Bernd Jürgen Warnekens Buch leistet das, was sich suchende Leser/innen in der Regel von einer Einführung in ein Fachgebiet erhoffen: Es bietet einen Forschungsüberblick und verbindet darin Informationen zur Forschungsgeschichte mit einem bilanzierenden Blick, der sich zudem auf zukünftige Forschungsfelder und -perspektiven richtet. Dass es dem Autor dabei nicht um eine Einführung in ein (Studien-)Fach im herkömmlichen Sinne geht, zeigt schon der Titel, dem der Verweis auf eine spezifische Disziplin (oder Subdisziplin) fehlt. Was hier „Ethnographie popularer Kulturen“ heißt, meint die wissenschaftliche Beschäftigung mit der „Kultur und Lebensweise unterer Sozial- und Bildungsschichten“ (S. 9) im Kontext von Volks- und Völkerkunde, den Europäischen Ethnologien wie Empirischen Kulturwissenschaften, aber auch von Sozial- und Alltagsgeschichte sowie Historischer Anthropologie. In Abgrenzung zum „Populären“ (im Sinne massenhafter Verbreitung in verschiedenen sozialen Schichten) verwendet Warneken den Terminus „popular“ dabei synonym mit „unterschichtlich“, bezogen auf soziale Gruppen mit spezifischen Merkmalen: abhängige Arbeit, geringer Besitz, geringe Bildung und zum Teil rechtliche Unterprivilegierung. „Ethnographie“ bezeichnet eine Forschung, die Alltagsdenken, -handeln und Lebensweisen sozialer Gruppen möglichst „dicht“ zu beschreiben versucht und sich dabei auch für die Innensicht ihrer Untersuchungssubjekte interessiert (Anm. 2). Diese spezifische „Qualität“ ethnographischen Arbeitens motiviert die Ausgangsthese des Buches, „dass die Sichtweise der meisten ethnographischen ForscherInnen sich zumindest graduell von den kulturell dominanten Perspektiven auf die Unterschichten unterscheidet“ (S. 9). Warneken nennt diese Sichtweise den „ethnologischen Respekt“, also einen mehr sympathisierenden, tendenziell partnerschaftlichen und weniger erzieherischen Impetus, der wissenschaftliches Interesse an unterschichtlichen Kulturen erst ermöglichte. Gleichzeitig führt der „ethnologische Respekt“ direkt zu zentralen Fragen nach den Wirkungen der Interessen und Bedürfnisse von Wissenschaftler/innen (also etwa zu der Frage „Wer wird Ethnograph?“1) in der ethnographischen Forschung selbst und dem dort produzierten Wissen über populare Kulturen (und damit etwa zur „Krise der Repräsentation“ und zur „writing culture debate“2).
Vor diesem Hintergrund versucht Bernd Jürgen Warneken etwas Neues: Er strukturiert seine Einführung nicht entlang von Theorien, Methoden oder Gegenständen, sondern arbeitet vielmehr die zentralen Perspektiven heraus, die Wissenschaftler/innen in ihren Blicken auf populare Kulturen entwickelt haben. Sein Schwerpunkt liegt dabei klar auf der deutschsprachigen „Unterschichtenethnographie“, bezieht aber Forschungsbeiträge anderer Länder dort ein, wo sie für deren Debatten von Bedeutung waren. Warneken führt drei dominante Perspektiven aus, die sich zu „Leitmotiven“ ethnographischer Forschung in bestimmten Zeiten verdichteten bzw. die historisch zu kontextierende „Kernzeiten“ (S. 27) aufweisen: Primitivität, Kreativität und Widerständigkeit. Gleichwohl, und das ist zweifellos ein Gewinn solcher Form von Wissens- und Forschungsgeschichte, lösten diese Leitmotive einander nicht schlicht ab, etwa im Sinne von Paradigmenwechseln. Dass es daher auch nicht darum gehen kann, einzelne Arbeiten eindeutig zuzuordnen, zeigt ein Blick in das nach Leitmotiven geordnete Literaturverzeichnis, das zahlreiche Arbeiten „doppelt“ führt. „Leitmotive“ sind also weit über ihre „Kernzeiten“ hinaus mindestens nebeneinander, gelegentlich gegeneinander wirksam und – wie Warneken anregend ausführt – nicht nur kritisch zu hinterfragende „Erbschaften“, sondern auch Ressourcen für gegenwartsbezogene Ethnographien popularer Kulturen.
Unter dem Leitmotiv „Primitivität“ fasst Warneken in kritischer Sichtung die Arbeiten der frühen Volks- und Völkerkunde, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf dem Kaiserreich. Die primitivistische Konzeption von „Volkskultur“, ihre Interpretamente wie Protagonisten verortet er detail- und kenntnisreich im Spektrum von (kultur-)evolutionistischen und (völker-)psychologischen Entwicklungsmodellen und deren internationalen Bezügen und Verbindungen: als „evolutionärer Primitivismus“, der zunächst „Rettung“ traditionaler Volkskultur zum Zwecke wissenschaftlicher Forschung und ihre „Überführung in das kulturelle Gedächtnis“ (S. 26) meinte und als „re-volutionärer Primitivismus“, der stärker auf Wiederherstellung zielte und als eine Form von Modernekritik unterschiedliche kulturelle und soziale Ziel verfolgen konnte (S. 46ff.). In diesem Zusammenhang verweist Warneken auch auf Verwendungsfelder ethnographischen Wissens und damit verbundene Varianten kultur- und/oder sozialpolitischer Programmatik (S. 41ff.). Er kommt aber zu dem Schluss, dass ethnographische Forschung unter dem Leitmotiv „Primitivismus“ dennoch „weit über ein Fremdverstehen als Voraussetzung effektiverer Beherrschung und Belehrung „primitiver“ Unterschichten hinaus zum Verstehen als Mittel kulturellen Lernens“ geführt habe (S. 46). Aus dieser Sichtung ergibt sich schließlich für Warneken ein „Programm eines kritischen Postprimitivismus“ (S. 83), das an durchaus produktive Potentiale der „primitivistischen Erbschaft“ anschließen könne: an die transnationale und internationale Ausrichtung etwa, die auch dem interkulturellen Vergleich hohen Stellenwert einräumte oder an das Interesse an „Geschichte wie Gegenwart körpernaher Praxen“ (S. 84). Und nicht zuletzt rekurriert Warneken hier auf eine „Facherfahrung mit kulturromantischen bis primitivistischen Sehnsüchten“ (S. 88), die etwa in Untersuchungen über Esoterikmärkte oder über Rituale in Unternehmenskulturen zum Tragen kommen könnte.
Das Kapitel zum Leitmotiv „Kreativität“ widmet sich Bereichen, in denen „Unterschichtenforschung populare Kreativität geortet hat“ und will mit einem Schwerpunkt auf Arbeiten der letzten vier Jahrzehnte Kontinuitäten und Wandlungen der Aufmerksamkeitsrichtungen sichtbar machen (S. 14). Die Wahrnehmung einer – teils bewunderten, teils gefürchteten – Überlebenskraft und Überlebenskunst verortet Warneken zunächst im bürgerlich-elitären Blick auf die Unterschichten, hier noch eng mit primitivistischen Vorstellungen verbunden (S. 103). Es folgt ein kenntnisreicher kritischer Überblick über zahlreiche Arbeiten, die spätestens seit dem Ende der 1960er-Jahre (und beeinflusst von der britischen Arbeiterkulturforschung) neue antielitäre Sichtweisen auf die Handlungsfähigkeit, aber auch die objektiven Handlungsmöglichkeiten sozialer Unterschichten entwickelten. Im Anschluss an das Konzept der Bricolage (Claude Lèvi-Strauss) thematisiert Warneken die wissenschaftliche Beschäftigung mit der „Kreativität des Notbehelfs“ (S. 109) am Beispiel unterschiedlicher Forschungsfelder wie etwa Arbeits- und Arbeiterkulturen, materieller Kultur oder Migrationsprozessen. Besonders hervorzuheben sind die Verweise auf unterschiedliche Bewertungen – z.B. der „proletarischen Selbstmodernisierung“ – in ethnographischen Arbeiten (hier auch mit einem Blick in die Arbeiterkulturforschung der DDR), drücke sich in ihnen doch „die Spannung aus, in der die kulturwissenschaftliche Parteinahme für die sozialen Unterschichten seit jeher stand“ (S. 154).
Ein Abschnitt zur „popularen Ästhetik“ – „traditionelles“ ethnographisches Forschungsgebiet – schlägt nochmals einen weiten Bogen von der frühen Volkskulturforschung, die etwa bäuerliche Volkskunst oder Volkspoesie thematisierte, über die DDR-Ethnographie und ihr Interesse an „künstlerischem Volksschaffen“ bis hin zur Thematisierung von Alltagsästhetiken und der Kreativität (jugendlicher) Subkulturen. Neben der Benennung von Desideraten, etwa im Bereich von Alltagskommunikation oder mit Blick auf die gestalterisch-schöpferische Produktion von Rentner/innen und Hobbyisten, fordert Warneken abschließend sowohl eine konsequente soziale Verortung und Einbettung der Ästhetiken des Alltags in die Lebenspraxis als auch – bei allem „ethnologischen Respekt“ – „Diskussion(en) über uninspirierte, brutale, illusionäre Anteile der popularen Alltagskultur“ (S. 205).
Unter dem Leitmotiv „Widerständigkeit“ versammelt Warneken Studien zu popularen Formen von Widerstand, Verweigerung und Selbstbehauptung. Die historische Kontextierung und Situierung von Forschungsinteressen wie -gegenständen reflektiert dabei die Debatten darüber, was widerständiges Handeln sei, ebenso wie den Wandel der Forschungsfelder: etwa von den Arbeiten der frühen DDR-Ethnographie zu alltäglichen Eigenmächtigkeiten ländlicher Unterschichten seit der Frühen Neuzeit über die Untersuchungen öffentlicher sozialer Proteste und politischer Kämpfe, z.B. im Vormärz, im Kontext der Arbeiterkulturforschung Mitte 1970er- bis 1980er-Jahre (auch diese mit politischen Impulsen der britischen „New Left“) bis hin zu den zahlreichen feministischen Studien zu Formen weiblichen Protestes seit den 1980er-Jahren. Besonders hervorzuheben ist hier die kritische Reflexion latent drohender Romantisierung und Verklärung des Widerstandsgeistes und der Widerstandsbereitschaft der Unterschichten im akademischen Blick: Welche Rolle spielen etwa Herkunft und politische Orientierung ethnographischer Forscher/innen bei der Bewertung von Verbreitung oder Effizienz widerständiger Akte, seien es Wilderei, Holzdiebstahl, Obstruktionsakte im Büro oder kollektive Resistenz im Nationalsozialsozialismus? Ähnliches macht Warneken für Untersuchungen zum Widerstandspotential jugendlicher Subkulturen – seit Mitte der 1970er-Jahre im Anschluss an die britischen Cultural Studies vermehrt erarbeitet – geltend. Hier problematisiert er detailliert die spezifischen Ambivalenzen potentiell sympathisierender „Unterschichtenethnographie“ in „ungeliebten“ Feldern die wenig Identifikationspotential bieten – also etwa Jugendgruppen, die sich als anfällig erweisen für Sexismus, Gewalttätigkeit, Rassismus oder Rechtsradikalismus (S. 294ff.). Unter der Frage „Unterhaltung als Gegenkultur?“ sichtet Warneken zudem Arbeiten aus der Medienrezeptionsforschung mit Blick auf romantisierende Tendenzen und Interpretationen popularer Aneignungsweisen von Produkten der Kultur- und Medienindustrie als „widerständig“. Zukünftige Widerständigkeitsforschung müsse, so Warneken schließlich, „in der hochgradig pluralisierten Gegenwartsgesellschaft“ von verschiedenen, teils widersprüchlichen Interessen von Gruppen wie Individuen ausgehen und gerade dort ansetzten, wo das „Prinzip der Seelenverwandtschaft […] und die Wonnen der Verbrüderung“ zwischen Ethnograph/innen und anderen Akteuren im Feld nicht greife (S. 324f.).
Den Forschungsperspektiven, die das Buch beschließen, stellt Warneken grundsätzliche Überlegungen zur Spezifik und den Veränderungen des Sozialprofils einer demokratisch verfassen Wohlstandsgesellschaft voran, verbunden mit der Frage nach dem gegenwärtigen Ort „popularer Kultur“. Zukünftige „Unterschichtenethnographie“ fände ihren Gegenstand dann in „prinzipiell alle(n) Gruppen, die in relevanten Teilen ihrer Ressourcen unterhalb des gesellschaftlichen Durchschnitts liegen, wobei diese Ressourcen neben ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital das Ansehen bei anderen Sozialgruppen einschließen“ – also von Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, über solche Milieus, in denen sich mittlere Einkommen mit geringem kulturellem Kapital verbinden bis hin zu prekär beschäftigten oder arbeitslosen Akademiker/innen (S. 337).
Die abschließenden Überlegungen zur Frage „Was und wie nützt Ethnographie?“ seien – ebenso wie das ganze Buch – Studierenden wie Forschenden als anregende Lektüre ans Herz gelegt. Bernd Jürgen Warneken gelingt eine sehr differenzierte, detailreiche Einführung in ein breites Forschungsfeld. Der Blick auf die „Leitmotive“ ethnographischer Unterschichtenforschung steht in bester Tradition reflexiver Forschung und liefert nicht zuletzt einen Beitrag zu Kontextualisierung wie Historisierung ethnographischen Wissens von popularen Kulturen.
Anmerkungen:
1 Linder, Rolf, Wer wird Ethnograph? Biographische Aspekte der Feldforschung, in: Greverus, Ina-Maria u.a. (Hrsg.), Kulturkontakt Kulturkonflikt. Zur Erfahrung des Fremden. Teil I, Frankfurt am Main 1988, S. 99–107.
2 Z.B. Fabian, Johannes, Time and the Other. How anthropology makes its object, New York 1983; Clifford, James, Marcus, George E. (Hrsg.), Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley, Los Angeles 1986.