F. Wendler: NS-Täter in der Geschichtsschreibung der SBZ und DDR

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Titel
NS-Täter in der Geschichtsschreibung der SBZ und DDR bis in die 1960er-Jahre.


Autor(en)
Wendler, Fabian
Erschienen
Berlin 2017: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
470 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katrin Hammerstein, Historisches Seminar, Universität Heidelberg

„Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und ‚ganz gewöhnlichen Deutschen‘“ – unter diesem Titel veröffentlichte Gerhard Paul 2002 seine Überlegungen zu Täterbildern in der Geschichtsschreibung über die Shoah.1 Der Aufsatz bildet den Dreh- und Angelpunkt des hier zu rezensierenden Buches. So orientiert sich Fabian Wendler in seiner politikwissenschaftlichen Dissertation an den von Paul unterschiedenen Phasen des Täterdiskurses in der Historiographie und den für diese als charakteristisch beschriebenen Tätertypen. Das „Paulsche Modell“ (S. 25) dient ihm als Dauerreflexions- und Abgrenzungsfläche seiner Untersuchung. Der Ansatzpunkt Wendlers ist dabei die weitgehende Aussparung von Arbeiten, die in der SBZ und in der DDR entstanden sind und denen Paul lediglich eine Seite widme: Auf der Basis von nur wenigen Publikationen, alle aus den 1960er- und 1970er-Jahren, benenne dieser zwar „wesentliche Charakteristika des Umgangs mit den Tätern in der faschismustheoretischen DDR-Historiografie“. Er nehme aber „die Vielfältigkeit der historischen Publizistik der SBZ/DDR ab 1945 nicht wahr […]“ (S. 16).

Diese Forschungslücke möchte Fabian Wendler schließen. Sein Ziel ist es, die „Paulsche Re-Lektüre der NS-Forschung samt der ihr inhärenten Täterbilder […] um die ostdeutsche Dimension“ (S. 11) zu erweitern. Als Gegenstand und Zeitraum seiner Analyse definiert er dementsprechend die Darstellungen von NS-Tätern in der Geschichtsschreibung der SBZ und der DDR bis in die 1960er-Jahre. Es geht ihm um deren „umfassende und originäre Rekonstruktion“ (S. 17). Hierfür hat er einen recht disparaten Quellenkorpus von veröffentlichten geschichtswissenschaftlichen Texten, Berichten unter anderem von ehemaligen KZ-Häftlingen, einigen Zeitungsartikeln und publiziertem Kampagnen-Material in den Blick genommen. Diesen untersucht er anhand einer Tätertypologie, die er im Anschluss an die Ergebnisse und Kategorien der so genannten Neueren Täterforschung2 entwickelt hat.

In seinem Raster unterscheidet Wendler sechs Tätertypen: den Weltanschauungstäter, den kriminellen Exzesstäter, den „Bandwagon Nazi“ bzw. Mitläufer und Opportunisten, den Befehlsempfänger- und Gehorsamstäter, außerdem eine Mischform aus Schreibtisch- und Direkttäter sowie den insbesondere für die ostdeutsche Geschichtsdeutung wichtigen „tatfernen Hintermann“, der seine kapitalistisch-imperialistischen Interessen verfolgt und Hitler und die Nationalsozialisten als Marionetten genutzt habe (S. 23f.). Den Begriff des „Täterbilds“ fasst er dabei weiter als den des „Tätertyps“ und bezieht hier auch die Rhetorik der Täterdarstellung sowie die jeweils zugrunde liegenden Konzepte von Tat, Tätern und Täterschaft mit ein (vgl. S. 25).

Den Hauptteil seiner Untersuchung gliedert Wendler in drei Unterkapitel: Täterbilder in der SBZ, Täterbilder in den 1950er-Jahren und Täterbilder in den ideologischen Kampagnen der DDR gegen die Bundesrepublik, wobei hier vor allem die Kampagnen gegen Theodor Oberländer und Hans Globke fokussiert werden. In der Identifizierung dieser „Phasen respektive Komplexe“ (S. 25) sieht er zugleich eine entscheidende Erweiterung von Pauls Modell (vgl. ebd., S. 408f.), der die Zeit von 1945 bis in die 1960er-Jahre als eine einzige Phase (für die westdeutsche Historiographie) beschreibt. Wendler setzt sein Vorhaben gewissenhaft um, „kleinschrittiger und textnäher als bei Paul“ (S. 16) vorzugehen. Mit großer Achtsamkeit, detailreich und auch mit offensichtlichem Vergnügen am Umgang mit Sprache nimmt er die Textinterpretationen vor. Dabei fallen seine Ausführungen zu den 1950er-Jahren deutlich kürzer aus als die zu den Täterbildern in der SBZ und in den gegen die Bundesrepublik gerichteten Kampagnen der 1960er-Jahre. Dies begründet er mit der Quellenlage: In diesem „Jahrzehnt der forcierten Verdrängung“, wie er es mit Olaf Groehler beschreibt, sei „die Anzahl der Texte, in deren Zentrum die Auseinandersetzung mit den NS-Tätern steht“, gering (S. 209).

Leitfragen für diese Kapitel sind unter anderem, welche Täter, Tätertypen und Tätergruppen in den Publikationen betrachtet werden und welche nicht, wie die NS-Täter charakterisiert werden, welche Rhetorik dabei genutzt und wie ihr Handeln erklärt wird. Auch geht Wendler der Frage nach, inwiefern eine Konkretisierung sowohl hinsichtlich der Täter als auch der Taten erfolgt. Werden also Täter als Individuen dargestellt und analysiert? Wird ein konkretes Verbrechensgeschehen geschildert und wenn ja, zu welchem Zweck? In einem weiteren Schritt gleicht er seine Befunde für die ostdeutsche Publizistik mit den von Paul für Westdeutschland beschriebenen Täterbildern ab. Schließlich setzt er die herausgearbeiteten ostdeutschen Täterbilder ins Verhältnis zum Antifaschismus-Mythos der DDR (vgl. S. 17, 196). Im Mittelpunkt stehen dabei die Texte als solche. Weder die Bedingungen, unter denen diese entstanden sind, noch die Produzenten der Schriften und Berichte werden weiter thematisiert (vgl. S. 41).

Die fehlende Kontextualisierung wird dann problematisch, wenn Wendler auch Täterbilder von Texten einbezieht, die nicht von Ostdeutschen verfasst worden sind – obwohl es ihm doch um die Geschichtsschreibung der SBZ und der DDR geht. So beginnt das Kapitel zu den Täterbildern in der SBZ mit Publikationen von sowjetischen Militärangehörigen. Hier ließe sich noch mit dem Ziel der Kontrastierung und Einbettung in sozialistische Geschichtsdeutungen argumentieren. Nicht so im Falle des darauf folgenden Abschnitts: Dieser behandelt Berichte von Überlebenden der NS-Konzentrationslager, so die Täterdarstellung in Jeanette Wolffs „Sadismus oder Wahnsinn“ oder Rolf Weinstocks „Rolf, Kopf hoch!“. Diese Texte werden nicht etwa neben Berichten ostdeutscher Provenienz besprochen, sondern unter diese subsumiert, so dass sie als ostdeutsche Aussagen erscheinen, obgleich die Autoren Westdeutsche waren.

Nicht ohne gewisse Inkonsistenzen also kommt Wendler für die Zeit von 1945 bis 1949 zu dem Schluss, dass die Täterdarstellungen der historischen Publizistik in Ostdeutschland „nicht einheitlich sind“ (S. 196). Das Tätertableau sei in dieser Phase aber „von tatnahen kriminellen Exzesstätern und tatfernen Hintermännern“ (S. 83) dominiert worden; auch „Bandwagon Nazis“ und Weltanschauungstäter tauchten auf, nicht hingegen der Typus des Befehls- und Gehorsamstäters, der explizit verneint werde (S. 402). In den 1950er-Jahren rückten vor allem die „tatfernen großkapitalistischen Hintermänner“ (S. 84, 206) in den Vordergrund; dies werde insbesondere beim Vergleich der Überlebendenberichte aus dieser und aus der SBZ-Zeit deutlich (vgl. S. 402). In den Anti-BRD-Kampagnen der 1960er-Jahre sei hingegen die Deutung der NS-Täter als Weltanschauungstäter vorherrschend gewesen. Hier seien Oberländer als Mischung aus Schreibtisch- und Direkttäter und Globke als Vordenker und Vorbereiter dargestellt worden (vgl. S. 84, 384, 405). Mit der Charakterisierung als Weltanschauungstäter zielte die DDR vor allem auch auf die von ihr behauptete und propagierte „faschistische Kontinuität der BRD“. Zugleich implizierte, so Wendler, der Fokus auf einige wenige exponierte Täter die Exkulpation der breiten Bevölkerung, die in den Texten auch viktimisiert wurde. Damit „füg[t]en sich die Darstellungen von NS-Tätern in den ideologischen Kampagnen der DDR gegen die BRD in den identitätskonkreten-exkulpatorischen Grundzug des antifaschistischen Mythos ein“ (S. 387).

Mehrfach betont der Autor, dass der Versuch der Distanzgewinnung (Gerhard Paul) durch Externalisierung des Nationalsozialismus kein spezifisch ostdeutsches Phänomen sei, sondern sich auch in den NS-Nachfolgestaaten Bundesrepublik und Österreich finde.3 Auch hebt er auf Ähnlichkeiten mit westdeutschen Täterbildern ab (vgl. z.B. S. 266, 379, 423). Im Fall der DDR aber sei der ab- und ausgrenzende Täterdiskurs als „unabdingbare Kehrseite der antifaschistischen Helden- und Erlösungsgeschichte“ (S. 33, 47, 390) anzusehen. Ohne die jeweils „spezifischen Täterbilder“ hätte der DDR-Antifaschismus, so Wendlers These, „vermutlich niemals seine vergleichsweise starke und vergleichsweise lange Bindungskraft erhalten“ (S. 424). Seine Studie abschließend regt er als Forschungsperspektive die Fortsetzung seiner Untersuchung bis zum Ende der 1980er-Jahre an. Die „unabdingbare Vorarbeit zu einem noch immer ausstehenden systematischen Vergleich der Täterbilder in Ost und West“ (S. 22) sei aber nun geleistet. Lohnend wäre es gewesen, wenn er selbst die Ausweitung bis in die 1980er-Jahre, in denen das Geschichtsbild der DDR sich flexibilisierte, vorgenommen hätte. Was dies an zusätzlicher Erkenntnis hätte bringen können, hat Wendler in seinem Ausblick an mehreren Beispielen einleuchtend herausgearbeitet (vgl. S. 425–433). Mit der Beschränkung auf die Zeit bis Ende der 1960er-Jahre kann das klar strukturierte und gut lesbare Buch aber für die ersten zweieinhalb Jahrzehnte der SBZ/DDR eine größere Fülle an Details und Material bieten. Diese sind sowohl für die „Arbeit am Mythos“ (S. 413) als auch für von der antifaschistischen Meistererzählung abweichende Geschichtsdeutungen und Täterbilder aufschlussreich.

Anmerkungen:
1 Gerhard Paul, Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und „ganz gewöhnlichen Deutschen“. Die Täter der Shoah im Spiegel der Forschung, in: Ders. (Hrsg.), Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?, Göttingen 2002, S. 13–90.
2 Vgl. dazu Frank Bajohr, Neuere Täterforschung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, http://docupedia.de/zg/bajohr_neuere_taeterforschung_v1_de_2013 (18.06.2013), DOI: http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.243.v1.
3 Vgl. dazu M. Rainer Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des „Großdeutschen Reiches“, in: Ders., Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1993, S. 229–245; Katrin Hammerstein, Gemeinsame Vergangenheit – getrennte Erinnerung? Der Nationalsozialismus in Gedächtnisdiskursen und Identitätskonstruktionen von Bundesrepublik Deutschland, DDR und Österreich, Göttingen 2017.

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