene Sprecherposition zu legitimieren. Doch hätte es gelohnt, diesen wichtigen Gedanken über Einleitung und Zusammenfassung hinaus argumentativ auszuführen und stärker zu systematisieren. Denn gerade weil Generation im Diskurs ein wirkmächtiges Bezugs- und Legitimationsfeld darstellt, hätte eine argumentativ gesättigte Auseinandersetzung mit den Generationsbezügen in den untersuchten Romanen und Texten wichtige Befunde liefern können. So bleibt der Eindruck einer gewissen Unverbundenheit der Kapitel. Durch die Entscheidung, theoretische Weichenstellungen sowie die Klärung von Konzepten, Begriffen und Gattungsbezeichnungen innerhalb der Kapitel auszuführen, wird dieser noch verstärkt.
Trotz dieser Kritikpunkte eröffnet die Arbeit interessante Perspektiven auf die Literatur der „Wendegeneration“, indem sie den Blick national vergleichend öffnet und bekannte wie weniger bekannte Texte neu liest. Indem Lange mit Körper, Entgrenzung und Raum andere Fragen an die Texte stellt, wird Generation als Bezugspunkt relativiert und das Erzählen vom Umbruch anders gerahmt. Dies hat durchaus Potential für die Analyse auch anderer Medien und Genres der populären Geschichtskultur.
Anmerkungen:
1 Vgl. Kerstin Brückweh / Clemens Villinger / Kathrin Zöller (Hrsg.), Die lange Geschichte der „Wende“. Geschichtswissenschaft im Dialog, Berlin 2020.
2 Vgl. Susanne Bach, Wende-Generationen/Generationen-Wende. Literarische Lebenswelten vor dem Horizont der Wiedervereinigung, Heidelberg 2017.
3 Der Begriff wurde in der Literaturwissenschaft von Sigrid Weigel eingeführt. Vgl. Sigrid Weigel, Bilder des kulturellen Gedächtnisses. Beiträge zur Gegenwartsliteratur, Dülmen-Hiddingsel 1994.