M. Sziede u.a. (Hrsg.): Von der Dämonologie

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Titel
Von der Dämonologie zum Unbewussten. Die Transformation der Anthropologie um 1800


Herausgeber
Sziede, Maren; Zander, Helmut
Erschienen
Oldenburg 2014: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
XXII, 300 S.
Preis
€ 54,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Seelig, Marburg

Mit dem vorliegenden Band wird eine neue Reihe namens „Okkulte Moderne. Beiträge zur Nichthegemonialen Innovation“ eröffnet. Die Reihe geht aus der DFG-Paketgruppe „Gesellschaftliche Innovation durch ‚nichthegemoniale‘ Wissensproduktion. ,Okkulte’ Phänomene zwischen Mediengeschichte, Kulturtransfer und Wissenschaft, 1770 bis 1970“ hervor, die bisher mit kleineren Publikationen und Tagungen an die Öffentlichkeit getreten ist1. Nun sollen mit dem Eröffnungsband einem breiteren Publikum „erste Ergebnisse zur Diskussion“ gestellt werden (S. VII). Die Reihe versteht sich keineswegs als exklusives Forum zur Publikation der eigenen Forschungsergebnisse, sondern möchte auch anderen Forscher/innen zur Präsentation ihrer Befunde dienen. Im Mittelpunkt der Reihe und des Forschungsverbunds steht die Frage nach der Bedeutung „nichthegemonialer“ Wissensbestände – dabei besonders okkultistisch-esoterischer Art – für die Konstitution und Transformation der (europäischen) Moderne. Es soll untersucht werden, wie sich die vermeintlichen Gegensätze ,Okkultismus‘ und ,Moderne‘ historisch miteinander verbanden und wie sich ihre Verbindung wissenschaftlich fassen lässt (S. XXI). Ganz in diesem Zeichen steht der zu besprechende Sammelband.

Der Band thematisiert die „Transformation der Anthropologie um 1800“, indem er den Wandel religiös-transzendenter Deutungsgebäude wie der Dämonologie in den Blick nimmt. Er formuliert die These, dass seit dem Ende des 18. Jahrhunderts immer weniger „externe Faktoren“ wie „Teufel, Dämonen, Geister oder Hexen“ für außergewöhnliche Phänomene verantwortlich gemacht worden seien, sondern zunehmend „interne Faktoren“, etwa „geistige oder materielle innere Kräfte“ (S. XIV). So lasse sich eine „Immanentisierung“ der Anthropologie und Kosmologie (S. XVII) feststellen, durch die einst als außermenschlich und überweltlich verstandene Ursachen fortan mit „innerweltlichen und innermenschlichen Kräften“ (S. XIV) erklärt worden seien. Dennoch seien die alten Deutungen nicht durch völlig neue ersetzt worden: Anstatt von radikalen Brüchen müsse eher von Kontinuitäten und Transformationen gesprochen werden, in denen alte, ‚vormoderne‘ Traditionsbestände aufgehoben worden seien. Mit einem Begriff aus der Adelsgeschichte können sie, geringfügig variiert, als „neu-alt Konstruktionen“ (Ewald Frie) bezeichnet werden2. Da der Sammelband „Esoterik, Okkultismus oder Spiritismus als Teil der Aufklärung über die Moderne“ (S. VII) versteht, möchte er der „Bedeutung nicht hegemonialer Gruppen als Innovationsfaktoren“ nachgehen, durch die sowohl eine „okkulte Moderne“ als auch ein „moderner Okkultismus“ (S. VIII) entstanden seien. Somit richtet sich die Aufmerksamkeit letztlich auf die „,okkulten‘ Dimensionen der ,Moderne‘“ (S. XIV). Indem alle Beiträge mehr oder weniger stark diesen Fragen und Thesen nachgehen, zieht sich ein roter Faden durch den gesamten Band – ein Phänomen, das für Sammelbände nicht immer selbstverständlich ist.

Die Beiträge lassen sich in zwei Themengebiete einteilen: (1) Mesmerismus bzw. „animalischer Magnetismus“ sowie (2) Dämonologie, Hexereidiskurse und christliche Mystik. Lediglich ein Aufsatz weicht von diesem Schema ab, indem Christian Kassung thematisiert, wie sich physikalische Forschungen zur Elektrizität und ihre wissenschaftlichen Apparate der Selbstschreiber auf okkultistische Geistervorstellungen ausübten. Seit der Erforschung der Elektrizität, so Kassung, konnten Geister bzw. „Gespenster“ in einer immanenten Interpretation als elektrische Entitäten erklärt werden, die keiner weiteren Medien als sich selbst bedürften.

Friedemann Stengel untersucht, wie Emanuel Swedenborg ganz im Sinne aufklärerisch-rationalistischer Diskurse Geister durch weltimmanente Fludia ersetzte, in mesmeristischen und somnambulistischen Praktiken jedoch zum Ideengeber für spiritistische Ansätze uminterpretiert wurde. So wurde der Swedenborgianismus entgegen der ursprünglichen Intention seines Namensgebers zu einer Wurzel des Spiritismus im 19. Jahrhundert.

Dass weder Franz Anton Memser noch der Exorzist Johann Joseph Gaßner zu Gründervätern der modernen Psychotherapie stilisiert werden können, zeigt Karl Baier in seiner Abhandlung über den Disput beider Protagonisten. Obwohl bei beiden Momente späterer psychologischer Ansätze zu finden seien – bei Gaßner etwa eine Art autogenen Trainings –, seien sie noch vor der epochalen Wende zur Psychotherapie anzusiedeln. Da jedoch zu derselben Zeit die Romantik diese Schwelle bereits überschritten habe, zeige sich einmal mehr die Unmöglichkeit, Epochenumbrüche an exakten Zäsuren festzumachen.

Den Wandel der Welt- und Menschenbilder um 1800 durch nichthegemoniale Wissensproduktion analysiert Maren Sziede anhand Mesmers Vorstellung vom „sechsten“ oder „inneren Sinn“. Sie interpretiert den sechsten Sinn als „Transformation nach innen“, durch die eine Immanentisierung, Individualisierung und Biologisierung der Anthropologie stattgefunden habe, die auch über spätere Konzepte des Unbewussten ihren Weg in hegemoniale Diskurse gefunden habe.

Tilman Hannemann untersucht die Praxis des Mesmerismus. Er führt am Beispiel wissenschaftlich-medizinischer und religiös-spiritistischer Anwendungsweisen vor, wie sehr bei aller Trennungsbemühung mancher Protagonisten Naturwissenschaften und Medizin einerseits sowie Religion und Spiritismus andererseits miteinander verflochten waren.

Auf Genderaspekte geht Nicole Edelman in ihrem Beitrag ein. Sie zeichnet das ambivalente Verhältnis zwischen männlichen Magnetiseuren und weiblichen Somnambulen nach, das die Frauen zum einen in patriarchale Abhängigkeit von den Therapeuten gebracht und ihnen bestimmte Rollen etwa als fragile und sensible Frauen zugewiesen habe, ihnen zum anderen aber auch Handlungsspielräume geboten habe, um eigenen Interessen – zum Beispiel dem Beruf der Hellseherin – nachzugehen. Zudem weist Edelman darauf hin, dass mit der Figur der bzw. des Somnambulen traditionelle Vorstellungen von Hellsehen und Heilen in gewandelter Form in der Moderne überlebten.

Jean-Claude Wolf behandelt, inwiefern Kants Transzendentalphilosophie den Mesmerismus und letztlich auch andere okkultistische Strömungen des 19. Jahrhunderts vor die Herausforderung stellte, neue Wege zum „Ding an sich“ bzw. zu einer „höheren Erkenntnis“ zu finden. Damit habe sie indirekt zur „Rettung“ religiöser und okkulter Phänomene beigetragen.

Am Wandel der Hexenvorstellungen um 1800 betrachtet Kathrin Utz Tremp, wie Hexen zunehmend weltimmanent gedeutet wurden, indem an die Stelle des Wirkens von Teufeln und Dämonen innere Kräfte geistiger oder körperlich-materieller Art getreten seien. Aus der frühneuzeitlichen „Prozesshexe“ des Teufelspaktes sei so die moderne „Sagenhexe“ interner okkulter Qualitäten geworden.

Dem Wandel der Hexereidiskurse geht auch Johannes Dillinger nach, indem er untersucht, welche Deutungen von Hexen sich nach dem Ende der Hexenverfolgung etablierten. Das Ende der Verfolgung habe nicht das Ende der klassischen Dämonologie bedeutet, denn nun seien Hexerei und Magie als Formen des Betrugs, des Paganismus, der Volksmedizin oder der Geisteskrankheit interpretiert worden, in denen durchweg alte Vorstellungen aufgenommen und in neue Kontexte übersetzt worden sein.

Auch Martina Neumeyer zeigt, dass die Dämonologie im 19. Jahrhundert nicht plötzlich ausstarb. In den 1830er- und 1840er-Jahren arbeitete Joseph Görres eine christliche Mystik aus, in der auch traditionelle Aspekte des Wunder- und Dämonenglaubens Platz fanden. Obwohl sich die Mystik zu Görres‘ Zeiten durchaus einiger Beliebtheit erfreut habe, sei sein Werk jedoch kaum rezipiert worden.

In der Wissenschaft herrscht gemeinhin die These vor, religiöse Interpretationen der menschlichen Seele seien im 19. Jahrhundert sukzessive durch psychologische Deutungen ersetzt worden. Demgegenüber versucht Stephanie Gripentrog zu zeigen, dass die Psychologie während des gesamten 19. Jahrhunderts mit der Religion verflochten geblieben sei. Mesmerismus und Hypnose seien wegen ihrer Praktiken – unter anderem des mesmeristischen Handauflegens – stets unter Religionsverdacht gestellt worden, so dass sich auch noch Sigmund Freud genötigt sah, die Psychoanalyse gegen den Vorwurf des Mystizismus zu verteidigen.

Sabine Haupt untersucht die literarische Rezeption des Mesmerismus in der Romantik. Sie stellt die These auf, dass mesmeristische und galvinistische Vorstellungen von einer vitalistischen Lebenskraft den Romantikern bei der Ausarbeitung ihres Geniekonzepts behilflich gewesen seien, indem sie einen Transfer „zwischen älteren, transzendenten und modernen, immanenten Kreativitäts- und Inspirationstheorien“ (S. 279) ermöglicht hätten.

Insgesamt gelingt es dem Sammelband, die eingangs beschriebenen Thesen empirisch zu untermauern. Es wird deutlich, dass es sich bei den untersuchten Gegenständen durchweg um Hybride handelte, die sich zwischen (im Sinne der postkolonialen Terminologie in-between) Religion und Wissenschaft, Transzendenz und Immanenz, Moderne und ‚Vormoderne‘ befanden. Alte Traditionsbestände wurden in neue Kontexte übersetzt, so dass sich wahrlich eine „okkulte Moderne“ eigener Prägung ergab, die es in ihren Konturen noch weiter zu erforschen gilt. Dafür bietet die neue Reihe nun ein Forum.

Anmerkungen:
1 <http://www.okkultemoderne.phil.uni-siegen.de/>; Michael Seelig: Tagungsbericht zu: Okkultismus im Gehäuse. Institutionalisierung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Paranormalen im 20. Jahrhundert im internationalen Vergleich, Freiburg i.Br. 2014, in: H-Soz-Kult, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5728> (10.06.2015).
2 Ewald Frie, Adelsgeschichte des 19. Jahrhunderts? Eine Skizze, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 398–415, hier S. 415.

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