Cover
Titel
Werben für Europa. Die mediale Konstruktion europäischer Identität durch Europafilme


Herausgeber
Clemens, Gabriele
Erschienen
Paderborn 2016: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
620 S., 595 s/w Abb.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ariane Brill, Kloster Lehnin

Die verschiedenen Deutungen Europas sowie die Herausbildung eines europäischen „Wir-Gefühls“ beschäftigt die Forschung seit nunmehr zwei Jahrzehnten in besonderem Maße. Während Historiker, Politikwissenschaftler und Soziologen nach gemeinsamen Normen, Werten und kollektiven Erfahrungen suchen, geht das Europa der Europäischen Union (EU) seinen eigenen, durchaus konfliktreichen Weg. Schlagzeilen wie „Europa in der Krise“ begleiten den Prozess der europäischen Integration nicht erst in den vergangenen zehn Jahren. Die Osterweiterung, hohe Verschuldungen einzelner Staaten, Währungskrisen und die sogenannte Flüchtlingskrise haben die Kritik an der EU und der Öffnung der nationalen Grenzen im Schengen-Raum jedoch deutlich potenziert. Der von Gabriele Clemens herausgegebene Band bezieht sich zwar auf die mediale Konstruktion europäischer Identität in der Nachkriegszeit, ein „Werben für Europa“ erscheint allerdings auch in der Gegenwart dringlicher als je zuvor.

Das Buch reiht sich in eine Vielzahl an Studien ein, die sich mit der Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit bzw. mit durch die Medien konstruierten Europavorstellungen nach 1945 beschäftigen. Anders als die Printmedien wurde der Film als Teil der europäischen Öffentlichkeitsarbeit zuvor jedoch kaum erschlossen.1 Gabriele Clemens und ihre Mitarbeiter/innen legen deswegen mit ihren im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Projekts erzielten Ergebnissen ein Standardwerk vor.

In dreizehn ausführlichen Beiträgen wird der Frage nachgegangen, inwiefern anhand des Films die Konstruktion einer europäischen Identität vorangetrieben werden sollte und welche – sowohl realen als auch metaphorischen – Europabilder für diesen Zweck genutzt wurden. Quellengrundlage bilden dabei sogenannte „Europafilme“, die gezielt den europäischen Einigungsgedanken fördern sollten und sich an alle Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bzw. von dessen Vorläufer, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), wandten. Dabei handelte es sich zumeist um zehn- bis 30-minütige Dokumentarfilme. Auftraggeber waren europäische Institutionen, die Europabewegung sowie die drei großen Gründungsstaaten Deutschland, Frankreich und Italien. Darüber hinaus wurden Marshallplan-Filme sowie Filme von Verkehrsbetrieben, Organisationen und Industrie, die „Europa“ in den Vordergrund stellten, in die Untersuchung mit einbezogen.

Der Sammelband gliedert sich in drei Hauptkapitel, die den Fokus erstens auf supranationale Akteure, zweitens auf Länderstudien und, drittens, schließlich auf Bilder und Leitmotive legen. Im Hinblick auf die supranationalen Akteure behandelt Gabriele Clemens zunächst die von Europarat, Brüsseler Pakt/Westeuropäischer Union (WEU) sowie den Europäischen Gemeinschaften beauftragten Filme. Diese unterschieden sich zwar je nach Auftraggeber unter anderem inhaltlich und strategisch voneinander, nicht jedoch in ihrem grundlegenden Ziel. Sie sollten bei den europäischen Bürger/innen ein Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugen und sie an die „Idee Europa“ heranführen. Der Übergang zwischen Informationsvermittlung und Werbung war dabei fließend: In internen Dokumenten der europäischen Organisationen taucht immer wieder der Begriff „Propaganda“ auf, der aber möglichst nicht in offiziellen Stellungnahmen verwendet werden sollte.

Ein Beispiel war der vom Brüsseler Pakt in Auftrag gegebene und 1952 uraufgeführte Film „La Fenêtre Ouverte“, der durch die fünf europäischen Mitgliedstaaten produziert und finanziert wurde. Nicht zuletzt aufgrund seines über Europa hinausgehenden Erfolgs folgten weitere vom Brüsseler Pakt und der WEU forcierte Produktionen. Auch der Europarat wurde zeitgleich aktiv und initiierte ab Anfang der 1950er-Jahre dokumentarische Lehr- und Kulturfilme zur Förderung des europäischen Gedankens. All diese Filme setzen stark auf die Konstruktion einer gemeinsamen europäischen Kultur, die sich angeblich aus einer langen gemeinsamen Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart ergab. So konstatiert Clemens insbesondere für die Europarat-Filme eine „Verklärung der gemeinsamen Geschichte und Kultur Europas“ (S. 90).

Die Filme der Europäischen Gemeinschaften dagegen strichen vor allem wirtschaftliche Gründe für eine Einigung Europas heraus: Die Aufhebung der Grenzen in Europa und ein gemeinsamer Wirtschaftsraum erscheinen darin als Sinnbilder für Wohlstand, Zufriedenheit und ein friedliches Miteinander. In einem weiteren Teilkapitel untermauern Anne Bruch, Gabriele Clemens, Jeanpaul Goergen und Thomas Tode, dass sich in rund 30 Marshallplanfilmen ähnliche Argumentationsmuster zeigten. Diese Filme hatten vordergründig das Ziel, für den europäischen Einigungsgedanken zu werben, doch auch in weiteren Marshallplanfilmen wurde dieser implizit angepriesen.

Der dritte Artikel über supranationale Akteure behandelt die Filmaktivitäten der 1948 gegründeten Europäischen Bewegung. Ihr unterstanden verschiedene in Großbritannien, Belgien, Deutschland, Frankreich und Italien gegründete Europaverbände. Als Dachverband gelang es der Europäischen Bewegung allerdings nicht, effiziente Werbekampagnen zu gestalten. Dokumentarfilme, die die europäische Einigung propagierten, entstanden nur auf Initiative des britischen United Europe Movement, der deutschen Europa-Union und des durch die Europäische Bewegung ins Leben gerufenen Europäischen Kulturzentrums. Darüber hinaus greifen die Autor/innen auch Pläne der französischen und italienischen Europaverbände auf, die am Ende aus verschiedenen Gründen nicht realisiert werden konnten.

Als Besonderheit im Rahmen dieses Teilkapitels sei der 1952 veröffentlichte Film „Das Bankett der Schmuggler“ erwähnt, da es sich hierbei nicht um einen Dokumentar-, sondern um einen Spielfilm handelte. Vom Europäischen Kulturzentrum angestoßen und als deutsch-belgische Gemeinschaftsproduktion realisiert, stellte er die Überwindung wirtschaftlicher Grenzen in Europa in den Vordergrund. Der Film spielt im niederländisch-belgisch-deutschen Grenzgebiet und verbindet sein Plädoyer für ein neues, zollfreies Wirtschaftsmodell und Völkerverständigung in Europa mit einem Liebesdrama. Trotz großer Erwartungen wurde der Film kein kommerzieller Erfolg in den Kinos, zumal die zeitgenössischen Kritiken sehr zurückhaltend blieben.

Während die Filme der supranationalen Akteure sich an alle Länder der europäischen Institutionen richteten, produzierten die größeren Länder auch eigene, das heißt von nationalen Akteuren in Auftrag gegebene Europafilme. Daher widmet sich das zweite Hauptkapitel des Bandes dem deutschen, französischen und italienischen Europafilm. Neben nationalen Interessen, wie die Integration des eigenen Landes in die europäische Staatengemeinschaft, ist in allen drei Ländern erneut die Aussicht auf Wohlstand und eine sichere Zukunft zentrales Argument für einen europäischen Zusammenschluss. Außerdem wird – ähnlich wie in den Europafilmen des Marshallplans – länderübergreifend die sowjetische Bedrohung als wichtige Motivation für eine Kooperation der europäischen Staaten angeführt.

Die erkennbaren Leitmotive, Bilder und Narrative aller untersuchten Europafilme werden im dritten Hauptkapitel noch einmal in einem Gesamtkontext herausgearbeitet. Gabriele Clemens verweist in ihrem Artikel „Narrative der Europäischen Integration“ unter anderem auf ikonografisches Material wie Gemälde, Fotografien, Aufnahmen historischer Gebäude und Denkmäler sowie Bilder von Kriegszerstörungen als Symbole für eine gemeinsame europäische Vergangenheit. Die Botschaft der Filme vermittelte stets ein allwissender Erzähler. Diesen „Geschichtsfilmen“ standen „Lehrfilme“ gegenüber, die auf funktionale Narrative und Bilder zurückgriffen: Produktionsstätten, Europakarten, Animationen und Grafiken zur Arbeitsweise der europäischen Institutionen.

Eine besonders aktuelle Dimension hat der Beitrag von Thomas Tode über die Grenze als zentrales Motiv der Europafilm-Rhetorik. Der Begriff der „Grenze“ meint in den Filmen sowohl die politischen als auch die wirtschaftlichen Grenzen im Zusammenhang mit dem Warenaustausch in Europa. Auffallend ist, dass zumeist auf die Nachteile der europäischen Grenzen verwiesen wurde und nicht auf ihren Beitrag zur Sicherheit und Stabilität der jeweiligen Nation. Ihre Öffnung steht für Warenaustausch, Wohlstand, ungehinderte Reisemöglichkeiten und Völkerverständigung. In fast allen Filmen werden die Grenzziehungen zwischen den europäischen Nationen als Auflösung von Europas vermeintlicher ursprünglicher Einheit dargestellt.

Ergänzend zu den zahlreichen Studien zur europäischen Identität und Öffentlichkeit untermauern die Autor/innen des Bandes, dass Vorstellungen und Bilder von Europa überaus heterogen waren. Imaginationen Europas waren nicht nur abhängig von den Akteuren bzw. Institutionen, die sie entwarfen. Auch der Kontext, in dem sie konstruiert wurden, spielte eine wichtige Rolle. Im Hinblick auf die kulturelle Dimension einer europäischen Einigung stand die Vorstellung einer gemeinsamen Geschichte, eines gemeinsamen kulturellen und künstlerischen Erbes sowie gemeinsamer Leidenserfahrungen – insbesondere durch den Zweiten Weltkrieg – im Vordergrund. Die Idee eines wirtschaftspolitisch zusammenwachsenden Europas war dagegen in erster Linie von funktionalen und ökonomischen Argumenten begleitet, wie bereits Studien zur Öffentlichkeitsarbeit der Europäischen Gemeinschaften und zu „Europa“ in den Printmedien belegen.2

„Werben für Europa“ liefert demnach nicht immer überraschende Ergebnisse, was angesichts der schier unüberschaubaren Anzahl an Europastudien auch kaum möglich ist. Dennoch ist der Band ein einschlägiger Beitrag zur Konstruktion einer europäischen Öffentlichkeit und Identität, der durch seinen klar strukturierten Aufbau überzeugt. Ebenso beeindruckend ist die große Bandbreite der ausgewerteten Filmquellen. Der Leser erhält einen ausführlichen Einblick in die überraschende Vielzahl an Europafilmen, weshalb das Werk uneingeschränkt zu empfehlen ist.

Anmerkungen:
1 Vgl. als erste ausführliche Studie zum Thema Europa und audiovisuelle Medien: Eugen Pfister, Europa im Bild. Imaginationen und Wochenschauen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Österreich 1948-1959, Göttingen 2014.
2 Vgl. beispielsweise Alexander Reinfeldt, Unter Ausschluss der Öffentlichkeit? Akteure und Strategien supranationaler Informationspolitik in der Gründungsphase der europäischen Integration 1952-1972, Stuttgart 2015.