T. Großbölting: Wiedervereinigungsgesellschaft

Cover
Titel
Wiedervereinigungsgesellschaft. Aufbruch und Entgrenzung in Deutschland seit 1989


Autor(en)
Großbölting, Thomas
Anzahl Seiten
565 S.
Preis
€ 4,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ilko-Sascha Kowalczuk, Berlin

In den letzten Jahren sind zahlreiche Beiträge zur deutschen Vereinigungs- und Transformationsgesellschaft geliefert worden, die die ohnehin kaum überschaubare Literatur anreicherten.1 Die Bundeszentrale für politische Bildung hat dieses Thema zu einem Schwerpunkt ihrer Aktivitäten und Publikationen erhoben.2 Leider haben es die Bücher der Bundeszentrale oftmals schwer, in akademische Debatten vorzustoßen. Das liegt auch daran, dass sie selten rezensiert werden – sie gibt es praktisch umsonst, das macht sie für Rezensent:innen offenbar wenig attraktiv. Das ist schon bedauerlich für die genannten Publikationen, die den aktuellen Forschungsstand markieren, trifft aber in einem besonderen Maße auf die Monographie des Hamburger Historikers Thomas Großbölting zu. Auch dieses Buch stellt eine Originalpublikation dar, ist also keine Übernahme von einem Verlag, und ist, wenn ich das richtig sehe, bislang von keiner überregionalen Zeitung, keinem einschlägigen Rundfunksender und auch keiner größeren Fachzeitschrift rezensiert worden. Das ist nicht nur wegen des Autors erstaunlich, der zu den produktivsten und originellsten seiner Generation zählt, sondern auch wegen des Buches: Denn die „Wiedervereinigungsgesellschaft“ ist nichts weniger als der wichtigste Beitrag eines westdeutsch sozialisierten Historikers zur deutschen Einheit überhaupt. Und nicht zuletzt mit diesem Buch kann gezeigt werden, dass nicht nur Soziolog:innen und Politolog:innen, sondern auch Historiker:innen Gewichtiges zur Transformationsgeschichte beizusteuern haben.

Großbölting will mit seiner Studie nicht den Nachwirkungen vergangener Entwicklungen nachspüren, sondern die „Vorgeschichte gegenwärtiger Problemlagen“ in den Blick nehmen (S. 33). Zugleich bekennt er sich zu einem gegenwartsbezogenen, subjektiven Standort seiner Darstellung – eine in der deutschen Historiographie nicht eben häufig zu hörende, wohltuende Verortung. Seine Geschichte der „Wiedervereinigungsgesellschaft“ beginnt mit „1989“. Hier setzt Großbölting keine neuen Akzente. Das ist auch nicht sein Ansinnen. Vielmehr stellt er verschiedene Interpretationsansätze vor und erklärt, es gebe keine monokausale Erklärung für „1989“, sondern nur das Ineinandergreifen vieler Ursachen habe das Ereignis ermöglicht. Dabei spielt er die Oppositionsbewegung herunter und erklärt, seinem langjährigen Münsteraner Kollegen Detlef Pollack folgend, die Demonstrationsbewegung zu einem eigenständigen, von der Oppositionsbewegung abgekoppelten Teil der Revolution. Das ist empirisch nicht belegbar, theoretisch nicht überzeugend – aber diese Debatte ist eine alte und wird so schnell nicht ad acta gelegt werden.3 Großbölting greift aus der Literatur einen Aspekt auf, der seit 2019 häufiger thematisiert worden ist: „Enttäuschung“ als individuelle Motivation, sich im Herbst 1989 zu engagieren. Das ist sehr überzeugend, weil damit eine Brücke zur Transformationserfahrung und Gegenwart geschlagen wird. Die Täuschungen über die eigene Gegenwart, über die Umstände des eigenen Tuns, der eigenen Möglichkeiten und der eigenen Notwendigkeiten führten in vielerlei Konstellationen zu Enttäuschungen, aus denen neue Handlungsmotivationen herrührten – 1989 ebenso wie in den Jahren seither.

Die Transformationsphase beschreibt der Autor sodann als einen Dauerschock. Mit vielen Beispielen und Zahlen belegt er, wie Wirtschaftsumbau, Arbeitslosigkeit und Abwanderungen Ostdeutschland neu konstituierten. Der Westen sei überdies, er greift Saids Orientalismus-These auf, dem Osten mit einem „Ostalismus“ begegnet. Diese Wortschöpfung ist nicht nötig, treffender wäre das eingeführte „Othering“-Theorem gewesen. So dicht und packend es ist, was der Hamburger Autor schildert und analysiert – warum er aber den großen Freiheitsgewinn in Ostdeutschland nicht ansatzweise hinreichend würdigt, erschließt sich mir nicht. Hat das etwas mit unterschiedlichen Erfahrungshorizonten zu tun? Während Großbölting Freiheit als Mangel oder als abwesend nicht kennt und er diesem deshalb womöglich keinen Raum in seiner Darstellung gibt, nicht weil er sie geringschätzt, sondern weil er sie nicht sieht, erscheint dem Rezensenten aus einer umgekehrten Lebenserfahrung heraus Freiheit als wichtiger als alles anderes. Ja, als alles andere.

Großbölting zeichnet die Debatten um die DDR-Vergangenheit und Staatssicherheit nach. Das ist sehr interessant, weil er viele verschiedene Positionen referiert und zu einem ausgewogenen Urteil kommt. Allerdings unterschlägt er dabei den wichtigsten Akteur gerade in der Anfangszeit: die Zivilgesellschaft, die Bürgerbewegung und ihre Vereine, von der die wesentlichen und wichtigsten Impulse zur „Aufarbeitung“ ausgingen. Der Autor konzentriert sich ganz auf jene Strukturen, die ihm aus dem Westen vertraut zu sein scheinen, obwohl es dort mit Geschichtswerkstätten und „Geschichte von unten“ in den 1980er-Jahren ähnlich erfolgreiche Unternehmungen gab. Großbölting steht hier ganz in der Tradition einer Geschichtsschreibung, wie sie etwa Heinrich August Winkler in seinen Büchern verkörpert: Die eigene Zunft, die Historikerschaft, wird erheblich überbewertet.

Das nächste Kapitel ist besonders interessant: Großbölting stellt diskursanalytisch die Frage nach der Nation. Die Bundesrepublik erscheint als nationslose Nation, während 1989/90 nicht zufällig die unterdrückte Nation in Ostdeutschland erwacht und einen längst überwunden geglaubten Nationalismus revitalisiert. Viele interessante Beobachtungen und Einschätzungen untermauern die These, dass die nationalistische Gegenwart in Teilen der deutschen Gesellschaft eben nicht aus einem geschichtslosen Himmel fiel. Ergänzend hätte Großbölting einen Blick nach Ostmittel-, Südost- und Osteuropa wagen sollen, als Kontrastfolie, denn auch dort sind diese Phänomene zu beobachten – noch weitaus dramatischer.

Die politische Kultur in Deutschland sieht Großbölting weiterhin als tief gespalten an. Er versucht, das historisch zu erklären mit der Teilungsgeschichte. Das gelingt ihm überzeugend. Weniger fundiert ist sein Abriss der Oppositionsgeschichte in der DDR, da übersieht er fast alles, was nötig gewesen wäre, um diese einigermaßen „rund“ darzustellen. Er bedient hier die üblichen Klischees, die letztlich eine Harmoniegeschichte einer Bewegung sein will, die selbst auf dem Prinzip der Disharmonie gegenüber ihrer Gesellschaft aufbaute und so eben alles andere als homogen war. Das negiert Großbölting. So nachvollziehbar wiederum seine Analyse ist, warum die beiden Teilgesellschaften mit konträren politischen Kulturen es so schwer haben, miteinander auszukommen, so problematisch ist es, die Partei „Die Linke“ als fest etablierten Teil des Parteienspektrums anzusehen (das Buch erschien vor der letzten Bundestagswahl im September 2021, die die „Linke“ an den Rand ihrer Existenz stellte, was sich seit dem 24. Februar 2022 rapide beschleunigte), so wenig hilfreich ist es, die AfD vor allem als ein ostdeutsches Massenphänomen zu begreifen.

Das darauffolgende Kapitel über „Migration“ und „Fremdenfeindlichkeit“ macht das deutlich. Nein, es geht nicht um „Fremdenfeindlichkeit“ oder „Ausländerfeindlichkeit“, kein weißer Südafrikaner muss Angst um sein Leben in Ostdeutschland haben, sehr wohl aber Schwarze Britinnen, Franzosen, Dänen oder Schwedinnen. Es geht um Rassismus. Thomas Großbölting zeichnet mit vielen Beispielen eindrücklich nach, was sich seit 1990 an rassistischen Verbrechen in Deutschland zutrug, wie der Neofaschismus zu einer eigenen Größe in Ostdeutschland wurde und wie der Staat bei der Bekämpfung versagte und zum Teil sogar diese Erscheinungen noch durch eine verfehlte Politik und Gesetzgebung befeuerte. Warum er das aber nicht beim richtigen Namen nennt – Rassismus –, sondern mit Nebelbegriffen wie „Ausländerfeindlichkeit“ operiert, ist nicht verständlich.

In einem Kapitel über die Wirtschafts- und Arbeitsgesellschaft, in der Großbölting auch die Zivilgesellschaft betrachtet, zeigt sich die große Stärke des Autors: nüchterne Abwägung, empirische Dichte, klare, aber nicht überzogene Thesenbildung. In diesem Abschnitt skizziert er sehr einprägsam den widersprüchlichen Umbauprozess der Wirtschaft – ein Debattenfeld, das wohl noch mehrere Forscher*innengenerationen beschäftigen wird. Künftig wird vielleicht noch stärker gefragt werden, ob beim Umbau die Herausforderungen der digitalen Revolution nicht stärker hätten antizipiert werden können, müssen. Hätte Ostdeutschland, global gesehen, womöglich „überholen ohne einzuholen“ können?

Das Buch von Thomas Großbölting ist eine intellektuell herausfordernde Problemgeschichte. Der Autor scheut keine pointierten Aussagen, er erweist sich als sehr diskussionsfreudig. Dabei bleibt er immer sachlich, immer sachbezogen, überzieht nie, eine faire Auseinandersetzung, wie sie selten geworden ist. Chapeau! Dass sein Buch zu Widerspruch herausfordert, dürfte Ziel und Anliegen von Thomas Großbölting ebenso gewesen sein wie von der Bundeszentrale für politische Bildung. Letztere hätte durchaus etwas straffend in den Text eingreifen dürfen. Auch dem spannenden Titel „Wiedervereinigungsgesellschaft“ entspricht das Buch nicht immer ganz. Der Osten kommt deutlich mehr zum Tragen als der Westen. Und die miteinander verflochtenen Geschichte werden doch meist parallel abgehandelt. Und dennoch: Thomas Großbölting hat ein besonderes Buch geschrieben, dem große Verbreitung zu wünschen ist. Die Debatte lohnt sich, weitaus mehr als mit vielen bekannten Büchern und Bestsellern zur deutschen Einheit. Die Halbwertszeit dieses Buches dürfte signifikant über derjenigen der Massenware liegen, die alljährlich auf den Gabentisch zur deutschen Einheit platziert wird. Abschließend hoffe ich, dass die Strategen, die das Zukunftszentrum „Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ planen und aufbauen4, nicht nur das Buch von Thomas Großbölting zu ihren Standardwerken zählen werden, sondern auch die außergewöhnliche Kompetenz des Hamburger Historikers bei ihren Vorhaben abrufen.

Anmerkungen:
1 Von den neueren Publikationen siehe etwa: Steffen Mau, Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Berlin 2019; Ilko-Sascha Kowalczuk, Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde, München 2019; Judith C. Enders / Raj Kollmorgen / Ilko-Sascha Kowalczuk (Hrsg.), Deutschland ist eins: vieles. Bilanz und Perspektiven von Vereinigung und Transformation. Frankfurt am Main 2021.
2 Ilko-Sascha Kowalczuk / Frank Ebert / Holger Kulick (Hrsg.), (Ost)Deutschlands Weg. 45 Studien & Essays zur Lage des Landes. Teil I – 1989 bis heute, Berlin / Bonn 2021; dies. (Hrsg.), (Ost)Deutschlands Weg. 35 weitere Studien, Prognosen & Interviews. Teil II – Gegenwart und Zukunft, Berlin / Bonn 2021; Marcus Böick / Christoph Lorke, Zwischen Aufschwung und Anpassung. Eine kleine Geschichte des „Aufbau Ost“, Bonn 2022; Detlev Brunner / Günther Heydemann, Die Einheit und die Folgen. Ein Geschichte Deutschlands seit 1990, Bonn 2021.
3 Thomas Großbölting, Wem gehört die Revolution? Die Pollack-Kowalczuk-Kontroverse von 2019 als Lehrstück von Wissenschaftskommunikation, 14.07.2020, https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/312786/wem-gehoert-die-revolution/ (28.10.2022).
4https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/jury-fuer-den-standortwettbewerb-fuer-das-zukunftszentrum-2126754 (28.10.2022). Der Vorschlag der Einheitskommission im Abschlussbericht unter: https://www.bmi.bund.de/DE/themen/heimat-integration/gesellschaftlicher-zusammenhalt/30-jahre-deutsche-einheit/30-jahre-deutsche-einheit-node.html (28.10.2022); https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/507199/welche-zukunft-braucht-deutschlands-zukunftszentrum-ein-plaedoyer/ (28.10.2022); https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2020/abschlussbericht-kommission-30-jahre.html (28.10.2022). Siehe auch meine Stellungnahme: https://www.bundestag.de/resource/blob/916484/c0ca736ad7812804a6ba1a12364ca35a/Stellungnahme-17-Sitzung-Dr-Ilko-Sascha-Kowalczuk-data.pdf (28.10.2022).

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension