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Titel
Grenzkatholizismen. Religion, Raum und Nation in Tirol 1830–1848


Autor(en)
Huber, Florian
Reihe
Schriften zur politischen Kommunikation 23
Erschienen
Göttingen 2016: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
426 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Olaf Blaschke, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Als “Kirchenstaat Österreichs” oder “Pfaffenparadies” wurde Tirol schon bezeichnet, als dermaßen abgrundtief katholisch, dass wohl jegliche Säkularisierung an den Alpen zerschellt sei. Doch der Schein trügt. Erst im Vormärz entwickelte sich Tirol zum “katholischen Eldorado der Moderne” (S. 14). Wie konnte es dazu kommen? Welche Verantwortlichen lassen sich dafür identifizieren? Das ist die Kernfrage dieser 2015 an der Universität Innsbruck vorgelegten Dissertation.

Es begann mit Fremdzuschreibungen. Bürgerliche urbane Schichten markierten katholische Regionen wie Tirol, Bayern oder Schlesien als unaufklärbar. Zur Abwehr dieser protestantisch-liberalen Abwertungssemantik nahmen katholische Autoren in den 1830er-Jahren eine Umdeutung vor. Auch sie fanden Tirol wahrlich fromm und kirchentreu, sahen das aber als Vorzug gegenüber einer bedrohlichen Moderne an. Tirol wurde mithin von zwei Seiten aus katholisch gemacht. Gleichzeitig aber wuchs die ethnische, kulturelle und religiöse Heterogenität des im Kreuzungspunkt Deutschlands, Österreichs und Italiens liegenden Kronlandes. Alle drei Faktoren – Fremd- und Selbstzuschreibung sowie Pluralisierung – führten zwischen 1830 und 1848 zur Ausbildung divergierender öffentlicher Grenzkatholizismen.

Die Arbeit ist vornehmlich wahrnehmungs- und kommunikationstheoretisch angelegt: Religion fasst Huber mit Niklas Luhmann ausschließlich als Kommunikation, die spezifischen Sinn stifte (S. 26). Komplementär dazu ist Säkularisierung nur die Form, in der Religion ihre Umwelt beobachte.

Aus dieser Umwelt wählt Huber drei Themen, die konstitutiv für die Grenzkatholizismen waren: Religion, Raum und Nation. Wie wurde die eigene und fremde Konfession wahrgenommen, wie gestaltete sich Raum in religiösen Selbstbeschreibungen und wie verhielten diese sich zur jeweiligen Nation? Basierend auf gedruckten wie ungedruckten Quellen aus verschiedenen Stadt-, Landes- und Diözesanarchiven Tirols vollzieht sich die Arbeit in sieben chronologisch sortierten Kapiteln, wobei die Einleitung mit 48 Seiten als “erstes Kapitel“ überbordend lang ausfällt.

Das erste Analysekapitel (Kap. 2) führt in die Provinzialisierung und Deprovinzialisierung Tirols ein. Aus der kleinen selbständigen Grafschaft wurde 1816 nach Hinzufügung der Fürstbistümer Brixen und Trient eine neue, fragile Randprovinz, wobei der italienischsprachige Bevölkerungsanteil von 15 auf 40 Prozent stieg. Bei der Integration Tirols in das Staatskirchentum Österreichs wurden von zwölf um 1800 für Tirol zuständigen Diözesen nur noch Brixen und Trient als verantwortlich bestimmt, dies aber ungeachtet der Sprachgrenzen. Bald entstand eine Art Sinnvakuum in dieser mehrkulturellen Kunstprovinz. Ihre Bewohner orientierten sich im Norden gen Deutschland, im Süden gen Italien.

Einschneidend war nun die berüchtigte Zillertaler Ausweisung von 1837 (Kap. 3). Bei den 427 Betroffenen handelte es sich um Angehörige einer kaum organisierten sozialen Bewegung, die möglicherweise die evangelische Bibel lasen, jedenfalls aber dem katholischen Gottesdienst fernblieben. Erst nachdem 1829 sechs Zillertaler aus der katholischen Kirche austreten wollten, die Politisierung des Konfessionellen zunahm und der Wiener Staatsrat 1836 die Ausweisung beschloss, war vermehrt zu hören, die Gemeinten zeigten eine „Inklinanz zum Protestantismus” (S. 123). Die “Inklinanten”, die im September 1837 das Zillertal verließen, bekannten sich nun zum Protestantismus.

Über hundert Zeitungsartikel in Europa – von Basel bis London – kommentierten seit 1830 die eskalierende Lage. Das Jahr 1837 festigte den Eindruck, Tirol, wo obendrein 1838 die Jesuiten wieder zugelassen wurden, sei ein extrem katholisches Land, und katapultierte es in die konfessionalisierte Öffentlichkeit Europas. Zu Recht hält Huber es daher für fraglich, in diesem dramatisierten Ereignis ein Symptom des “Zweiten Konfessionellen Zeitalters” zu sehen (S. 120). Statt um Konfession – die Zillertaler waren ja katholisch – ging es um den richtigen Katholizismus und um die Beobachtung politisch-moralischer Abweichung. Doch förderte die Situation die “Politisierung und Konfessionalisierung der religiösen Kommunikation” (S. 139). Die protestantische Auslandspresse dramatisierte den Opfergang der Zillertaler Protestanten, während die ultramontane Presse ihnen standhaft jeden protestantischen Glauben absprach.

Von Medien, Ersatzmedien und Medialisierungen handeln Kapitel 4 bis 7. In Tirol selber bekam man mangels Zeitungen kaum etwas von dem Zillertaler Spektakel mit. Zusammen mit den sieben stigmatisierten Jungfrauen Tirols in den 1830er-Jahren1 erweckte das Alpental aber zunehmend europaweites Interesse und löste seit 1833 “geradezu einen konfessionellen Tourismus” aus (S. 150). Missionare, Theologen und Naturwissenschaftler erkundeten die fremde Welt (Kap. 4). Nahmen die Tiroler das europäische Gerede und die unerwünschte Öffentlichkeitswirkung damals noch passiv hin, stellten zwei von Priestern verfasste Landesbeschreibungen immerhin gewisse Ersatzmedien dar. Beide sollten die räumlichen, politischen und religiösen Vorstellungen über Tirol nachhaltig prägen. Malte Giuseppe Pinamonti 1836 ein tolerantes, fortschrittliches, urbanes Trentino mit einem liberalen Katholizismus aus, zeichnete der Deutschtiroler Beda Weber 1837 ein bäuerliches, streng katholisches, antireformatorisches Bild von Deutschtirol.

Endlich kam es auch zu eigenen medialen Aufbrüchen (Kap. 5). Wieder waren es Geistliche, die 1839 im Trentino erfolglos und 1843 in Innsbruck erfolgreich eine katholische Zeitschrift gründeten. Die “Katholischen Blätter aus Tirol”, die einzige deutschsprachige katholische Zeitschrift der Habsburgermonarchie, beobachteten die konfessionellen Konflikte in Europa, trugen sie nach Tirol hinein und profilierten die eigene Katholizität (S. 224–229).

Während im Norden der Anschluss an die europäische Kommunikation gelang, gab es im Trentino nur Ersatzöffentlichkeiten (Kap. 6). Die liberalkatholische Gelehrtenakademie in Roverto und die Società Agraria mit ihrer Vereinszeitschrift „Giornale agrario“ banden unbehelligt von der Zensur den Katholizismus an Italien, wehrten den germanischen Norden als unkatholisch ab und unterstützten die nationalliberale Einigung Italiens. Längst vor 1848 beschleunigte sich die Entflechtung der Tiroler Landesteile und Katholizismen.

Zur Entfremdung trugen auch die “Sängerkriege” bei (Kap. 7). 1843 wurde Tirol mit antijesuitischen Vorwürfen attackiert. Die sich bis 1847 hinziehende Fehde trugen die “Augsburger Allgemeine Zeitung” und die ultramontane “Augsburger Postzeitung” aus. Die staatliche Zensur blieb zahnlos. Selbst den Jesuiten misstrauende Katholiken begannen nun, diese mit der Kirche zu identifizieren. Ob es sich um “frühe Kulturkämpfe in Tirol” (S. 275, 277, 304) gehandelt hat, ist allerdings angesichts eines dann doch allzuweit gefassten Kulturkampfbegriffs zu überdenken. Jahrzehntelang beschränkte sich das Verständnis vom Kulturkampf auf den Staat-Kirche Konflikt, bevor die ideologischen, sozialen und konfessionellen Dimensionen ernst genommen wurden, während Huber nun die ursprüngliche Komponente ganz abstreift.

Auch durch ihre Semantik unterschieden sich die beiden Parteien (Kap. 8). “Glaubenseinheit”, gerne auch als Rückholung der Protestanten, war die Devise des Nordens, während der Süden “Pio IX.” (1846–1878) aufs Schild hob. Die Revolution besiegelte diese Trennung 1848 nur, die sich längst semantisch vollzogen hatte.

Die Zusammenfassung (Kap. 9) ist weit mehr als das. Huber entwirft in transnationaler Perspektive eine “lange Revolution” von 1846 bis 1852. In Tirol erblühte ein dichter Medienmarkt. Sodann werden drei Elemente des Formenwandels hin zur öffentlichen Religion hervorgehoben: Die Politisierung dank der Ausdifferenzierung von Politik und Religion, die nun in Gestalt klerikaler „Multimanager“ selber politisch aktiv werden musste, die Medialisierung als vormärzliche Kommunikationsrevolution, schließlich die Nationalisierung der Grenzkatholizismen.

Florian Huber überwindet die Trennung der deutsch- und italienischsprachigen Forschungsliteratur, die sich auf ihren jeweiligen Landesteil konzentriert hat, und betont, dass die “Katholizismusgeschichte Europas im 19. Jahrhundert” stets auch “eine transnationale Geschichte ist.”(S. 54) Das Buch ist von hoher analytischer Präzision und brillant geschrieben, sieht man von der einfallslosen Häufung des Modewortes “Fokus” ab (S. 56, 127, 129, 148, 152, 195, 206, 277). Die farbige Karte von 1860 (S. 58) ist zwar schön, aber so klein, dass man nichts erkennt. Etwas irritierend ist, dass einzig Kapitel 5 bis 7 mit nützlichen Zusammenfassungen schließen.

Aber es gibt Wichtigeres: Ob Tirol tatsächlich ein “religionsgeschichtliches Europa en miniature” war (S. 35), ist angesichts des Fehlens eines protestantischen Bevölkerungsanteils fraglich. Rätselhaft bleibt auch der Charakter des nördlichen Ultramontanismus ohne dessen Hauptkriterium: Papstverehrung und Orientierung nach Rom. Ferner verwundert, dass Huber zwar den “Antiprotestantismus ohne Protestanten” (S. 224) als dessen konstitutives Identitätsmerkmal herausarbeitet, aber an keiner Stelle auch nur die Möglichkeit einer Judenfeindschaft ohne Juden (0,1%) in Erwägung zieht, für die es hinreichende Anhalte gibt. Immerhin wurden in Trient und Rinn jahrhundertealte Ritualmordlegenden gepflegt. Beda Weber, einer von Hubers Hauptdarstellern, polterte 1848 gegen “die jüdische Lügenpresse“. Kein Wort dazu bei Huber.2

Zuweilen neigt Huber dazu, den klassischen Konflikt zwischen dem “Wert der Originalität” und dem “Wert der Bescheidenheit”, wie sie Robert K. Merton für die Wissenschaften gegenübergestellt hat, zugunsten des ersteren zu lösen.3 So behauptet Huber etwa: “Die Religions- und Katholizismusforschung hat sich bislang kaum mit der Frage zwischenkonfessioneller Konflikte in monokonfessionellen Territorien auseinandergesetzt” (S. 42). In Wirklichkeit liegen jedoch einige Arbeiten dazu vor.4 Fraglich ist auch, ob der Beitrag der katholischen Publizistik (man denke an den Pastor Bonus) zur Klerikalisierung und Homogenisierung des Klerus tatsächlich von der Forschung kaum beachtet wurde (S. 215).

Insgesamt ist das Buch vorbildhaft für eine transnational ausgerichtete Regionalgeschichte (S. 40) und dafür, die transregionale Genese unterschiedlicher Katholizismen zu belegen. Die zunehmend medialisierten, konfessionalisierten und nationalisierten Grenzkatholizismen waren ko-konstitutiv füreinander. Die Arbeit ist zugleich ein wertvoller Beitrag zur Frühgeschichte des sich durchsetzenden Ultramontanismus.

Anmerkungen:
1 Vgl. Nicole Priesching, Maria von Mörl (1812–1868). Leben und Bedeutung einer “stigmatisierten Jungfrau” aus Tirol im Kontext ultramontaner Frömmigkeit, Brixen 2004.
2 Beda Weber, Die Trauerfeierlichkeit für Robert Blum zu Frankfurt am Main, in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 22 (1848), S. 794–811, S. 799.
3 Robert K. Merton, Prioritätsstreitigkeiten in der Wissenschaft, in: Ders., Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie, Frankfurt 1985, S. 258–300, S. 279 (zuerst in: American Sociological Review 22 (1957), S. 635–659).
4 Vgl. Steven C. Hause, Anti-Protestant Rhetoric in the Early Third Republic, in: French Historical Studies 16 (1989), S. 183–201; Gregorio Alonso, La nación en capilla. Ciudadanía y cuestión religiosa en España (1793–1874), Granada 2014; Yvonne Maria Werner / Jonas Harvard (Hrsg.), European Anti-Catholicism in a Comparative and Transnational Perspective, Amsterdam, New York 2013.