Die „Säuberung“ der österreichischen Hochschulen 1933–1945

Koll, Johannes (Hrsg.): „Säuberungen“ an österreichischen Hochschulen 1934–1945. Voraussetzungen, Prozesse, Folgen. Wien 2017 : Böhlau Verlag, ISBN 978-3-205-20336-0 540 S. € 50,00

: Rückkehr erwünscht. Im Nationalsozialismus aus „politischen“ Gründen vertriebene Lehrende der Universität Wien. Wien 2016 : LIT Verlag, ISBN 978-3-643-50681-8 379 S. € 39,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Grüttner, Technische Universität Berlin

Die Forschung zur „Säuberung“ der österreichischen Hochschulen nach einem Regimewechsel hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auf den „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutschland und seine Konsequenzen konzentriert.1 Im Unterschied zu diesen Pionierstudien bietet der von Johannes Koll herausgegebene Sammelband eine breitere Perspektive. Im Fokus steht die Frage nach den hochschulpolitischen Auswirkungen von drei politischen Umwälzungen, die in Österreich innerhalb von zwölf Jahren stattgefunden haben: die Ablösung der Ersten Republik durch den autoritären „Ständestaat“ unter Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg in den Jahren 1933/34, der „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutschland 1938 und die Errichtung der Zweiten Republik 1945.

Nach einer Einleitung des Herausgebers beginnt der Band mit einem instruktiven Aufsatz von Mitchell Ash, der den aktuellen Forschungsstand zum Thema zusammenfasst und die dreifache „Säuberung“ der österreichischen Hochschulen in ihren historischen Kontext stellt. Den Hauptteil des Sammelbandes bilden Fallstudien zu den verschiedenen österreichischen Hochschulen. Neben den drei Universitäten Wien, Innsbruck und Graz werden die Technischen Hochschulen in Wien und Graz sowie die Hochschule für Welthandel, die Hochschule für Bodenkultur, die Akademie für Musik und darstellende Kunst sowie die Akademie der bildenden Künste (alle in Wien) berücksichtigt.

Schwerpunktmäßig konzentrieren sich die meisten Beiträge auf den Lehrkörper. Doch überraschend viele Aufsätze thematisieren auch die Vertreibung von Studierenden. So beschäftigen sich ein kenntnisreicher Aufsatz von Katharina Kniefacz und Herbert Posch sowie ein Beitrag des Herausgebers mit der Vertreibung jüdischer Studierender an der Universität Wien bzw. an der Wiener Hochschule für Welthandel nach dem „Anschluss“, während Andreas Huber einen aufschlussreichen Text über die Entnazifizierung der österreichischen Studentenschaft nach 1945 vorlegt.

Am schwierigsten gestaltet sich die Einschätzung der hochschulpolitischen „Säuberungen“ in der Zeit des „Ständestaates“ zwischen 1933/34 und 1938. Für die Hochschulen war dies eine Zeit der Einsparungen, Zwangspensionierungen und Stellenstreichungen. Ob derartige Maßnahmen primär aus fiskalischen oder aus politischen Motiven erfolgten, ist oft nicht leicht zu beurteilen. Dennoch kommen die meisten Beiträge zu dem Ergebnis, dass die politisch motivierten „Säuberungen“ in dieser Zeit vornehmlich gegen nationalsozialistische Hochschullehrer und Studierende gerichtet waren. Dieser Befund könnte vielleicht Anlass sein, noch einmal darüber nachzudenken, ob der von nahezu allen Autoren verwendete Begriff „Austrofaschismus“ wirklich eine adäquate Bezeichnung für den „Ständestaat“ ist.2

Die aktiven nationalsozialistischen Professoren und Studenten wurden durch die repressive Politik des „Ständestaates“ in die Illegalität gezwungen. Einige von ihnen verließen Österreich und gingen nach Deutschland, wo die meisten innerhalb kurzer Zeit an einer Hochschule untergebracht wurden. Eine vollständige Ausschaltung des nationalsozialistischen Einflusses gelang dem „Ständestaat“ aber weder unter den Studierenden noch unter den Lehrenden.

Das zeigte sich spätestens nach dem „Anschluss“, als die bis dahin illegalen österreichischen Nazis wieder in das Licht der Öffentlichkeit traten und als Rektoren, Dozentenbundführer und Dekane überall die Leitung der Hochschulen übernahmen. Die schon im März 1938 einsetzende nationalsozialistische „Säuberung“ verlief weit radikaler als die vergleichsweise moderaten Maßnahmen unter Dollfuß und Schuschnigg. Einige Wissenschaftler, die 1933/34 vor den Nationalsozialisten aus Deutschland nach Österreich geflüchtet waren, wurden nun ein zweites Mal entlassen – so der Historiker Martin Winkler und der Philosoph Dietrich von Hildebrand.

Ähnlich wie in Deutschland traten dabei erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Hochschulen zutage. Die größten Verluste verzeichnete die Universität Wien, die nach dem „Anschluss“ etwa 40 Prozent ihres Lehrkörpers verlor. Dem stand auf der anderen Seite die Technische Hochschule Graz gegenüber, an der nur zwei von 27 Professoren dem Regimewechsel zum Opfer fielen.

Beim Blick auf die vertriebenen Wissenschaftler muss differenziert werden zwischen den Opfern antisemitischer Politik und denen, die allein aufgrund ihrer politischen Haltung die Hochschule verlassen mussten. Es ist bekannt, dass an den deutschen Universitäten nach 1933 bei etwa vier Fünftel aller Entlassungen antisemitische Motive im Vordergrund standen oder zumindest mitspielten. Nur etwa 20 Prozent der betroffenen Hochschullehrer wurden ausschließlich aufgrund ihrer politischen Einstellung vertrieben. An den österreichischen Hochschulen bot sich nach 1938 ein etwas anderes Bild. Hier war der Anteil der aus antisemitischen Gründen Entlassenen geringer als in Deutschland, die Zahl der politisch motivierten Vertreibungen dagegen größer. An einer Reihe von Hochschulen erfolgte die Mehrheit der Entlassungen aus politischen Gründen – so an der Universität Innsbruck, an der TH Graz, an der Wiener Hochschule für Welthandel, der Wiener Hochschule für Bodenkultur und der Wiener Akademie der bildenden Künste.

Die dritte große Säuberungswelle nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unterschied sich von der parallel laufenden Entnazifizierung an den deutschen Hochschulen vor allem durch die nahezu vollständige Entlassung der „Reichsdeutschen“, ohne dass damit eine Einzelfallprüfung verbunden gewesen wäre. Darüber hinaus überwiegen die Ähnlichkeiten. Ähnlich wie in Deutschland musste zunächst ein beträchtlicher Teil des Lehrkörpers aufgrund seiner politischen Belastung die Lehrtätigkeit einstellen. Nicht selten war der personelle Verlust 1945 größer als 1938, so beispielsweise an der TH Wien, wo nach Ende des Krieges 65 Prozent des wissenschaftlichen Personals entlassen oder suspendiert wurden, wie Juliane Mikoletzky errechnet hat. Um den Lehrbetrieb aufrecht erhalten zu können, wurde allerdings etwa ein Drittel der Entlassenen weiterbeschäftigt. Im Laufe der kommenden Jahre gelang es zudem vielen, die zunächst tatsächlich entlassen worden waren, ihre akademische Karriere nach einer manchmal mehrjährigen Karenzzeit fortzusetzen – in Wien oder auch anderswo.

Die Beurteilung der „Säuberungen“ von 1945 fällt daher nicht ganz leicht. Auf der einen Seite führte die Entnazifizierung 1945 an den meisten Hochschulen tatsächlich zu einem personellen Bruch; andererseits aber blieb die Zahl ehemaliger Nationalsozialisten, die dadurch dauerhaft aus dem Wissenschaftsbetrieb entfernt wurden, in Österreich wie auch in Deutschland relativ gering. Die Frage, ob es sinnvoll ist, unter solchen Umständen von personeller Kontinuität zu sprechen, wird in dem Sammelband unterschiedlich beantwortet. Roman und Hans Pfefferle bejahen sie in ihrem Aufsatz über die Entnazifizierung an der Universität Wien (S. 431f.), während Mitchell Ash aus seiner Skepsis gegenüber dem Kontinuitätsbegriff kein Hehl macht (S. 66).

Insgesamt ist der von Koll vorgelegte Sammelband ein wichtiger Beitrag zur politischen Geschichte der österreichischen Universitäten im 20. Jahrhundert. Leider ist die Herangehensweise der verschiedenen Autorinnen und Autoren an das Thema zu disparat, um eine halbwegs exakte Vergleichbarkeit ihrer Ergebnisse zu gewährleisten. Hier wäre es sinnvoll gewesen, wenn der Herausgeber den Verfassern der einzelnen Beiträge klare methodische Vorgaben gemacht hätte.

Generell scheint die Bereitschaft, emigrierte Wissenschaftler, die 1938 aus antisemitischen Gründen vertrieben worden waren, nach Österreich zurückzuholen, 1945 sehr gering gewesen zu sein. Demgegenüber konnten die aufgrund ihrer politischen Einstellung entlassenen Hochschullehrer vielfach auf eine rasche Wiedereingliederung hoffen. Mit dieser Teilgruppe von Hochschullehrern beschäftigt sich das Buch von Andreas Huber über die Wiener Universität, das 2016 unter dem Titel „Rückkehr erwünscht“ erschienen ist. Die Eingrenzung seiner Untersuchungsgruppe ist nicht ganz einfach, denn viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die von den Nazis als „Nichtarier“ verfolgt wurden, waren ihnen auch als politisch denkende und handelnde Menschen verhasst. Zudem ist die Entscheidung, Menschen aus antisemitischen Gründen zu vertreiben, letztlich ebenfalls ein politischer Akt. Huber ist sich dieser Probleme durchaus bewusst und definiert seine Untersuchungsgruppe folgendermaßen: Aus „politischen“ Gründen Vertriebene sind für ihn „Lehrende, die […] aus politischen und damit nicht rassistischen Gründen […] ihre Lehrtätigkeit beenden mussten oder aufgrund drohender Verfolgung und/oder Ablehnung des NS-Regimes ihre Venia zurücklegten“ (S. 25).

Diese Definition erfasst nach Hubers Berechnungen 86 von insgesamt 322 vertriebenen Angehörigen des Lehrkörpers der Wiener Universität. Das war mehr als ein Viertel aller nach 1938 vertriebenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. In einer kollektivbiografischen Analyse dieser Personengruppe zeigt Huber, dass nur wenige von ihnen liberale, linke oder pazifistische Überzeugungen vertraten. Überwiegend handelte es sich um Personen, die politisch dem katholisch-konservativen Lager angehörten. Darunter waren viele Wissenschaftler, die 1938 entlassen worden waren, weil sie sich zuvor als Unterstützer des autoritären „Ständestaates“ exponiert hatten. Im Gegensatz zu den aus antisemitischen Gründen Verfolgten emigrierten aus dieser Gruppe nur relativ wenige. Viele von ihnen konnten zwischen 1938 und 1945 weiterhin einer beruflichen Tätigkeit außerhalb der Hochschule nachgehen. Bei Kriegsende stand dadurch an der Wiener Universität, anders als in Deutschland, eine alternative, politisch relativ homogene, akademische Elite bereit, die schon bald die wichtigsten hochschulpolitischen Führungspositionen besetzte.

Hubers Untersuchung wird ergänzt durch eine Reihe von Fallbeispielen und durch Biogramme sämtlicher Angehöriger seiner Untersuchungsgruppe. Das Buch ist trotz vereinzelter Fehler3 eine solide gearbeitete, in den Ergebnissen überzeugende Studie. Es wäre wünschenswert, wenn in absehbarer Zeit eine ähnliche profunde Untersuchung auch für die vertriebenen jüdischen bzw. „nichtarischen“ Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer vorgelegt werden könnte.

Anmerkungen:
1 Vgl. Friedrich Stadler, Vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930–1940, 2 Bände, Wien 1987/88; Kurt Mühlberger, Vertriebene Intelligenz 1938. Der Verlust geistiger und menschlicher Potenz an der Universität Wien von 1938 bis 1945, Wien 21993.
2 Vgl. demgegenüber: Stanley G. Payne, Geschichte des Faschismus, München 2001, S. 26ff. u. 305ff., der den „Ständestaat“ als autoritäres Regime der katholisch-konservativen Rechten einordnet, vergleichbar etwa mit der Salazar-Diktatur in Portugal.
3 So wird die Entlassung des katholischen Philosophen Dietrich von Hildebrand von Huber als ausschließlich politische Maßnahme eingeordnet. Tatsächlich war Hildebrand aber nach NS-Kriterien ein „Nichtarier“, der 1933 als solcher von der Universität München vertrieben worden war. Vgl. Claudia Schorcht, Philosophie an den bayerischen Universitäten 1933–1945, Erlangen 1990, S. 152ff.

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