M. Wildt: Generation des Unbedingten

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Titel
Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes


Autor(en)
Wildt, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
964 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Benöhr, Hochschule für Öffentliche Verwaltung/Universität Bremen

Bereits der Titel von Michael Wildts Buch lässt aufmerken, denn “Generation des Unbedingten“ ist weder eingängig noch leicht verständlich. Gleichwohl versteckt sich hinter der sperrigen Wortschöpfung eine Studie, die ihres Gleichen sucht. Auf über 900 Seiten zeichnet der Autor ein faktenreiches, komprimiertes aber trotzdem jederzeit vorzüglich lesbares Bild einer Generation, die sich „unbedingt“ in den Dienst der Sache des Reichssicherheitshauptamtes und damit der Judenvernichtung stellte. Der Gang der Untersuchung spannt einen weiten Bogen von der „Weltanschauung“ dieser Generation über die „Institution“ des Reichssicherheitshauptamtes, den „Krieg“ bis zur „Rückkehr in die Zivilgesellschaft“. Damit knüpft der Verfasser zwar einerseits nahtlos an die Forschungsarbeiten von Ulrich Herbert über Werner Best 1 und Lutz Hachmeister über Alfred Six 2 an, gleichwohl geht Michael Wildts Studie weit darüber hinaus. Sie vermittelt einen Gesamtüberblick über eine Generation von „Weltanschauungstätern“, die zur Elite des Reichssicherheitshauptamtes gehörte.

Das Reichssicherheitshauptamt wurde im Jahre 1939 errichtet und bestand aus der Geheimen Staatspolizei, Kriminalpolizei und dem SD, dem Sicherheitsdienst der SS. Unter ihrem ersten Leiter Reinhard Heydrich wurde diese Institution zur Zentrale einer nationalsozialistischen Polizei, die ihre historische Berufung in der „rassischen Reinhaltung des deutschen Volkskörpers“ sah. Getragen wurde dieses Amt von der „Generation des Unbedingten“, die die Jahrgänge zwischen 1900 und 1910 umfasste (S. 52). Ihre „Unbedingtheit“ zeigt Michael Wildt in allen ihren Facetten. Zugleich gelingt es ihm – und das ist umso bemerkenswerter – die verschiedenen „Unbedingtheiten“ im Denken wie im Handeln auf ihren Ausgangspunkt zurückzuführen, nämlich der humanitären „Entgrenzung“ einer ganzen Generation.

Wie Michael Wildt treffsicher analysiert, hatte diese „Entgrenzung“ einen ihrer Höhepunkte an den deutschen Universitäten in den zwanziger Jahren (S. 89ff., 850f.). Zu diesem Zeitpunkt drängte eine Generation an die Hochschulen, die den Krieg als „Spiel“ erlebt hatte. Daraus resultierte ein nicht zu unterschätzender Neidfaktor auf die „Schützengrabengeneration“ verbunden mit einer zum Teil hasserfüllten Antipathie gegen die Weimarer Republik.

Diese Ablehnung zeigte sich nicht zuletzt in der Zugehörigkeit einer Reihe späterer Mitglieder des Reichssicherheitshauptamtes zu paramilitärischen Organisationen. Ein prominentes Beispiel hierfür ist der „Jungdeutsche Orden“, der kurz nach dem ersten Weltkrieg von Artur Mahraun, Oberleutnant a.D., gegründet wurde.(S. 57) Nachdem er zunächst die militärische Organisationsform eines Freikorps und eines Schutzverbandes durchlaufen hatte, avancierte er schließlich in verstärktem Maße zu einer politischen Organisation. Hierfür legte insbesondere Artur Mahraun den entscheidenden Grundstein, als er im Jahre 1927 das „Jungdeutsche Manifest“ herausgab 3. Danach sollte der jungdeutsche Volksstaat die „parteiische Demokratie überwinden und den „Staatsbürger“ der Zukunft“ schaffen 4. Da Artur Mahraun ein entschiedener Gegner des Parlamentarismus war, ruhte der neu zu schaffende Staat im Wesentlichen auf zwei Säulen, nämlich der Gemeinschaft und dem Führertum 5. Deutlich erkennbar ist in seinen Schriften die Tendenz zum „autoritären Führerstaat“, wobei er sich einerseits von der „völkischen Diktatur“ klar abgrenzt 6. Andererseits konnten laut Verfassung des „Jungdeutschen Ordens“ von 1923 nur „deutschblütige Männer“ aufgenommen werden und das Ziel des Ordens, „die deutsche Volksgemeinschaft auf christlicher Grundlage“ 7, wurde durch antisemitische Zitate eines katholischen Geistlichen bekräftigt 8. Gleichwohl wahrte man - und hier ist Michael Wildt zuzustimmen - die bürgerliche Fassade. So trat etwa die theologische Zeitschrift „Der Vormarsch. Unabhängige Monatsschrift für reformatorisches Christentum“ für das Gedankengut des konservativen religiösen Flügels des Jungdeutschen Ordens ein 9. Dass ausgerechnet ein Dietrich Bonhoeffer bis zuletzt zu den Mitherausgebern zählte 10, unterstreicht zwar in signifikanter Weise die These des Verfassers, aber lässt doch aufhorchen, denn offenbar bestand hier eine „Grauzone“ 11: Selbstverständlich vertrat Artur Mahraun antisemitische Positionen aber zugleich fußte sein Denken auf der neuidealistischen Lebensphilosophie eines Theodor Litt und nicht zuletzt auf dem Staatsdenken eines Rudolf Smend. Selbst bei diesem renommierten Staats- und Kirchenrechtler finden sich antisemitische Ressentiments 12, ohne dass man gerade ihn als Antisemiten bezeichnen könnte und möchte. Wie schmal der Grat war, auf dem manch einer wandelte und schließlich abstürzte, wird daher nicht zuletzt an Reinhard Höhn deutlich, der als Schüler von Rudolf Smend und Mitglied des „Jungdeutschen Ordens“ eine führende Funktion im Reichssicherheitshauptamt innehatte (S.57 RN. 44).

Außer Frage steht mittlerweile, dass die antidemokratische Gemengelage, welche gespeist wurde durch den Abscheu gegenüber der „Judenrepublik“, an mehr als einer deutschen Universität einen idealen Nährboden fand (S. 852). Insbesondere die politischen Verhältnisse an der renommierten Tübinger Universität sind hierfür exemplarisch (S. 89). Bereits Anfang der zwanziger Jahre trat eine Art „Selbstbeschränkung“ in Kraft, die in ihren Auswirkungen sowohl jüdische Studierende als auch jüdische Professoren traf. So schreckten nationalsozialistische Studenten selbst vor der Machtergreifung nicht vor direkten Drohungen gegen jüdische und jüdischstämmige Professoren zurück (S. 97). Im März 1932 erklärte der nationalsozialistische Jurastudent (sic!) Alfons Gerometta, dass sich die hiesige Tübinger Studentenschaft des Professors für Alte Geschichte, Richard Laqueur, „mit großer Vorliebe einmal annehmen“ (S. 97 m.w.N.) werde. Geromettas Strafe war vergleichsweise gering, im April 1933 wurde die Disziplinarstrafe aufgehoben und er avancierte alsbald zum Landesführer des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes (S. 97).

Aus diesen Kreisen sollte sich ein Großteil der späteren Elite des Reichssicherheitshauptamtes rekrutieren. Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung wurden diese jungen Männer förmlich in Positionen katapultiert, deren Machtfülle kaum zu erahnen war. Hier bot sich die Gelegenheit den bohrenden Stachel der verpassten Bewährung auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkrieges durch eigene Taten zu kompensieren (S. 855).

Notwendigerweise folgte der bereits zu Tage tretenden „Entgrenzung“ im Denken eine „Entgrenzung“ im Handeln. Diese manifestierte sich nicht zuletzt in der Zahl der Menschen, die das Reichssicherheitshauptamt als „Gegner“ und „Feinde“ definierte. Fielen 1939 mit der Eroberung Polens über drei Millionen Menschen in diese Kategorie, so hatte sich die Zahl bis zur „Wannsee-Konferenz“ im Jahre 1942 mehr als verdreifacht und umfasste die geplante Vernichtung von elf Millionen Menschen.

Zwangsläufig äußerte sich diese „Entgrenzung“ auch in juristischer Sicht. Im Oktober 1939 entschied Hitler, dass die SS und Polizei aus der Wehrmachts- bzw. der ordentlichen Gerichtsbarkeit herausgelöst werden sollte und die Einrichtung einer eigenen Sondergerichtsbarkeit in Strafsachen für Angehörige der Waffen-SS, der SS-Totenkopfverbände und der Angehörigen der Polizeiverbände „bei besonderem Einsatz“ zu erfolgen habe. Damit wurde letztlich die Sicherheitspolizei und der SD von der Kontrolle der regulären Kriegsgerichte der Wehrmacht „entgrenzt“ (S. 476f.). Die Jahre 1940/41 führten zu einer drastischen Radikalisierung der nationalsozialistischen Besatzungs- und Verfolgungspolitik, die schließlich im Massenmord gipfelte.

Dass dabei Teile der Führungselite des Reichssicherheitshauptamtes die eigene „Entgrenzung“ wiederum in Gewaltorgien auslebten, stellt Michael Wildt in seiner Fallstudie des Juristen Erich Ehrlinger heraus. Bereits als Student hisste er über der Tübinger Universität die Hakenkreuzflagge. Sodann, als ausgebildeter Jurist, war er zunächst in der SA aktiv, um dann zum SD zu wechseln (S. 92, 167 ff.). In seinem Dienstleistungszeugnis als „der Typ des unbeirrbaren, überzeugten, kompromisslosen und vorwärtsdrängenden nationalsozialistischen Kämpfers“ (S. 168 m.w.N.) charakterisiert, avancierte der Akademiker schnell zu einem „der erfahrensten Kommandoführer unter dem Führungspersonal der Einsatzgruppe.“ (S. 591). So griff er in der Schlucht von Babij Jar selber zur Waffe, als „die Erschießung seiner Auffassung nach zu langsam vonstatten ging“ (S. 596). Andernorts zog er seine Pistole und schoss abrupt eine ganzes Magazin Munition ungezielt in eine Menge von Häftlingen, die sich nach einem Fluchtversuch eines Mithäftlings in Formation aufzustellen hatten (S. 597). Deutlich wird: Ehrlinger war bei weitem kein „Schreibtischtäter“. Vielmehr scheint er dem Prototyp von Reinhard Heydrichs Vorstellung eines Mitgliedes der „kämpfenden Verwaltung“ entsprochen zu haben. Dennoch ist Ehrlinger im Jahr 1961 „nur“ wegen Beihilfe zum Mord in 1045 Fällen und versuchtem Mord in einem Fall zu insgesamt zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Unter welchen Umständen es sich ergab, dass er seine Strafe nie hat antreten müssen und inwieweit mit gekonnten juristischen Schachzügen Ehrlingers Taten als verjährt eingestuft wurden, ist mehr als lehrreich und wirft ein bezeichnendes – wenn nicht erschreckendes Bild – auf die Nachkriegsjustiz (S. 597 , insb. FN. 336, S. 821 ff.).

So vermag es auch nicht zu verwundern, dass der Autor am Ende des Buches die brisante Frage stellt, ob Männer wie Ehrlinger, allesamt akademisch geschult und zu einem nicht geringen Teil promoviert, Intellektuelle waren. Anstatt einer leichtfertigen Antwort, die, wie selbstverständlich in einem „nein“ bestehen würde, fragt Michael Wildt weiter, nämlich „ob nicht eben diese Frage ein ungewohntes, aber nötiges Licht auf das Problem wirft, wie die Rolle und Praxis von Intellektuellen, wie ihr Verhältnis zur Macht im 20. Jahrhundert zu beurteilen ist.“ (S. 867f.).

In der Tat: Michael Wildts Buch wiegt schwer – und das in mehrfacher Hinsicht.

Anmerkungen:
1 Herbert, Ulrich: Best. Biografische Studie über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903-1989, Bonn 1996.
2 Hachmeister, Lutz: Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998.
3 Mahraun, Artur: Das Jungdeutsche Manifest, 2. Auflage, Berlin o.J.
4 Posse, Ernst H.: Die politischen Kampfbünde Deutschlands, Berlin 1930, S. 56f.
5 Hornung, Klaus: Der Jungdeutsche Orden, Düsseldorf 1958, S. 80.
6 Ebd., S. 81.
7 Schlund, Erhard: Der Jungdeutsche Orden, München 1924, S. 23.
8 Ebd., S. 30, 31.
9 Ruprecht, Günther: Die ersten Jahre der „Jungen Kirche“, in: Junge Kirche, Vol. 44 (1983), S. 268-271 ff. (S. 269). Ruprechts Ansicht wird bestätigt durch den Aufsatz von Fritz Söhlmann im letzten Heft des „Vormarsch“, in dem er auf die ursprünglich bestehende, im Spätsommer 1933 jedoch abgerissene Verbindung zum „Jungdeutschen Orden“ hinweist, vgl. Söhlmann, Fritz: Zum letzten Heft des „Vormarsch“, in: Der Vormarsch, 3. Jahrgang (1933), Heft 9, S. 241-244.
10 Noch in der letzten Ausgabe des „Vormarsch“ (3. Jahrgang (1933), Heft 9, S. 240) erscheint „Lic. Dietrich Bonhoeffer Berlin-Grunewald“ als „Ständiger Mitarbeiter und Mitherausgeber“.
11 Daher ist Michael Wildt auch nur zuzustimmen, wenn er auf die „Forschungslücke“ im Hinblick auf den „Jungdeutschen Orden“ explizit hinweist (S. 57 FN. 44).
12 Smend, Rudolf: Verfassung und Verfassungsrecht, in: ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 3. erweiterte Auflage, Berlin 1994, S. 144 (insb. FN. 12 – mit dem Hinweis auf die „Ostjuden“).

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