J. C. Jansen u.a. (Hrsg.): Refugee Crises, 1945–2000

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Titel
Refugee Crises, 1945–2000. Political and Societal Responses in International Comparison


Herausgeber
Jansen, Jan C.; Lässig, Simone
Reihe
Publications of the German Historical Institute
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 310 S.
Preis
£ 75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Agnes Bresselau von Bressensdorf, Berliner Kolleg Kalter Krieg, Institut für Zeitgeschichte München – Berlin

Der von Jan C. Jansen und Simone Lässig herausgegebene Sammelband geht auf eine Konferenz des German Historical Institute Washington von 2017 zurück. Ausgangspunkt des interdisziplinär angelegten Bandes bildet die sogenannte „Europäische Flüchtlingskrise“ 2015, deren intensive öffentliche, politische und wissenschaftliche Debatte eine Vielzahl an Forschungsprojekten und Publikationen angestoßen hat. Zehn Fallstudien widmen sich der Frage, welche Antworten politische und gesellschaftliche Akteure in den Aufnahmestaaten des globalen Südens und Nordens fanden, um in je spezifischen historischen Konstellationen zwischen 1945 und 2000 mit einer großen Zahl an Geflüchteten umzugehen. Explizit nicht im Mittelpunkt des Buches steht die Analyse von Fluchtursachen oder die Perspektive der Geflüchteten selbst (S. 3). Dies ist einerseits bedauerlich, verhilft dem Band andererseits aber zu mehr Kohärenz. Zudem treten in einzelnen Beiträgen durchaus auch Geflüchtete als Akteure in Erscheinung, etwa mit Blick auf die Relevanz migrantischer Netzwerke.

In der exzellent geschriebenen Einleitung erläutert das Herausgeber:innenteam mit Blick auf den Titel und das Konzept des Buches überzeugend, dass bei der Auswahl der Fallbeispiele gezielt ein weiter Flüchtlingsbegriff zugrunde gelegt wurde. Anders als die Definition der Genfer Konvention von 1951, die auf politisch Verfolgte fokussiert, betrachtet der Band somit Fluchtsituationen, in denen eine große Zahl von Menschen durch Zwang und Gewalt ihre Heimat verlassen musste. Als „Krisen“ werden sogenannte „critical moments“ (S. 8) gefasst, die über eine unmittelbare, von den zeitgenössischen Akteur:innen perzipierte humanitäre Notsituation („emergency situation“), die zu unverzüglichem Handeln zwingt, hinausweisen. So fragen die Beiträge auch nach jenen Umschlagpunkten, die zu langfristig wirksamen, strukturellen Wandlungsprozessen in den Politiken der Aufnahmegesellschaften führten.

Der Band ist in zwei Großkapitel und ein knapp gehaltenes Nachwort von Leo Lucassen unterteilt. Der erste Teil, überschrieben mit „The Postwar and Decolonization Moment“, widmet sich den flüchtlingspolitischen Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges in Europa bis hin zum Ende der europäischen Kolonialreiche. So untersucht Pertti Ahonen in einem trilateralen Vergleich den Umgang mit und die Integration von Vertriebenen in Finnland, West- und Ostdeutschland nach 1945. Ein weiteres Kapitel ist dem schwierigen politischen und gesellschaftlichen Umgang mit sogenannten „repatriierten“ Pol:innen im Westen des Landes gewidmet, die aus den von der UdSSR annektierten Gebieten (zwangs-) umgesiedelt wurden (Gregor Thum). Drei andere Aufsätze weiten den Blick von Europa nach Asien und fokussieren „Flüchtlingskrisen“ im Zuge der Dekolonisierung. Eines der bekanntesten Beispiele, die Teilung British-Indiens und die bis heute anhaltenden Nachwirkungen dieser Zwangsmigrationen für die (fehlende) nationale Identität Pakistans, untersucht Ian Talbot. In ihrem Beitrag zu palästinensischen Geflüchteten in Jordanien adressiert Luisa Gandolfo ein ebenso prominentes wie weiterhin aktuelles Fallbeispiel.

Auf den ersten Blick etwas aus dem Rahmen fällt der Aufsatz von Andrea L. Smith zu den großen Migrationsbewegungen aus den ehemaligen Kolonien in die Metropolen als Folge der Dekolonisation. Hier wäre zu diskutieren, inwieweit dieser Beitrag zum Umgang staatlicher Akteure mit diesen „repatriates“ und „returnees“ (S. 127) tatsächlich mit den Zwangs- und Gewaltmigrationen der vorhergehenden Kapitel adäquat zu vergleichen ist – ein Problem, das auch von Smith selbst adressiert wird. Gleichwohl ist es ein Verdienst der Autorin, diese „invisible migrants“ (S. 124), die ebenfalls in meist von Gewalt geprägten Situationen dramatischer politischer Umwälzungen ihre Heimat verließen, sichtbar zu machen. Allerdings kann der Aufsatz angesichts der Heterogenität der Akteure und der Komplexität der weltweiten Dekolonialisierungsprozesse deutlich weniger in die Tiefe gehen als andere Beiträge. Hier wäre es vielleicht ratsam gewesen, dieser wichtigen und heterogenen Akteursgruppe ein eigenes Großkapitel mit mehreren Fallbeispielen zuzugestehen, um Ähnlichkeiten und Unterschiede differenziert herausarbeiten zu können.

Das zweite Großkapitel nimmt „Flüchtlingskrisen“ während des Kalten Krieges bis Mitte der 1990er-Jahre in den Blick. Drei Aufsätze fokussieren Fallbeispiele, in denen der Ost-West-Gegensatz eine zentrale Rolle spielte: Christopher Adam untersucht die Flucht hunderttausender in den Westen nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes 1956. Interessant ist dabei der Blick auf Kanada, das seine bis dahin restriktive Asylpolitik lockerte und heute als eines der liberalsten Aufnahmeländer gilt. In seinem Text zu den „Vietnamese Boat People“ Ende der 1970er-Jahre analysiert Quan Tue Tran einen der Schlüsselmomente in der Geschichte des westlichen Humanitarismus während des Kalten Krieges. Mit seinem Fokus auf Westdeutschland und die USA als Aufnahmestaaten vermag der Beitrag der bisherigen Forschung allerdings wenig Neues hinzuzufügen. Auch Patrick Scallen adressiert in seinem Aufsatz zu salvadorianischen Geflüchteten, die in den 1980er-Jahren über Mexiko in die USA gelangten, ein bekanntes Fallbeispiel. Besonders interessant ist sein Blick auf sogenannte Opferkonkurrenzen innerhalb verschiedener Flüchtlingsgruppen und auf die Rolle der US-amerikanischen Zivilgesellschaft, die sich für die Anerkennung der Geflüchteten aus El Salvador einsetzte. Zwei weitere Beiträge widmen sich schließlich signifikanten „Flüchtlingskrisen“ der 1990er-Jahre, die in der künftigen Forschung zur Geschichte von Flucht, Humanitarismus und internationaler Politik sicher eine wichtige Rolle spielen werden: Zum einen geht es um Bosnier:innen, die im Kontext der jugoslawischen Nachfolgekriege nach Österreich und in die USA flohen (Barbara Franz), zum anderen um Menschen, die angesichts des Genozids in Ruanda nach Tansania flüchteten (Jill Rosenthal).

Aus der Fülle an Fallbeispielen und interessanten Themenfeldern möchte ich im Folgenden drei systematische Aspekte herausgreifen. Erstens gelingt es den Beiträgen des Bandes ganz überwiegend, die Interaktion staatlicher, zivilgesellschaftlicher und individueller Akteure herauszuarbeiten und differenziert zu gewichten. So unterstreichen etwa Tran und Scallen die Bedeutung (transnationaler) migrantischer Netzwerke und Selbsthilfe zwischen den vietnamesischen Boat People bzw. salvadorianischen Geflüchteten. Auch Franz hebt die Rolle informeller migrantischer Selbstorganisation jenseits staatlicher Unterstützung im Falle der bosnischen Geflüchteten hervor. Gleichzeitig wird ebenso deutlich, dass jenseits der gewachsenen Bedeutung nichtstaatlicher Hilfsorganisationen und Medien der Nationalstaat in humanitären Notsituationen wie auch in Fragen der gesellschaftlichen Integration ein entscheidender Akteur geblieben ist. Er entscheidet letztlich darüber, wem Asyl gewährt wird, wer Zugang zum Arbeitsmarkt erhält und wem staatsbürgerliche Rechte zugestanden werden. Wie facettenreich und wandelbar der rechtliche Status von Geflüchteten auch in langfristiger Perspektive sein kann, veranschaulicht besonders das Beispiel palästinensischer Geflüchteter in Jordanien.

Zweitens ist es ein Verdienst des Bandes, den Konnex zwischen „Flüchtlingskrisen“ und Staatsbildungsprozessen herauszuarbeiten. Dies gilt für die vielen Vertriebenen und Geflüchteten in Europa am Ende des Zweiten Weltkrieges, die in die Nachkriegsgesellschaften integriert werden mussten bzw. selbst ihren Teil zum wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbau beitrugen. Besonders offensichtlich ist die Verflechtung von „Flüchtlingskrise“ und Nationsbildungsprozess zudem im pakistanischen Fall: Die große Zahl von Geflüchteten (über-) forderte die Armee und Bürokratie des noch jungen Staates; dies trug zur Entstehung des bis heute virulenten ethnischen Nationalismus in Pakistan bei. Gern hätte man mehr darüber erfahren, inwieweit „Flüchtlingskrisen“ nicht nur Staats- und Nationsbildungsprozesse der Aufnahmeländer, sondern auch die der jeweiligen Herkunftsländer beeinflusst haben.

Drittens soll der Blick hier auf Fragen der Periodisierung gerichtet werden. Grundsätzlich überzeugen die chronologische Herangehensweise und die Weitung des regionalen Schwerpunktes von Europa in die Länder des Globalen Südens. Auch gelingt es in den meisten Beiträgen, weltpolitische Großprozesse wie die Dekolonisation und den Kalten Krieg in die Analyse einzubeziehen. Ruft man sich den eingangs formulierten Krisenbegriff in Erinnerung, der dezidiert auch auf strukturelle Wandlungsprozesse ausgerichtet ist, so erscheint die Anlage des zweiten Großkapitels, das die zweifelsohne gewichtigen und bekanntesten „Flüchtlingskrisen“ zwischen 1956 und 1996 umfasst, aber nur bedingt überzeugend. Denn damit wird die Chance verpasst, jenseits der „critical moments“ innerhalb der jeweiligen Einzelbeiträge Zäsuren und Umschlagpunkte für die zeithistorische Fluchtforschung als Ganzes zur Diskussion zu stellen. So bleibt offen, welche Bedeutung das Herausgeber:innenteam etwa den 1970er- und 1980er-Jahren beimisst, als die globale Gesamtzahl der Geflüchteten sprunghaft anstieg, das Thema Flucht und humanitäre Hilfe auf die Agenda internationaler Politik gelangte sowie Asylrechtsdebatten die Mitgliedstaaten und -gesellschaften der Europäischen Gemeinschaft polarisierten. Unterbelichtet bleibt auch die Frage, welche Rolle das Ende des Kalten Krieges spielte. Der abschließende Beitrag von Lucassen, der eine solche Zusammenschau hätte leisten können, bleibt hinter den Erwartungen zurück.

Dessen ungeachtet haben Jan C. Jansen und Simone Lässig einen gewichtigen Sammelband vorgelegt, der viele spannende Einblicke und analytische Anregungen bietet. Allen, die sich mit der Geschichte von Flucht seit 1945 beschäftigen, sei das Buch nachdrücklich zur Lektüre empfohlen.