P. Wegenschimmel: Zombiewerften oder Hungerkünstler?

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Titel
Zombiewerften oder Hungerkünstler?. Staatlicher Schiffbau in Ostmitteleuropa nach 1970


Autor(en)
Wegenschimmel, Peter
Reihe
Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte
Erschienen
Berlin 2021: de Gruyter
Anzahl Seiten
265 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Falk Flade, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

In seiner 2020 mit dem Preis für Unternehmensgeschichte ausgezeichneten Dissertation geht Peter Wegenschimmel der Leitfrage nach, wie es dauerhaft unrentablen Staatsunternehmen gelingen kann, externe Schocks, Wirtschaftsreformen und sogar Systemtransformationen zu überleben. Am Beispiel der Werften in Pula/Kroatien (Uljanik) und in Gdynia/Polen beleuchtet er die Rolle des Staates, der Unternehmensleitung, der Belegschaft, aber auch der Europäischen Union (EU).

Tatsächlich bewiesen beide Unternehmen seit ihrer Gründung im 19. Jahrhundert (Uljanik) beziehungsweise in der Zwischenkriegszeit (Werft Gdynia) eine erstaunliche Widerstandsfähigkeit sowohl gegen globale Konjunkturwellen als auch gegen Rentabilitätserwägungen der (zumeist) staatlichen Eigentümer. Die letztendliche Schließung beider Werften in den Jahren 2009 (Gdynia) und 2019 (Pula) nach den EU-Beitritten Polens und Kroatiens beschreibt Wegenschimmel als Ergebnis des Zusammenpralls zweier divergierender Subventionsregime. Auf der Grundlage seiner Forschungsergebnisse versucht er eine Modellbildung von Subventionsregimen und staatlichen Unternehmen nach dem Sozialismus. Indem Wegenschimmel den Fokus nicht auf die sonst im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehenden Privatisierungsprozesse legt, sondern im Gegenteil auf solche Unternehmen, die während der Transformation in staatlicher Hand blieben, leistet er im Rahmen einer vergleichenden Unternehmensgeschichte auch einen eigenständigen Beitrag zu einer transdisziplinär arbeitenden historischen Transformationsforschung.

Die Studie überzeugt durch ihr umfassendes Forschungsdesign. Abgesehen von einer für wirtschaftshistorische Beiträge üblichen Analyse von Archivdokumenten bezieht Wegenschimmel auch Presseartikel sowie insgesamt 23 leitfadengestützte Interviews mit Zeitzeugen und Experten in seine Untersuchung mit ein. Dabei werden Mikro-, Meso- und Makroebene, also Unternehmen, Branche und Staat berücksichtigt. Zur Interpretation der sich verändernden Beziehungen zwischen den verschiedenen Akteuren wird auf Konzepte der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie sowie auf umfangreiche und viersprachige Sekundärliteratur aus Geschichts-, Wirtschafts- und Politikwissenschaft sowie Soziologie zurückgegriffen. Hier wird der disziplinenübergreifende Ansatz der Arbeit deutlich, die sich sowohl der Unternehmens- und somit Wirtschaftsgeschichte, als auch der historischen Transformationsforschung zuordnen lässt. Auch der relativ lange Untersuchungszeitraum von 1970 bis 2020 und damit die Einbeziehung von Spät- und Postsozialismus sowie Transformation und EU-Integration vermeidet die Reproduktion politischer Zäsuren, sondern versucht, Dynamiken und Pfadabhängigkeiten auf Unternehmensebene abzuleiten. Dabei scheinen die beiden Werften als Fallstudien ideal, und es verwundert geradezu, dass dieses Setting noch nicht Forschungsgegenstand geworden ist. Denn ähnlich der häufiger untersuchten Stahlindustrie hatte auch der Schiffbau eine privilegierte Stellung innerhalb der sozialistischen Schwerindustrie inne. Einerseits gehörten Werften zu den großen Arbeitgebern, andererseits wurden hier wertvolle Devisen erwirtschaftet. Damit lagen auch Versuche nahe, diese Privilegien in die Marktwirtschaft zu übertragen.

Die Studie gliedert sich in fünf Kapitel, die man mit den Schlagworten Subventionen, Staatseigentümer, Organisationsstrukturen, Legitimierungsversuche und Öffentlichkeit beschreiben könnte. Allerdings bleiben die Kapitelüberschriften zum Teil unklar, und auch die Inhalte der Kapitel sind nicht immer klar voneinander abgegrenzt, was die Orientierung beim Lesen erschwert. Darüber hinaus variieren die aus der Leitfrage abgeleiteten fünf Unterfragen in der Einleitung sowie den einzelnen Kapiteln. Umso hilfreicher sind die Zwischenfazits am Ende eines jeden Kapitels.

Für wirtschaftshistorische Beiträge unüblich ist das weitgehend fehlende Zahlenmaterial: Abgesehen von zwei Tabellen werden keine quantitativen Daten zur Illustration angeführt. Sicherlich beschränkt die verzerrende Preisbildung in Planwirtschaften die Aussagekraft von Geldbeträgen. Trotzdem wäre zumindest der Versuch einer übersichtlichen Darstellung von Staatssubventionen, Exporterlösen, Produktivität oder Konjunkturzahlen in längeren Zeitreihen hilfreich. Auch eine kurze Darstellung der gesamten Entwicklung beider Werften in Form eines Diagramms oder einer Zeittafel wäre nützlich gewesen, da die Chronologie durch viele Detailinformationen im Hauptteil undeutlich bleibt. Außerdem fällt auf, dass sich die Analyse schwerpunktmäßig auf die ausgewerteten Pressematerialien stützt, wohingegen auf die Archivdokumente und die eigens geführten Interviews seltener zurückgegriffen wird.

Insgesamt gelingt es Wegenschimmel, den Modus vivendi zwischen Werften und staatlichen Eigentümern sowohl im Spätsozialismus als auch in der Transformationsphase inklusive des jeweils kurzen privaten Interregnums herauszuarbeiten. Dieser bestand zusammengefasst darin, dass die untersuchten Werften auf verschiedene Weise immer wieder Subventionen vom Staat erzwangen: „In den mehrheitlich staatlichen Werften etablierte sich eine Verhandlungslinie zwischen Gewerkschaften und staatlichen Akteuren, die die Unternehmensleitung überflüssig machte. Erst der Beitritt beider Länder zur Europäischen Union brach mit dieser postsozialistischen Verhandlungskonstellation und verschob den Schwerpunkt in Richtung Brüssel“ (S. 192). Wegenschimmel unterscheidet folglich zwischen einem auf Fortbestand ausgerichteten „eingebettet-reproduktiven“ sowie einem auf Anpassung an Marktveränderungen ausgerichteten „kompetitiv-restrukturierenden“ Subventionsregime (S. 235). Deren Zusammenprall im Zuge des EU-Beitrittes beider Länder habe schließlich doch zum Zusammenbruch der dauerhaft subventionsbedürftigen Werften in Polen und Kroatien geführt.

Die Unfähigkeit des Staates als Eigentümer, das etablierte Subventionsregime in der Transformationsphase den marktwirtschaftlichen Bedürfnissen zumindest anzunähern, führt Wegenschimmel auf die Unentschlossenheit des Eigentümers gegenüber den Beschäftigten und deren Vertretern sowie auf die Vielzahl an Rollen zurück, in denen der postsozialistische Staat auftrat. Dazu zählten neben der erwähnten Eigentümerschaft die Rolle als Gesetzgeber, als Finanzierungspartner und Vermittler. Dabei kam es unweigerlich zu überlappenden Kompetenzen und Konflikten. Wegenschimmel bestätigt somit Untersuchungsergebnisse politikwissenschaftlicher Transformationsforscher, die Transformationsprobleme in postsozialistischen Ländern weniger im Erbe eines starken Staates, als vielmehr in der Schwäche des Staates sehen (S. 100).

Aus den fünf Kapiteln des Hauptteils der Arbeit leitet Peter Wegenschimmel schließlich vier Rahmenbedingungen für das Überleben der unrentablen Werften sowie ein zweiteiliges Modell für die Position staatlicher Unternehmen in einem „pfadabhängigen, eingebettet neoliberalen Produktionsregime“ (S. 237) ab. Bei den Rahmenbedingungen handelt es sich um defizitäre Eigentümerkontrolle, Messunsicherheit der Unternehmensleistung, Legitimierungsarbeit sowie multidimensionale Verflechtungen. Das auf den Faktoren Subventionsregime und Staatskapazität basierende Modell zeigt wiederum, „dass der spätsozialistische Staat zwar bereit war, strategische Unternehmen am Leben zu erhalten, aber nicht imstande war, die Modernisierung dieser Unternehmen voranzutreiben“ (S. 237). Allerdings hätte gerade die Modellbildung etwas ausführlicher hergeleitet werden müssen, um ganz klar zu werden. Zudem hätte es die Kohärenz des Argumentationsgangs unterstrichen, wenn aus jedem der fünf Kapitel auch eine Kategorie oder Rahmenbedingung für das Überleben der Werften hervorgegangen wäre. Hier wird die Schwachstelle der Arbeit sichtbar, die in einer gewissen argumentativen Diffusität der Kapitel des Hauptteils liegt. Ein stringenteres Vorgehen auf der Basis quantitativer Empirie wäre hier hilfreich gewesen. Dennoch machen die Stärken der Arbeit, zu denen insbesondere das klare Forschungsdesign, viele anknüpfungsfähige Gedanken sowie die versuchte Modellbildung zählen, Zombiewerften oder Hungerkünstler? zu einer gewinnbringenden Lektüre.

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