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Titel
Der Große Hunger. Hungersnöte unter Stalin und Mao


Autor(en)
Wemheuer, Felix
Erschienen
Berlin 2012: Rotbuch Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 19,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rudolf Mark, Geschichte Osteuropas, Helmut Schmidt Universität Hamburg

Der Wiener Sinologe Felix Wemheuer möchte mit seinem Buch den Leser auf eine „spannende historische Reise“ (S. 17) führen, die mit dem russischen Bürgerkrieg 1918 beginnt und mit der großen Hungersnot unter Mao endet. Dabei will er der Frage nachgehen, warum es im Sozialismus so viele Hungersnöte gegeben habe, und unter diesem Gesichtspunkt die Geschichte der Sowjetunion und Chinas neu schreiben. Die Arbeit soll zum einen die Verantwortung der Führer der kommunistischen Parteien, Lenin, Stalin und Mao Zedong, bei den Hungersnöten klären helfen und die von ihnen zur Überwindung ergriffenen Maßnahmen auf Effektivität überprüfen. Zum Zweiten will Wemheuer die Überlebensstrategien der einfachen Leute in den Städten und auf dem Land beleuchten, da diese nicht nur passive Opfer gewesen seien und nicht alle Bevölkerungsgruppen in gleichem Maße von den Hungerkatastrophen betroffen waren. Schließlich geht es in dem Buch auch um die Frage von Genozid in der Ukraine und die „’Bösartigkeit’ der Kommunisten oder ihre ideologische Verblendung“, auf die „viele Forscher“ (S. 22) die Hungersnöte zurückführten. Mit dem vorliegenden Buch soll dagegen den Opfern wie dem komplexen Phänomen insgesamt mehr Gerechtigkeit widerfahren.

Die „vielen Forscher“ werden allerdings nicht identifiziert, denn auf eine Beschäftigung mit den Ergebnissen der bisherigen Forschung zum Thema hat der Verfasser verzichtet; wohl auch deshalb, weil das vorliegende Buch offenkundig für einen größeren Leserkreis gedacht und konzipiert wurde. Daher beginnt Wemheuer mit einer eher Reportage ähnlichen journalistischen Darstellung seiner Eindrücke, die er während eines Besuch in der zentralchinesischen Provinz Henan aus den Erzählungen und Erinnerungen von Dorfbewohnern an die Hungersnot Ende der 1950er-Jahre gewonnen hat. In zwei Hauptteilen sind dann die Hungersnöte in der Sowjetunion und in Maos China Gegenstand der Untersuchung.

Die sowjetische Geschichte der Hungerkatastrophen wird in mehrere Epochen und Zeitabschnitte untergliedert. Sie beginnt mit dem Kampf gegen den Hunger in den Städten während des Bürgerkrieges und der amerikanischen Hungerhilfe 1921, umfasst den Holodomor 1931–1933, den Hungertod als „Massenmord der deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg“ sowie die „Hungersnot nach dem Sieg“ 1946/47. Gestützt auf die einschlägige deutsch- und englischsprachige Literatur versucht Wemheuer zu zeigen, dass in Russland seit 1917 Lebensmittelknappheit herrschte, die durch die bauernfeindliche Politik der Bol’ševiki im Bürgerkrieg und Dürren verstärkt zu Hungersnöten führte. Positiv hebt er hervor, dass die Bol’ševiki aufgrund ihrer technologiegläubigen Bewunderung der USA die Hoover-Hilfe trotz inneren Vorbehalts akzeptierten und so zu deren raschen Überwindung beigetragen haben. Ganz anders im Falle des Holodomors in der Sowjetukraine, bei den Kasachen und in anderen Teilen der UdSSR. Hier wird mit einer etwas oberflächlichen Argumentation die These unterstützt, dass die Hungersnot in der Ukraine „Teil einer gesamtsowjetischen Tragödie“ (S. 94) gewesen sei, eine Formulierung die eine Unausweichlichkeit unterstellt, die den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht wird. Auch die Behauptung, dass Stalin die Hungersnot zu keinem Schlag gegen die Ukrainer nutzen wollte, weil ethnisch-nationale Implikationen damals keine Rolle gespielt hätten, lässt sich zumindest mit einem Fragezeichen versehen.

Der Hungerstod von Millionen Menschen während des Zweiten Weltkriegs als Folge des von der deutschen Führung geplanten Massenmords an der sowjetischen Bevölkerung wird von keiner Seite mehr in Zweifel gezogen. Wemheuers Untersuchung konzentriert sich daher auf die Frage, ob die sowjetische Führung unter Stalin alles unternommen habe, um etwa die Bevölkerung des belagerten Leningrads vor der Vernichtung zu retten und inwiefern Parteikader Privilegien genossen hätten. Auch hier sieht der Verfasser neben manchen Schattenseiten die Parteiführung eher entlastet. Dagegen macht er für die Hungersnot in der Ukraine und Moldova nach dem Krieg neben Zerstörungen, Arbeitskräftemangel und Dürre die Unzulänglichkeiten von Regierungsbehörden und die zahlreichen Probleme verantwortlich, die durch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in den erst kurz zuvor an die Sowjetunion gefallenen Gebieten hervorgerufen worden waren. Gleichzeitig verweist er auf die internationale Lage zu Beginn des Kalten Kriegs, die sozusagen Stalin gezwungen habe, beim Getreideexport nach Mitteleuropa mit der amerikanischen Supermacht zu konkurrieren. Allerdings räumt Wemheuer ein, dass Stalin damit wie auch schon früher demonstriert habe, „dass die Rettung von Menschenleben nicht ganz oben auf seiner Prioritätenliste stand“ (S. 138). Dies änderte sich unter seinen Nachfolgern, die aus der Geschichte der Hungersnöte gelernt hätten und durch den „Ausbau des ländlichen Sozialstaates“ in den 1960er- und 1970er-Jahren die Voraussetzung zur Überwindung des Hungers geschaffen hätten.

Im zweiten Teil ist die große Hungersnot in China Gegenstand der Untersuchung. Auch hier wurde auf eine systematische Übersicht zum Stand der Forschung verzichtet und stattdessen persönliche Begegnungen an der Universität und eine Skizze zum allgemeinen Umgang mit dem Thema in China als Einstieg gewählt. In den nachfolgenden Kapiteln werden die chinesische Ernährungspolitik seit 1949 im Kontext der Kooperation mit der Sowjetunion analysiert, der Große Sprung nach vorn als utopischer Aufbruchsversuch unter Mao charakterisiert, die Hungersnot in ihren Erscheinungsformen und der Überlebenskampf auf den Dörfern dargestellt. Anschließend werden die Maßnahmen zur Überwindung der Hungerkatastrophe kritisch beleuchtet. Dabei geht es Wemheuer vor allem auch darum, deutlich zu machen, wie schon in den frühen Jahren die „sozialen und geographischen Hierarchien im Verteilungssystem“ (S. 151) festgelegt wurden, um die Versorgung als ein Instrument staatlicher Kontrolle zu nutzen, Loyalität zu Partei und Führung zu sanktionieren und als Steuerungsmechanismus für Experimente und Entwicklungswege zu dienen. Das erschreckende Ergebnis waren mindestens 32,5 Millionen Tote, wobei die höchsten Schätzungen sich auf bis zu 45 Millionen belaufen. Nicht alle der Umgekommenen sind verhungert, einige Millionen Menschen wurden auch einfach erschlagen oder haben Selbstmord begangen. Wie in der Sowjetunion wurden auch in China nicht alle Regionen gleichermaßen von der Katastrophe heimgesucht – die peripheren Provinzen Tibet, Xinjiang und Innere Mongolei blieben vom Massensterben weitgehend verschont. Es waren vor allem die traditionellen „Kornkammern“, die Überschüsse produzierenden Gebiete, in der die Bevölkerung verhungern musste, weil die Zentralregierung ihr das Getreide entzog, um die als Industrialisierungs- und Modernisierungsagenturen Priorität genießenden Städte zu versorgen.

Die zahlreichen Faktoren, die zu der Hungersnot während des Großen Sprungs beigetragen haben – darunter auch geschönte Ernteergebnisse und Rücksichtslosigkeit der Provinzbehörden gegenüber der ihnen anvertrauten Bevölkerung – werden in den entsprechenden Kapiteln überzeugend herausgearbeitet und dargestellt. Gleiches gilt auch für die Überlebensstrategien und Anpassungsleistungen der hungernden Bauern, über die sich Wemheuer auch von Betroffenen hat berichten lassen. In diesen Kapiteln wird zudem deutlich, dass er sich mit den chinesischen Verhältnissen intensiv auseinandergesetzt hat und um eine Darstellung sine ira et studio bemüht ist.

Im abschließenden Kapitel finden Leserin und Leser einen resümierenden Blick auf das Dargestellte. Dabei wird zu Recht betont, dass es nicht nur in der Sowjetunion und China Hungersnöte gegeben habe. Außerdem werden Hintergründe und entscheidende Faktoren, die zur Auslösung der untersuchten Katastrophen geführt hatten, von Wemheuer klar benannt. Die größte Schuld für die Hungersnöte 1931–1933 und 1959–1961 trugen demnach die „Regierungen von Stalin und Mao“ (S. 219), wie der Verfasser zu Recht schreibt. Allerdings neigt er an einigen Stellen seiner Darstellung dazu, die Handlungsweise der Hauptakteure Stalin und Mao zwar nicht zu entschuldigen, sie aber zu historisieren, durch allgemein menschliches Fehlverhalten zu erklären oder auch als einer übergeordneten Rationalität folgend in ihrer abnormen Dimension zu reduzieren. Vor allem auch mit Blick auf Stalin hätte eine Beschäftigung mit der in der Osteuropaforschung momentan geführten Diskussion über Stalin und Gewaltherrschaft nützlich sein können.

Dessen ungeachtet kann man das Buch, das mit einer sehr schmalen Literaturliste, aber einigen den Text illustrierenden Fotos ausgestattet ist, als einen ersten Einstieg in das Thema empfehlen.

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