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Titel
Scandinavism. Overlapping and Competing Identities in the Nordic World, 1770–1919


Autor(en)
Gerven, Tim van
Reihe
National Cultivation of Culture
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 427 S.
Preis
€ 136,96
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marit Bergner, Nordeuropa-Institut, Humboldt-Universität zu Berlin

Tim van Gerven bedient mit seiner Studie „Scandinavism. Overlapping and Competing Identities in the Nordic World 1770–1919“, die 2020 als Dissertation an der Universität Amsterdam angenommen worden war, eine wichtige Forschungslücke zum kulturellen Skandinavismus und untersucht die Bedeutung der skandinavischen Identität im Kontext der Nationsbildung in Norwegen, Schweden und Dänemark sowie die Verflechtung „between Scandinavism and the separate national identities of the Scandinavian countries“ (S. 8). Zugleich liegt damit die erste englischsprachige Monographie zu dem Thema vor und ergänzt zahlreiche, meist in den skandinavischen Sprachen erschienene Arbeiten zum Skandinavismus.1

Der Fokus von van Gervens Analyse liegt auf dem Historismus, den er als „creative engagement with the national past through literature, academic investigation, visual representation, and public propagation” (S. 13) versteht. Entstanden im Kontext der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege auf dem europäischen Kontinent, deren Auswirkungen direkten Einfluss auf die nordeuropäischen Länder hatten – Dänemark musste 1814 Norwegen an Schweden abtreten, während Schweden 1809 Finnland an Russland verlor –, war die Hinwendung zur eigenen Vergangenheit die Basis für nationale Identitätsfindung, so auch in den skandinavischen Ländern. Dass van Gerven dabei den Skandinavismus als „a general cultural preoccupation with Scandinavian identity“ (S. 10) begreift, ermöglicht ihm, den zeitlichen Rahmen für seine Untersuchung bewusst weit anzusetzen: von 1770 bis 1919, und diesen zwar stets im Kontext historischer und politischer Ereignisse zu verstehen, dabei aber jene bewusst nicht in den Vordergrund zu stellen, um eine Vermischung von Skandinavismus und Nationalismus zu vermeiden, was ihm erstaunlich gut gelingt. Gleichwohl liegt der zeitliche Schwerpunkt doch eher auf dem 19. Jahrhundert.

Im Zentrum der Untersuchung stehen kulturelle und literarische Erinnerungsorte der skandinavischen Geschichte. Hierbei verwendet van Gerven ein sehr weites Quellenspektrum, indem er nicht nur Denkmäler, sondern auch Schulbücher, Theaterstücke, Gedichte, Gemälde, öffentliche Gedenkfeiern und sogar Straßenschilder in seine Untersuchungen einbezieht. Einen zentralen Platz nehmen dabei die bildende Kunst und historische Fiktion ein, anhand derer der Frage nachgegangen wird, inwieweit diese zur Artikulation kollektiver Identität beitrugen. Einen Überblick über alle in die Untersuchung einbezogenen Werke stellt van Gerven mittels einer eigens für seine Studie erstellten Webseite bereit2, welche die beiden im Rahmen der Dissertation entstandenen Datenbanken zu skandinavischer Literatur und bildender Kunst vereint. Alle 1.585 chronologisch, alphabetisch oder motivisch sortierten Einträge beziehen sich auf Personen oder Ereignisse aus der skandinavischen Geschichte und bilden das Fundament seiner Studie, anhand dem es ihm möglich war, diachrone Entwicklungen in den drei Nationen während bestimmter historischer Perioden zu identifizieren (S. 39). Allein diese Datenbank stellt einen Schatz an Quellen zur kulturellen Geschichte Skandinaviens bereit und ermöglicht weitere Forschungen zum Thema.

Im ersten Teil der Studie, „Imagining Scandinavia“, steht die (alt)nordische Mythologie im Mittelpunkt, ausgehend von der im Jahr 1800 an der Kopenhagener Universität gestellten Preisfrage, ob es für die Poesie in Skandinavien von Vorteil wäre, wenn die alte nordische Mythologie anstelle der griechischen Mythologie eingeführt und allgemein akzeptiert würde. Van Gerven arbeitet mittels Analyse der Antworten der drei Preistragenden, Ludvig Stoud Platou (1778–1833), Adam Oehlenschläger (1779–1850) und Jens Møller (1779–1833) heraus, dass man die griechische Mythologie zwar weiterhin als der nordischen überlegen betrachtete, dass aber genau dieser Umstand auch die Möglichkeit bot, die nordische Mythologie aus ihrem Schattendasein zu befreien und sie als bisher ungenutzte Inspirationsquelle für Dichter und Künstler zu verstehen, eben weil sie „national“ sei und man damit patriotische Gefühle wecken könne. Die kulturelle Abgrenzung Dänemarks, Norwegens und Schwedens vom Süden und der Fokus auf das eigene Kulturerbe sind, so das Fazit des ersten Teils, Voraussetzungen für die spätere Entwicklung des Skandinavismus als pan-nationale Bewegung. Die Besinnung auf das nordische Kulturerbe führte allerdings auch zu Konkurrenzdenken und dem Postulat, dass die nordische Mythologie Teil der jeweiligen nationalen Kultur war, wie van Gerven anhand literarischer und intellektueller Debatten führender nordeuropäischer Gelehrter (Finnur Magnússon, Gustaf Geijer, Gustav Ludvig Baden) und Literaten (Adam Oehlenschläger, Esaias Tegnér, Nikolai Frederik Severin Grundtvig) überzeugend darstellt.

Im zweiten – und längsten – Teil, „Cultivating Scandinavia“, behandelt van Gerven die Pflege der skandinavischen Kultur, die er als Erhöhung des „Scandinavian national consciousness“ (S. 97) durch kulturelle Bestrebungen definiert. Hierbei geht er der Frage nach, wie die gemeinsame skandinavische Geschichte in Öffentlichkeit, Sprache, Texten (historische Fiktion, Schulbücher), bildender Kunst, performativer Kunst und Gedenken eingebracht und kultiviert wurde. Dem Autor gelingt es durch seinen festgelegten Ausgangspunkt, nämlich die sieben zwischen 1843 und 1875 in vier Universitätsstädten der drei skandinavischen Länder stattgefundenen pan-skandinavischen Studententreffen, sich nicht in der schier unendlichen Quellenmasse zu verlieren, sondern ausgehend von diesen Treffen die Überlegungen, Debatten und Maßnahmen zur Förderung eines gemeinsamen skandinavischen Identitätsgefühls nachzuzeichnen und gleichwohl in ihre jeweiligen historischen und nationalen Kontexte einzuordnen. Allein die für seine Untersuchung zum Skandinavismus im Genre der historischen Fiktion zusammengetragenen 684 Titel sind auch von literaturgeschichtlichem Nutzen. Er vermag zu zeigen, dass nationale und skandinavische Kultur in den meisten Fällen miteinander verflochten waren und die Pflege der einen Kultur immer auch die der anderen bedingte.

Norwegen, Schweden und Dänemark verbindet eine lange kriegerische Geschichte – ein Fakt, den auch van Gerven nicht ignoriert, sondern während seiner Arbeit stets im Hinterkopf behält. Am Beispiel der bildenden Kunst kann er aufzeigen, dass nicht die Kriege und Konflikte als das Skandinavien verbindende Element dargestellt wurden, sondern vielmehr zu 90 Prozent exkludiert waren. Hierbei greift van Gerven auf das von dem Dichter Walter Scott (1771–1832) mit Blick auf Schottland und England entwickelte Versöhnungselement zurück, das durch Erkenntnis früherer Fehlverhalten zu einer Überwindung von Differenzen und dem Übergang zu multinationalen kollektiven Identitäten führen sollte (S. 154f.).

Der dritte Teil, „Challenging Scandinavia“, stellt mit Norwegen das Land in den Fokus, welches von den drei skandinavischen Ländern die jüngste Nationalgeschichte zu verzeichnen hat. Nach über vierhundertjähriger gemeinsamer Geschichte mit Dänemark, war Norwegen von 1814 bis 1905 Teil einer erzwungenen Union mit Schweden. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich Norwegen zu einem aufstrebenden Nationalstaat, der auf der Suche nach seiner eigenen nationalen Geschichte in Abgrenzung zu Dänemark und Schweden und damit auch dem Skandinavismus war. Anhand dreier Fallstudien (das norwegische Nationaltheater, norwegische Geschichtsschreibung und norwegische Erinnerungsorte) gelingt es van Gerven, die Konstruktion einer norwegischen Identität in Relation zum Skandinavismus nachzuzeichnen. Einen besonderen Schwerpunkt legt er dabei auf die innernorwegische Debatte um die norwegische Geschichtsschreibung, die, so ein Argument des vom Autor zitierten norwegischen Historikers Peter Andreas Munch (1810–1863), zeigen musste, „that Norway has existed, still exists and will continue to exist in the future, despite this loathsome neglect“ (S. 266). Diese geschichtswissenschaftliche Fehde drehte sich vor allem um die Aneignung historischer Persönlichkeiten für die jeweils eigene Geschichte, vom Autor anhand des in Norwegen geborenen dänischen Marineoffiziers Peter Wessel Tordenskjold (1690–1720) nachgezeichnet, der im Großen Nordischen Krieg an siegreichen Seeschlachten gegen die schwedische Flotte beteiligt war. Die Kernfrage in dieser Debatte lautete wie auch im Fall der skandinavischen Meistererzählungen: Wem gehören historische und literarische Erinnerungsorte? Van Gerven geht es nicht darum, diese Frage zu beantworten; vielmehr gelingt es ihm in diesem dritten Hauptteil zu zeigen, wie eng nationale und pan-skandinavische Identität zusammenhingen, und wie das Bewusstsein einer skandinavischen Identität durch diese Auseinandersetzung entstehen konnte.

Der abschließende Teil, „Ambient Scandinavia“, behandelt den kulturellen Skandinavismus im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert im Hinblick auf die Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit nach dem vorläufigen Ende des politischen Skandinavismus. Konnte der kulturelle Skandinavismus Schritt halten mit dem Wandel der Zeit? Van Gerven verwendet hierfür den von Michael Billig eingeführten Begriff des „banalen“ Nationalismus3, bei dem durch Alltagsgegenstände (zum Beispiel Wasa-Knäckebrot) historische Persönlichkeiten und Ereignisse in die Gegenwart transferiert werden, um Nationalität erlebbar zu machen. Anknüpfend an Billig untersucht van Gerven, wie durch ähnliche unauffällige Alltäglichkeiten der Skandinavismus durch „acts of anchoring Scandinavian identity“ (S. 313) im historischen Denken und öffentlichen Raum verankert wurde.

Van Gerven legt mit seiner Studie nicht nur ein geschichtswissenschaftlich relevantes Werk vor, sondern bietet durch seine Fallstudien zu ausgewählten literarischen Werken aus dem 19. Jahrhundert auch eine literaturwissenschaftliche Herangehensweise, wenn er etwa die Darstellung der Kalmarer Union in August Strindbergs Werk „Engelbrekt“ (1901) anspricht und die mangelnde Forschung zum Thema Skandinavismus in der Literatur kritisiert. Seine Monografie ist daher nicht nur für Historiker:innen eine unbedingte Empfehlung.

Anmerkungen:
1 Wegweisende Arbeiten liegen insbesondere vor von Ruth Hemstad, Magdalena Hillstrøm, Hanne Sanders und Kari Haarder Ekman.
2https://www.scandinavism.com (19.08.2024).
3 Michael Billig, Banal Nationalism, London 1995.