Spätestens seit der Globalisierungseuphorie der späten 1980er- und der 1990er-Jahre sind Grenzen und grenzüberschreitende Bewegungen auch für verschiedene Wissenschaften ein Dauerthema.1 Angesichts der (vermeintlichen oder tatsächlichen) „Krisen“ der letzten Jahre hat Grenzforschung zudem ständig an Bedeutung – und analytischer Komplexität – gewonnen. Im interdisziplinären Feld der „Border Studies“ werden Grenzen nur noch selten als bloße „borderlines“ konzipiert. Aber selbst ausgedehnte „border zones“, „borderlands“ und „frontiers“ werden zunehmend als räumlich diffusere „mobile borders“, „borderscapes“ oder „bordertextures“ verstanden und mit prozessualen Konzepten wie „b/ordering“ (bzw. „de- and re-bordering“), „doing borders“ und „borderwork“ analysiert. Die vorwiegend englischsprachige Form all dieser Begrifflichkeiten deutet auf eines der Hauptziele des vorliegenden Bandes hin: eine bisher fehlende deutschsprachige Überblicksdarstellung2 zu bieten und dabei „Grenzforschung im deutschsprachigen Raum als eine genuine, spannende und produktive Forschungsperspektive [zu] verankern“ (Einleitung, S. 18).
Diesem Versprechen werden die Herausgeber:innen des thematisch vielfältigen Handbuches gerecht, indem sie verschiedene, teils konkurrierende Perspektiven auf (kritische) Grenzforschung zusammenbringen und erklären. Eine hilfreiche Einleitung stellt die Entwicklung der Grenzforschung innerhalb einzelner Disziplinen wie Geografie und Anthropologie sowie auch Geschichte, Politikwissenschaft, Soziologie, Philosophie und Kulturwissenschaften dar und erläutert einige Trends, die aus ihrem Zusammenspiel entstanden sind: Pluralisierung der Methoden, Ausdifferenzierung der Konzepte und Vielstimmigkeit der Akteur:innen stehen im Vordergrund (S. 16f.). Insgesamt 41 Autor:innen vertiefen diese Erkenntnisse in den vier Hauptteilen des Bandes: „Grundlagen“, „Konzepte und Perspektiven“, „Grenzrelationen“ und „Grenzen weiterdenken“.
Die „Grundlagen“ behandeln allgemeine Fragen der Grenzforschung, vor allem im Hinblick auf Begriffe, Methoden und die Entwicklung wissenschaftlicher Ansätze. So erläutert Falko Schmieder die Verschiebungen des Begriffs „Grenze“ seit der Vormoderne sowohl in Bezug auf seine geopolitische Bedeutung als auch im übertragenen Sinne (etwa die „Grenzen des Wachstums“). Goetz Herrmann und Andreas Vasilache unterstreichen, wie sehr die Entwicklung der modernen Territorialgrenze – samt ihrer sicherheitspolitischen Bedeutung – „von historisch sehr spezifischen Artikulationen der Beziehungen zwischen Universalität/Partikularität, innen/außen, Selbst/Anderes, privat/öffentlich“ abhing (S. 73). Ähnlich wie Markus Schroer in seinem Kapitel über „Die Grenzen der Gesellschaften“ konstatieren sie, dass Grenzen sich heutzutage nicht im Abbau, sondern lediglich im Formwandel befinden.3 Dominik Gerst und Hannes Krämer fassen unterschiedliche Methoden der Grenzforschung eindrücklich als verschiedene „border gazes" zusammen, die etwa „auf“ eine Grenzlinie und deren Funktionen für den Staat schauen, Beziehungen „über“ eine Grenze hinweg untersuchen, „in“ einen ausgedehnten Grenzraum hineinsehen oder komplexe Prozesse und Relationen „wie“ eine Grenze (d.h. von ihrer Position aus) betrachten.
Der zweite Teil ist „Konzepten und Perspektiven“ gewidmet. Hier werden unter anderem die Entwicklung von europäischen „Grenzregionen“ (Martin Klatt) und die dort entstandenen „Cross-Border Governance“-Strukturen (Peter Ulrich und James W. Scott) diskutiert, der konzeptuelle Mehrwert der Betrachtung von Grenzen als „Konfliktzonen“ (Sabine Hess und Matthias Schmidt-Sembdner) erläutert und der Begriff „Frontier“ (Conrad Schetter und Marie Müller-Koné) problematisiert. Daneben finden sich aber auch Beiträge zur Forschung über grenzbezogene Diskurse (Sabine Lehner), die meist mit national(istisch)em „Othering“ gegenüber Nachbarn, Migrant:innen und Minderheiten verbunden sind, und zur Wirkung von „Phantomgrenzen“ (Béatrice von Hirschhausen), die nach der Auflösung bestimmter Grenzen weiterhin die Erfahrung, Imagination und Gestaltung des Raumes beeinflussen. Jana Schäfer liefert einen kritischen Beitrag zu verschiedenen Theorien der „Transnationalität“, die sie als Achse der sozialen Ungleichheit neben (und mit Wechselwirkungen auf) Klasse, Geschlecht und „race“ analysiert. Zwar gibt Transnationalität Migrant:innen die Möglichkeit, sich durch grenzüberschreitende Netzwerke mit Ressourcen zu versorgen und neue Räume für Marginalisierte zu schaffen. Allerdings geschieht dies unter sehr ungleichen Bedingungen, je nach Zugehörigkeit zu einer „transnationalen kapitalistischen Klasse“ (S. 210) oder einem „transnationale[n] Prekariat“ (S. 211) und gemäß dem Zugang zum (gegenderten) Arbeitsmarkt oder zu (heteronormativen) Familiennachzugsrechten.
Der dritte und längste Teil, „Grenzrelationen“, behandelt eine Reihe weiterer Aspekte von Grenzen und Grenzforschung. Timo Tohidipur erklärt, wie Grenzen rechtlich ein Staatsgebiet definieren und damit eine „Grundbedingung für die Möglichkeit der Ausübung territorialer Souveränität“ darstellen (S. 300). Grenzen dürfen nach internationalem Recht verändert werden, aber nur auf zulässige Weise (z.B. Fusion, Beitritt, Zession oder Sezession, nicht jedoch Annexion). Sie dehnen sich vertikal nach unten bis zum Erdmittelpunkt aus sowie nach oben bis zum Weltraum (100 km über der Erdoberfläche). Im Wasser haben sie verschiedene Abstufungen (Hoheitsgewässer mit Anschluss-, Sicherheits- und Wirtschaftszonen, Sonderrechte unter dem Festlandsockel). Grenzen spielen eine besondere Rolle für das „Projekt Europa“, wo sie laut Monika Eigmüller „im Fadenkreuz von Integration und Erweiterung spezifisch an[ge]siedelt [sind]“ (S. 260). Während die innere Reisefreiheit zu einem Kernelement der europäischen „Identität“ erhoben wird, werden gleichzeitig vermeintlich europäische „Werte“ durch die Menschenrechtsverletzungen bei Kontrollen an – und sogar weit vor – den Außengrenzen des Subkontinents in Frage gestellt. Auch über Europa hinaus werden Kontrollfunktionen weit weg von physischen Grenzen ausgeübt, teils in andere Staaten verlagert, aber auch, wie Holger Pötzsch analysiert, auf private Firmen, nichtmenschliche Akteure und automatisierte Technologien übertragen. Diese nicht mehr klar verortete Kontrollmacht führt für viele Bürger:innen „zu einer allgegenwärtigen, jedoch nur bedingt sichtbaren und fühlbaren Grenze“ (S. 292). Bei Migrant:innen und anderen, die den normativen Vorannahmen der Grenztechnologien nicht entsprechen, wird die Grenze aber mobil und „verkörpert“, da Kontrollen überall und jederzeit möglich sind. So schlägt sich diese Kontrollmacht nicht nur rechtlich und räumlich nieder, sondern auch in einer zeitlichen Dimension, wie Carolin Leutloff-Grandits zeigt: das Tempo bei der Grenzpassage, das Warten auf ein Visum oder auf einen Asylbescheid, die Versetzung in zeitlich unbestimmte (und damit potenziell „endlose“) bürokratische Verfahren – all das zeigt, wie Zeit als „ein Instrument der Hierarchisierung“ (S. 425) zwischen Bürger:innen und Nichtbürger:innen eingesetzt wird.
Im letzten Teil, „Grenzen weiterdenken“, werden Impulse hauptsächlich aus der internationalen Grenzforschung „importiert“ (vier der fünf Beiträge sind aus dem Englischen übersetzt). Vertreter:innen einiger führender Grenztheorien kommen in programmatischen Texten zu Wort, aber auch in einem abschließenden Interview, wo die Anthropolog:innen Chiara Brambilla, Didier Fassin und Sarah Green mit den drei Herausgeber:innen aktuelle Tendenzen der Grenzforschung besprechen. Hier dringen auch Themen und Thesen aus vielen anderen Beiträgen des Handbuches durch: Grenzforschung muss sich mit der „Komplexität und Prozessualität“ von Grenzen auseinandersetzen (S. 532); der Begriff „Grenze“ umfasst sowohl politisch-territoriale als auch soziosymbolische Phänomene, dementsprechend betrachtet Grenzforschung die Interaktionen dazwischen (S. 526f.); zum aktuellen Wandel von Grenzen gehören partizipatorische, performative und verkörperte Grenzziehungen (S. 537f.); nicht nur die Entstehung oder Veränderung von Grenzen ist von Belang, sondern vor allem auch, „wofür sie genutzt werden und was sie mit Menschen machen“ (S. 532).
Fast alle Beiträge sind 10 bis 20 Seiten lang und eignen sich am besten zur eigenständigen Lektüre der einzelnen Themen, die allerdings klar mit übergeordneten Fragen verbunden sind. Entsprechend dem Ansatz der Herausgeber:innen, die Bandbreite der Grenzforschung vor allem in theoretischer und methodischer Hinsicht darzustellen, überwiegen insgesamt Perspektiven aus Soziologie und Anthropologie; weitere Disziplinen wie Geschichts-, Rechts-, Wirtschafts-, Sprach- und Kulturwissenschaften sind jedoch ebenfalls vertreten. Das auch im Open-Access-Format erhältliche Handbuch4 bietet somit einen umfassenden Einstieg für neu an der Grenzforschung Interessierte. Gleichzeitig eröffnet es für erfahrene Grenzforscher:innen viele Möglichkeiten, das eigene Wissen zu erweitern.
Anmerkungen:
1 So stand zum Beispiel der Deutsche Historikertag 2010 unter dem Motto „Über Grenzen“. Siehe Gabriele Metzler / Michael Wildt (Hrsg.), Über Grenzen. 48. Deutscher Historikertag in Berlin 2010. Berichtsband, Göttingen 2012.
2 Handbücher in englischer Sprache gibt es seit einigen Jahren, etwa Doris Wastl-Walter (Hrsg.), The Ashgate Research Companion to Border Studies, Farnham 2011, sowie Thomas Wilson / Hastings Donnan (Hrsg.), A Companion to Border Studies, Chichester 2012 (Paperback 2016). In letzter Zeit sind auch in anderen Sprachen kritische Überblicksdarstellungen erschienen, z.B. Elżbieta Opiłowska u.a. (Hrsg.), Studia nad granicami i pograniczami. Leksykon, Warszawa 2020, und Anne-Laure Amilhat-Szary, Géopolitique des frontières. Découper la terre, imposer une vision du monde, Paris 2020.
3 Siehe hierzu auch Steffen Mau, Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert, München 2021.
4 <https://doi.org/10.5771/9783845295305> (10.11.2021).