Cruising – abgeleitet vom englischen „to cruise“ („kreuzen, e-e Kreuzfahrt od. Seereise machen“ 1) hat der Begriff in jüngerer Vergangenheit Eingang in den deutschen Sprachgebrauch gefunden, heißt es doch im Fremdwörter-Duden von 1982: „Cruising (krusing; engl.) das; -(s): das Suchen nach einem Sexualpartner“.2 Was der Duden an Details zu dieser Tätigkeit diskret zu offenbaren unterlässt, hilft das Internet zu erhellen: Beschränkt man sich bei der Google-Recherche auf die Suche nach Seiten in deutscher Sprache, so findet sich unter den ersten zehn der insgesamt knapp 1,1 Millionen matches 3 eine bunte Mischung aus Werbeseiten für Kreuzfahrten (z.B. „Cruising Reise – Ihr Reisespezialist für Australien...“ 4), einem schwullesbischen Stadtführer für München („munich-cruising“ 5), einer Wikipedia-Seite zum Thema Cruising als Handlung 6 und einer ebensolchen zum gleichnamigen Kinofilm von William Fredkin.7
In jenem Wikipedia-Artikel, der Cruising als Handlung thematisiert, wird umrissen, worum es geht: Ganz offensichtlich ist Cruising eine Angelegenheit von – zumindest im Moment der Handlung – nach gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten suchenden Männern. Ein Umstand, der in kulturwissenschaftlicher Hinsicht direkt in Richtung queer studies verweist. Doch wie immer, wenn von queer-Themen die Rede ist, ist genauso die Rede von Kultur insgesamt und von deren strukturellen Gestehungsbedingungen. Für die deutschsprachigen Sozial- und Kulturwissenschaften stellt sich „Cruising“ als weithin unbeackertes Themenfeld dar, wiewohl diese kulturelle Praxis zahlreiche Ansatzpunkte für Forschungstätigkeit böte.
Eine unter zahlreichen Möglichkeiten, sich diesem Phänomen zu nähern, besteht darin, die vielschichtigen Wechselbeziehungen zwischen Raum und Handlung in den Blick zu nehmen, die Konstruktionen von Raum und die Wirkmacht dieser Konstruktionen auf die Akteure zu fokussieren und auf Zweckentfremdungen, temporäre Indienstnahmen und das Wissen über das „Wo?“ und „Wann?“ dieser performativ-flüchtigen Aneignungen einzugehen. Fragestellungen, die Helge Mooshammer mit seiner Studie über „Architektur, Psychoanalyse und Queer Cultures“ zu bearbeiten versucht, indem er Cruising als temporäre Aneignung öffentlicher Orte auf der Suche nach sexuellen Abenteuern mit der sozialen Konstruktion von Raum kurzschließt und in die Architekturdebatte einführt. Wer also angesichts des prickelnd voyeuristische Verheißungen weckenden Titels pikante Details erwartet oder in Assoziation mit dem gleichnamigen Film in Richtung Thriller denkt, mag von den Inhalten des Bands enttäuscht werden. An spannenden Gedankenfiguren ist Mooshammer gleichwohl nicht eben arm, auch nicht an Gedankensprüngen. Und mitunter drohen sich die Forderungen, die der Autor an den Leser richtet, in Richtung Überforderung zu übersteigern.
Doch zurück zum Ausgangspunkt: Interessant an Cruising ist für Mooshammer in erster Linie, dass diese Aktivität an keinen festen Raum gebunden ist, sondern sich durch eine improvisiert-performative Inanspruchnahme von mehrfach überlagerten Räumen auszeichnet. Auf dergleichen Inanspruchnahmen weisen dingliche Indikatoren hin, denn ein als Cruising Area umgewidmeter Raum ist „übersät von den verstreuten Zeichen und undefinierbaren Spuren all dieser territorialen Kontexte“ (S. 96). Doch diese allein reichen nicht aus, um „die vielfältigen Effekte und Bedingungen von Cruising zu verstehen“, denn „die Produktion eines solchen Schauplatzes ist vielmehr gekennzeichnet durch einen aktiven Prozess der erotischen körperlichen Suche jenseits der Schranken des bereits Bezeichneten und Formierten – ein Prozess, in dem dieser Schauplatz-im-Werden in das Operieren anderer diskursiver Formationen einbricht, aus ihnen schöpft, sie unterläuft und von ihnen unterlaufen wird“ (ebd.). Weil sich in den gestalteten Räumen die Grenzsetzungen einer heteronormativen Gesellschaft abbilden, gerät die Praxis des Cruising zu einer Grenzüberschreitung, die Mooshammer als einen alternativen Weg zur Teilnahme und zur Beeinflussung kultureller Prozesse begreift. Das „alternative“ Wissen um die entsprechenden Orte wird so zu einem Symbol der Lebendigkeit und erfolgreichen „Widerständigkeit“ von Kultur, die sich – Foucault grüßt von Ferne – immer wieder anschickt, selbst machtvolle Strukturen zu unterlaufen. Diese Überlegungen haben zweifellos etwas Bestechendes an sich, schon deshalb, weil die Vorstellung, wonach kulturelle Praxen gesellschaftliche Normen – hier in Gestalt des, wenn nicht bebauten, so doch geordneten Raumes – erfolgreich unterminieren können, eine Grundsympathie evozieren. Gleichwohl bleibt die Frage offen, inwieweit die gegen die Heteronormativität gerichteten Impulse, das Konzept des Selbstmanagements und der Diskurs, der sich aus den Lebensäußerungen der Manager des Selbst konstituiert, letztlich jeweils nur Teilwirklichkeiten erfassen. Teilwirklichkeiten, die mitunter vergessen machen, dass Heteronormativität nicht nur erfolgreich und kreativ unterlaufen wird, sondern auch Ursache zahlreicher Leiden und mithin des Scheiterns von Biographien sein kann. Gewiss, durch eine kulturalistische Brille besehen, ist Cruising ein positiver Beweis dafür, dass Struktur nicht alles regelt und Diskurse que(e)r zu herrschenden Normen entstehen können. Zu fragen bleibt indessen, wie viel schwule Realitäten durch diese Sichtweise ausgeblendet bleiben. Zu fragen bleibt weiter, ob es nicht gerade wiederum die herrschenden Strukturen sind, welche die Praxis des Cruising überhaupt erst bedingen.8
Mooshammer schreibt – dies ist im Untertitel eindeutig festgehalten – auf Basis psychoanalytischer Theoreme: Ausführlich widmet sich der Autor dabei einer Diskussion des Bewussten und Unbewussten, setzt dieses dem Sichtbaren und Unsichtbaren gleich und kritisiert nicht zu Unrecht die Dominanz des Sichtbaren in der Wissensgeschichte der Moderne, um schließlich für die Gegenwart eine gesteigerte Nachfrage nach dem Unsichtbaren und noch nicht Bekannten zu diagnostizieren. Weitergedacht ergibt sich für Mooshammer: „Dieser Haltung der Ignoranz gegenüber Praktiken, die sich ihre Räume unabhängig von einer Eingliederung in autorisierte Planungsinstrumente und Aufzeichnungsverfahren selbst suchen, steht gleichzeitig eine verstärkt agierende kulturelle Sehnsucht nach dem Erleben eben jener Qualitäten gegenüber, die außerhalb der Räume und Routinen des allzu leicht Vorzufindenden vorhanden zu sein und eine neue Form der Erfahrung zu produzieren scheinen. Eine Sehnsucht, die sich nicht zufrieden gibt mit kontrollierten Abenteuern, wie sie im Konsum von Erlebnisparks, Reality-TV-Shows und ähnlichen Formaten bestehen, mit dem Genuss von zeitlich oder räumlich genau umschriebenen persönlichkeitserweiternden Erfahrungen oder der Ästhetisierung und Verklärung von abjekten, abnormen oder verwahrlosten Schauplätzen in popkulturellen Spektakeln, etwa in Form von Events auf ausgedienten Industriearealen, in Form einer kreativen Nutzbarmachung und architektonischen ‚Belebung‘ von urbanen Brachen oder in Form einer Aneignung marginalisierter kultureller Praktiken als exotisches Lebensstilattribut.“ (S. 107) Und spätestens hier möchte man vor dem Hintergrund überkommener Authentizitätsdebatten aus volkskundlichem Kontext heraus laut „Moment ’mal!“ rufen. Nicht nur deshalb, weil in der Be-Schreibung einer sonst verschwiegenen kulturellen Praxis eben jene marginalisierten kulturellen Praxen ästhetisiert, dem Interesse und dem (semi-)wissenschaftlichen Abenteuertourismus eröffnet werden, sondern vor allem deshalb, weil offenbar unerkannt bleibt, dass eine Cruising Area nicht mehr oder weniger authentisch ist als ein Erlebnispark, der übrigens seinerseits selbst wieder auf ähnliche Weise zweckentfremdet werden kann wie öffentliche Parks, Autobahnrastplätze oder Badeplätze am Rande der Stadt. Dass Mooshammer vor dem Hintergrund dieser Argumentationslinie schließlich »wilde« Cruising Areas von zugerichteten und als solche gestalteten scheidet und letzteren im Vergleich zu ersteren die kulturkritische und damit authentische Qualität abspricht, macht den „echten“ Cruiser am Ende zum edlen, weil kulturkritischen, „Wilden“, der sich einen feuchten Staub um Verordnungen und Gesetze schert und sich im urbanen Dschungel – ohne Hilfe von außen – seine eigenen Jagdgründe schafft.
Gewiss: „Das Faszinierende an den Orten, wo (‚wildes‘) Cruising stattfindet, ist ja nicht (nur), dass Männer dort anonymen Sex haben, sondern die Art und Weise, wie entgegen einer Vielfalt von verhaltensnormierenden Diskursen und entgegen ihren Regeln zur Inanspruchnahme von Raum neue Potenziale aus einem Ort herausgeholt werden [...].“ (S. 113) Dieses Faszinosum aufzugreifen und dem kulturwissenschaftlichen Blick zu unterziehen, ist per se eine beachtenswerte Leistung. Und es ist nicht minder anerkennungswürdig, dass Mooshammer Cruising „als ein Modell von wissensherstellender Praxis“ betrachtet, in dessen Zusammenhang „viele Grenzen kontinuierlich berührt und überschritten, gesellschaftliche Tabus verletzt und isolierte Rechtmäßigkeiten, Kenntnis- und Territorialansprüche in Frage gestellt“ werden (ebd.), anstatt sich auf voyeuristische Pikanterien einzulassen. Dass Cruising als flüchtig-improvisatorische Performanz der informellen Raumaneignung offenbar eine Begeisterung für eine vermeintliche Authentizität und Genuinität dieser Praxis ausgelöst hat, ist unschwer zu überlesen, führt aber zu einer aus kulturwissenschaftlicher Sicht à la longue schwer zu rechtfertigenden Gegenüberstellung von „guter Subkultur“ und „schlechter“ Mainstream-Massenkultur. Klar, dass vor dem Hintergrund dieser Einteilung die Einsicht stehen muss, „dass Cruising für eine Architektur des technologischen Zeitalters mehr als die meisten Game-Boy-Architekturen digitaler Natur“ verspräche, und die Forderung aufgestellt wird, Architektur müsse sich aus traditionellen Bahnen herausbewegen und „verflüssigen“ (S. 119). Wie immer dies auch im Detail aussehen mag, bleibt hier doch die Frage, was mit der kulturellen Praxis selbst geschähe, wenn Architektur alles aufgreifen würde, was aus der kulturellen Praxis des „Cruising“ gelernt werden könnte.
Kritik fordert der Autor überdies heraus, indem er zwar Passagenweise äußerst lebendig über Orte von und Performanzen in bestimmten Cruising-Areas, „wilde“ wie „geordnete“, zu berichten vermag und somit zwar einen wie immer gearteten Gang ins Feld andeutet, diesen jedoch nicht darlegt und dem Leser insofern das Wissen über Methodisches und das forschende Subjekt im Feldgefüge vorenthält.
Bei allem, was man an Mooshammers Buch kritisieren kann und ungeachtet manch abenteuerlicher sprachlicher Windung möchte man „Cruising“ doch für eine gelungene Annäherung an das Phänomen begrüßen und den Pioniercharakter dieser Arbeit unterstreichen. Zugleich darf man daran denken, dass das Phänomen „Cruising“ auch nach der Studie von Mooshammer noch genügend Fragen offen lässt, die einer kulturwissenschaftlichen Betrachtung Wert sind.
Anmerkungen:
1 Teile des Zitats sind im Original durch kursiven Satz hervorgehoben, was im Rahmen der online-Darstellung dieser website nicht möglich ist. Langenscheidts Taschenwörterbuch Englisch. Vollständige Neubearbeitung 1990. 7. Aufl. Berlin u.a. 1994, S. 152.
2 Teile des Zitats sind im Original durch fetten oder kursiven Satz hervorgehoben, was in der Online-Darstellung dieser Website nicht möglich ist. Duden Fremdwörterbuch. 4., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim u.a. 1982 ( = Der Duden in 10 Bänden, 5), S. 160.
3 Google-Suche nach »Crusising«, beschränkt auf Seiten in deutscher Sprache (26.06.2007).
4 Cruising Reise – Ihr Reisespezialist für Australien – Neuseeland – Asien – Südamerika und südliches Afrika. http://www.cruising-reise.de/ (Zugriff vom 26.06.2007).
5 Munich-cruising gay and lesbian guide, der schwule münchen stadtführer. www.munich-cruising.de (Zugriff vom 26.06.2007).
6 Cruising, in: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie. http://de.wikipedia.org/wiki/Cruising (Zugriff vom 26.06.2007).
7 Cruising (Film), in: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie. http://de.wikipedia.org/wiki/Cruising_(Film) (Zugriff vom 26.06.2007).
8 Vgl. Elias, Norbert, Zur Grundlegung einer Theorie sozialer Prozesse, in: Zeitschrift für Soziologie 6 (1977), 2, S. 127-149.