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Titel
Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik


Autor(en)
Biess, Frank
Erschienen
Reinbek bei Hamburg 2019: Rowohlt Verlag
Anzahl Seiten
613 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eckart Conze, Philipps-Universität Marburg

Mit seinem Buch Republik der Angst möchte der an der University of California in San Diego lehrende Historiker Frank Biess eine Neuinterpretation der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bieten. Das Werk war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und gehört zu den am stärksten beachteten historischen Sachbüchern dieses Frühjahrs. Biess will, wie es im Untertitel heißt, eine „andere Geschichte“ schreiben, eine alternative Perspektive öffnen. Das ist ein hoher Anspruch. Dieser bezieht sich zum einen darauf, die Rolle von Emotionen zum Ausgangspunkt eines neuen Blicks auf die Geschichte der Bundesrepublik zu machen. Biess versteht seine Darstellung als Versuch, von einer, wie er es formuliert, eher traditionellen Analyse von Emotionen in der Geschichte zu einer genuinen Geschichte der Emotionen zu gelangen, in der Gefühle als eigenständige, aus sich selbst heraus wirksame Kräfte betrachtet und behandelt werden. Exemplarisch und in Ansätzen auch autobiographisch motiviert, schreibt er vor diesem Hintergrund die Geschichte der Bundesrepublik als eine Geschichte von „Angstzyklen“ und „Angstkrisen“. Er konstatiert eine Spannung zwischen den von Historiker/innen konstruierten optimistischen Erzählungen und einem breit identifizierbaren Pessimismus der Zeitgenossen.

So richtet sich das Postulat einer „anderen Geschichte“ auch gegen das erfolgsgeschichtliche Narrativ, das in unterschiedlichen Ausformungen einen Großteil der nach 1990 erschienenen Darstellungen der Geschichte der Bundesrepublik, in der Regel konzentriert auf die „Bonner Republik“, charakterisiert. Diese Erfolgsgeschichten (das bezieht sich auf Autoren wie Axel Schildt, Edgar Wolfrum oder Heinrich August Winkler) möchte Biess durch einen Blick auf die oft angstbesetzten Zukunftsvorstellungen der Deutschen nach 1945 – der Westdeutschen, um präzise zu sein – konterkarieren und differenzieren. Das gelingt ohne jede Frage, wenngleich die Argumentation des Verfassers, Ängste und das, was er die „Angstbereitschaft“ der Deutschen nennt, hätten zu einer „demokratischen Wachsamkeit“ beigetragen und dadurch zur Stabilisierung der Demokratie, ihrerseits durchaus erfolgsgeschichtliche Züge trägt – was der Verfasser auch bereitwillig konzediert. Gleichwohl ist die kritische Relativierung des erfolgsgeschichtlichen Narrativs ein legitimes Ziel, zumal dieses Narrativ angesichts der Krisen und Verunsicherungen seit der Jahrtausendwende deutlich an Überzeugungskraft verloren hat. Es zumindest in Frage zu stellen, erleichtert auch die dringend notwendige analytische und darstellerische Verknüpfung der Geschichte von „Bonner Republik“ und „Berliner Republik“. Die mittlerweile fast 30-jährige Geschichte der „Berliner Republik“ berücksichtigt Biess allerdings nur in einem Epilog.

Ein durchlaufendes Narrativ bietet der Band nicht, schon gar nicht eine Gesamtdarstellung der „alten“ Bundesrepublik, sondern vielmehr eine chronologische Aneinanderreihung von Fallstudien. Diese werden durch die in der Einleitung entfalteten konzeptionellen Überlegungen zusammengehalten und perspektiviert. Neben den allgemeineren Bezügen zur interdisziplinären Emotionsforschung, mit Verweisen auf psychologische und neurowissenschaftliche Ansätze und sowohl auf das Spannungsfeld als auch auf die Verknüpfung von affektiv-kognitiven und physiologischen Deutungen, die der Verfasser knapp und kompetent darlegt, bestimmen im engeren emotionsgeschichtlichen Sinne vor allem drei analytische Perspektiven die einzelnen Fallstudien. Sie sorgen für eine darstellerisch-interpretatorische Kohärenz, die dem Buch seinen monographischen Charakter gibt.

So geht es Biess erstens um die normativen Rahmenbedingungen – er spricht unter Bezug auf William Reddy und Peter Stearns von „emotionalen Regimen“ –, die den Rahmen für die Artikulation von Angst bestimmen. Zweitens interessiert sich das Buch für die sich verändernden Objekte von Angst in der Geschichte der Bundesrepublik. Zwischen „Angst vor“ und „Angst um“ wird dabei allerdings nicht präzise unterschieden. Grundsätzlich konzentriert sich die Darstellung auf das, was der Autor „politische Ängste“ nennt, wobei man „politisch“ hier vermutlich als Gegenbegriff zu „privat“ verstehen kann, aber auch als eine analytische Präferenz für kollektive und damit gesellschaftlich wirksame Ängste. Thesenhaft spricht Biess von einer „Verschiebung der Angstobjekte von der äußeren zur inneren Bedrohung“ (S. 37), wobei hier freilich eine Gegenüberstellung von „außen“ und „innen“ konstruiert wird, die den vielfältigen Wechselwirkungen (nicht zuletzt in Prozessen der Transnationalisierung) nur schwer gerecht wird. Drittens schließlich zielt die Untersuchung auf die Analyse der sozialen und politischen Funktionen von Angst in sich über die Zeit hinweg verändernden Kontexten. Das richtet sich nicht zuletzt auf die Funktionalisierung beziehungsweise Mobilisierung von Angst oder Ängsten sowohl von „oben“ wie auch von „unten“. Beispielhaft dafür können der Antikommunismus der Ära Adenauer und die Mobilisierung nuklearer Katastrophenängste durch die Umwelt- und Friedensbewegung der Jahre um 1980 stehen.

Deutlich wird gerade in diesem Zusammenhang, dass der Verfasser keiner schlichten Gegenüberstellung von Emotionalität und Rationalität folgt, sondern vielmehr ein wesentlich komplexeres Verhältnis annimmt, das mit Konzepten wie „Emotionsregime“ oder „Politik der Emotionen“ – und dies besonders im Hinblick auf Angst – Emotionalität nicht einfach als Irrationalität deutet. Biess nimmt Ängste als Emotionen ernst, versucht diesen Ängsten auf den Grund zu gehen, nicht zuletzt in ihren individuellen wie kollektiven Vergangenheitsbezügen, in ihrem Erfahrungshintergrund und in dessen Bedeutung für die Genese und Expression von Ängsten und Verängstigungen. An einer Korrelation der Begriffe „Angst“ und „Sicherheit“ versucht sich Biess nicht. Dabei kann die „Suche nach Sicherheit“, als welche die Geschichte der Bundesrepublik in einem anderen Versuch der kritischen Relativierung teleologisch-erfolgsgeschichtlicher Narrative interpretiert worden ist1, ohne die unterschiedlichen dieser Suche zugrundeliegenden Ängste (im Sinne von tatsächlichen oder vermeintlichen Unsicherheiten, von Unsicherheitspotentialen oder Verunsicherungen) überhaupt nicht verstanden werden. Gerade in den Wechselbezügen zwischen der „Suche nach Sicherheit“ und der „Republik der Angst“ werden die Potentiale einer noch stärkeren Verknüpfung von Emotionsgeschichte und Historischer Sicherheitsforschung erkennbar.

In seinen insgesamt acht Hauptkapiteln behandelt Biess unterschiedliche Angstkomplexe. In diesen Fallstudien werden empirisch feststellbare Angstwahrnehmungen oder Angstartikulationen unter bestimmten Oberbegriffen gebündelt, ohne dass daraus allerdings eine Typologie der Angst entstünde. Dem widerspricht auch die jeweilige zeitliche Zuordnung der verschiedenen Angstkomplexe oder „Angstzyklen“, wie der Autor es nennt. Das reicht von der „Vergeltungsangst“ der frühen Nachkriegsjahre, bezogen auf die alliierte Besatzungspolitik oder auf mögliche Racheakte von NS-Verfolgten, über die „Kriegsangst“ der 1950er-Jahre bis hin zur „Apokalyptischen Angst“ im Kontext der Umwelt- und Friedensbewegung um 1980. Zum Teil wird der Begriff der Angst dabei sehr geweitet, wenn etwa kontroverse Diskussionen über die Entwicklung der westdeutschen Demokratie, über Pluralismus und Parlamentarismus oder die Auseinandersetzungen über den Staat unter der Überschrift „Demokratische Angst“ verhandelt werden. Hier kollidiert die Konzentration des Verfassers auf Angst beziehungsweise Ängste mit seinem Gesamtdarstellungsanspruch, was dazu führt, dass der Angstbegriff streckenweise zerfasert, ja überdehnt wird. Symptomatisch dafür ist die Kapitelüberschrift „Allgegenwärtige Angst“ für die 1970er-Jahre. Dennoch gewinnt die Darstellung durch den kontinuierlichen Angstbezug an erzählerischer Kohärenz und Stringenz. Angst ist dabei – das räumt der Autor offen ein – fast immer die Angst der Mehrheitsgesellschaft. Das ergibt sich nicht zuletzt aus deren Diskursdominanz, der methodisch nicht einfach zu begegnen ist. Biess ist sich zwar der Pluralität von Ängsten in einer Gesellschaft bewusst, unternimmt aber allenfalls indirekt den Versuch, auch die Ängste beziehungsweise Angstwahrnehmungen von Minderheiten oder Randgruppen zu berücksichtigen. Wessen Ängste, wessen Emotionen lassen sich analytisch fassen? Wer hat die Möglichkeit, Ängste besonders im politischen Raum zu artikulieren und mit seinen Ängsten Gehör zu finden – auch bei späteren Historiker/innen? Das bleibt eine Herausforderung für die Emotionsgeschichte allgemein.

Es ist schade, dass das Buch nur in einem allerdings rund 50-seitigen Epilog auf die Entwicklungen ab 1990 eingeht. Denn die Kontinuität von Angstzyklen, womöglich sogar die Verschärfung von Angstkrisen seither ist kaum zu bestreiten. Natürlich hätte eine Verlängerung der Analyse über das Ende der „alten“ Bundesrepublik hinaus neue Herausforderungen mit sich gebracht: die Angstdispositionen der ostdeutschen Bevölkerung beispielsweise; in einem weiteren Sinne die Frage, was es bedeutet und bewirkt, wenn historisch unterschiedlich formierte emotionale Kulturen beziehungsweise emotionale Dispositionen aufeinandertreffen. Oder die Frage nach der wachsenden Relevanz von Transnationalisierungs- und Globalisierungsdynamiken für die Ausformung von Ängsten, nicht zuletzt als Verunsicherungen. Als „Projekte der Angst“ hat Adam Tooze jüngst jene politischen Bewegungen charakterisiert, die zum „Brexit“-Votum oder zur Wahl von Donald Trump geführt haben.2 Und ganz allgemein speist sich der politische Populismus unserer Gegenwart, darin durchaus vergleichbar dem Populismus der Zwischenkriegszeit, aus Ängsten und Verunsicherungen, die allerdings nicht nur ausgenutzt und instrumentalisiert, sondern zum Teil von den Populisten selbst geschaffen werden. Hier öffnet sich die Perspektive weit über nationale Entwicklungen hinaus, ja es stellt sich die Frage, ob und inwieweit man überhaupt noch von nationalen Ängsten sprechen kann. Das müssten vergleichende Studien gründlicher untersuchen, als es hier geschehen konnte. In einem nächsten Schritt wäre nach der nationalen Spezifik der deutschen Angst zu fragen, jener German Angst, der sich Frank Biess im Epilog widmet. Das Buch verweist überzeugend auf die vor allem vergangenheitsbezogene und vergangenheitsgenerierte Angstdisposition der Deutschen. Erst in jüngerer Zeit ist es möglicherweise zu einer stärkeren Verschiebung auf Zukunftsfragen gekommen, losgelöst von den Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Republik der Angst öffnet einen frischen Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik. Das Buch ist keine Gesamtdarstellung, aber das erscheint angesichts der Vielzahl entsprechender Synthesen auch nicht unbedingt notwendig. Vielmehr bietet es eine wichtige Ergänzung und immer wieder auch ein kritisches Korrektiv der existierenden Historiographie. Zugleich steht es beispielhaft für die Möglichkeiten einer politischen Emotionsgeschichte. Darüber hinaus ist es ein durchaus auch gegenwartsdiagnostisches Buch, weil es Entwicklungen und Probleme der Bundesrepublik 70 Jahre nach ihrer Gründung und knapp 30 Jahre nach der deutschen Einheit in eine historische Perspektive stellt, deren zentrales Element, die Dynamik der Angst, uns gegenwärtig viel zu sagen hat – vielleicht mehr, als uns lieb sein kann.

Anmerkungen:
1 Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009; rezensiert von Patrick Wagner, in: H-Soz-Kult, 07.10.2009, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-13004 (19.06.2019).
2 Adam Tooze, Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben, München 2018, Kapitel 23.