K. Hülscher: Das Statutenbuch des Stiftes Xanten

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Titel
Das Statutenbuch des Stiftes Xanten.


Autor(en)
Hülscher, Katharina
Reihe
Die Stiftskirche des Hl. Viktor zu Xanten. Neue Folge 1
Erschienen
Münster 2018: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
710 S.
Preis
€ 86,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Enno Bünz, Historisches Seminar der Universität Leipzig

Das Kollegiatstift St. Viktor in Xanten gehörte zu den größten und bedeutendsten Kollegiatstiften im Bereich der Germania Sacra. Das Interesse an dieser Institution beruht nicht nur auf der monumentalen Stiftskirche und ihrer bedeutenden Ausstattung, sondern auch auf dem beeindruckend umfangreichen Stiftsarchiv, das sich zum größeren Teil noch vor Ort befindet. In den „Veröffentlichungen des Xantener Dombauvereins“ und in der vielbändigen Reihe „Die Stiftskirche des heiligen Viktor zu Xanten“ sind mehrere umfangreiche Editionen mittelalterlicher Quellen erschienen, darunter Memorienverzeichnisse, Rechnungsserien und Briefbücher, die gleichwohl nur einen kleinen Ausschnitt der Überlieferung darstellen.

Nun hat der Verein zur Erhaltung des Xantener Domes das bisherige recht unübersichtliche Konzept seiner Buchreihe aufgegeben und startet in einem neuen Verlag im neuem Format mit einer „Neue Folge“, die der vorliegende stattliche Band eröffnet. Katharina Hübscher wurde mit dieser Untersuchung und Edition 2014/15 an der Ruhr-Universität Bochum promoviert. Im Mittelpunkt der Arbeit, die von Dieter Scheler betreut wurde, steht der aus Kleve stammende Arnold Heymerick, der von 1459 bis 1491 dem Kollegiatstift als Dekan vorstand. Scheler sind mehrere instruktive Studien über Person und Werk dieses niederrheinischen Klerikers und Humanisten zu verdanken.1 Daran knüpft die Arbeit von Katharina Hülscher an, die in ihrem darstellenden Teil auch nochmals Heymericks Vita nachzeichnet.

Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Handschrift H2 des Stiftsarchivs Xanten, die in der Literatur immer wieder als Statutenbuch des Stiftes bezeichnet wird, das Repertorium Decani von 1490. Der vollständigen Edition dieser Handschrift, die S. 205–670 geboten wird, geht ein darstellender Teil voraus, der neben den editorischen Informationen zur Überlieferung und Textgestaltung die erwähnte biographische Skizze Heymericks umfasst, dann unter der Überschrift „Norm und Wirklichkeit“ auf „Missstände, Probleme und Zwischenmenschliches im Xantener Viktorstift“ eingeht, in einem weiteren Kapitel das edierte „Repertorium“ mit Heymericks bislang ungedrucktem Statutenentwurf von 1461 (Staatsbibliothek Berlin, Manuscripta Borussica, f. 279) abgleicht und die Statutenbücher der niederrheinischen Stifte Kranenburg/Zyfflich, St. Marien ad Gradus in Köln sowie St. Mauritz in Münster zum Vergleich heranzieht, um schließlich auf Einflüsse der Chrodegangsregel (Regula canonicorum) und der Aachener Kanonikerregel (Institutio canonicorum) auf Heymericks Repertorium einzugehen. Der untersuchende Teil wird durch eine ausführliche Beschreibung der edierten Handschrift und ihres Inhalts abgerundet. Heymerick sammelte in diesem Repertorium Decani alle erdenklichen Quellen, die für den Dekan als Leiter des Stiftes von Bedeutung waren, darunter neben Statuten auch viele andere Aufzeichnungen, auch solche kirchenrechtlicher Art, Bestimmungen über die Pfarrseelsorge, die Wirtschaftsführung, die Verleihung und Nutzung der Präbenden und anderes mehr. Diesen vielfältigen Inhalt aufgeschlüsselt und hinsichtlich der Vorlagen in der Edition nachgewiesen zu haben, ist das Hauptverdienst der vorliegenden Arbeit.

Die Freude, einen weiteren wichtigen Baustein zur Geschichte des Xantener Kollegiatstifts ediert zu sehen, wird bei intensiverer Beschäftigung mit diesem Werk allerdings durch die Einsicht getrübt, dass dieses Buch weit hinter den Standards der Editionen von Friedrich Wilhelm Oediger, Guido Rotthoff und anderen zurückbleibt. Im Editionsteil stößt man bereits auf der ersten Seite in der zweiten Zeile auf einen Interpunktionsfehler („…indultorum libertatum …“ ohne Komma, S. 205), wundert sich dann über die Wiedergabe moderner Notizen in der Handschrift, die in der Edition berücksichtigt werden (ebd. und öfter), stolpert aber vor allem immer wieder über zahlreiche Lateinfehler (allein S. 292/293 „baldis“ statt „bladis“, „comperanda“ statt „comparanda“, „plane“ statt „plene“, „defactum“ statt „defectum“, die Beispiele ließen sich unschwer vermehren). Irritierend ist die Grundsatzentscheidung, im Editionsteil die Buchstabenanmerkungen für den Sachkommentar zu verwenden, die Zahlenanmerkungen hingegen für die Lesarten, aber auch für Querverweise und Hinweise auf andere Quellen. Es ist zudem nicht immer sachlich nachvollziehbar, was hier in dem einen, da in dem anderen Apparat erscheint. Offenkundig ist hier jemand ohne editorische Erfahrung am Werk, wobei es gewiss schon hilfreich gewesen wäre, die eine oder andere MGH-Edition zur Hand zu nehmen, um diese Ausgabe vernünftig zu gestalten.

Ordentliche Personen-, Orts- und Sachregister sind der Schlüssel für die Auswertung jeder guten Edition. Kopfschüttelnd nimmt man zur Kenntnis, was hier geboten wird: Das Personenregister beginnt mit dem Eintrag „Abatisse in Dalheim, Äbtissin von Dalheim (bei Erkelenz) f. 74v“. Natürlich steht in der Vorlage „abbatisse“, nicht „abatisse“, aber grundsätzlich ist zu fragen, welchen Nutzen hier wie bei zahlreichen anderen Lemmata die Ansetzung unter der lateinischen Amtsbezeichnung haben soll, denn sinnvoller wäre es doch, die Äbtissin von Dalheim im Ortsregister nachzuweisen, was aber nicht erfolgt. Als zweites Lemma folgt dann im Personenregister – wieder falsch angesetzt – „abbatisse Tuiciensis“ (Deutz), dann folgt als drittes Lemma – nun deutsch – „Äbtissin von Neuss“, obwohl auch hier in der Vorlage „abbatisse Nussiensis“ steht bzw. (so Lesung Hülscher S. 431) „abbastisse“, was immer das sein soll! Die Register sind, um es abzukürzen, unbrauchbar, weil ohne jede systematische Überlegung angelegt.

Als „Sachregister“ wird S. 694ff. ein offenbar beliebig kompiliertes Glossar geboten, das von dem Lemma „almutia = Fellmütze“ (statt richtig „almutium“) eröffnet wird; sachlich muss dieses für Kanoniker charakteristische Kleidungsstück eher als fellbesetzter Umhang beschrieben werden. Kopfschüttelnd registriert man sinnlose Lesarten wie „cervisia augutalis“ (statt „augustalis“) oder fragwürdige Übersetzungen wie „corona = geschorener Haarkranz“, statt „Tonsur“. Sehen wir von der Frage ab, wie sinnvoll es ist, statt auf die Seitenzahlen der Edition auf die folio-Angaben der Handschrift zu verweisen, da die Auffindbarkeit dadurch nicht erleichtert wird, denn manchmal erstreckt sich ein Blatt über drei Druckseiten. Dass dieses Sachregister bestenfalls ein eng auswählendes Glossar bietet, das den Inhalt der edierten Handschrift nicht annähernd erschließt, ist mit Bedauern festzustellen.

Ärgerlich wird es, wenn man vom Register zum Quellen- und Literaturverzeichnis übergeht, das aus unerfindlichen Gründen ganz am Ende des Bandes steht und in dem man reihenweise auf falsche oder unvollständige bibliographische Angaben stößt: Lorenz Diffenbach statt Diefenbach, Willibald Plöchel statt Plöchl, Ferdinand Serbt statt Seibt usw. usf. Guy P. Marchal hat nicht „Die Statuten des weltlichen Kollegiatstifts in Basel“ ediert, sondern die des Kollegiatstifts St. Peter in Basel. Besonders apart ist, dass die MGH-Ausgabe der Institutio canonicorum Aquisgranensis gleich mehrfach mit dem Erscheinungsort „Paris 1979“ zitiert wird, obwohl die Edition doch Hannover 1906 und im Nachdruck Hannover 1997 erschienen ist. Der Editor Albert Werminghoff bleibt hier übrigens ungenannt.

Zum auswertenden Teil dieses problematischen, weil nachlässig gearbeiteten Buches nur noch wenige Bemerkungen: Die Verfasserin zieht den Leser in Kapitel 3 gewissermaßen in die spätmittelalterlichen Lebensverhältnisse eines Kollegiatstiftes hinein (dass sie selbst vom „System Kollegiatstift“ schreibt, als würde das irgendwas erklären, ist bezeichnend genug), konfrontiert ihn mit Missständen und anderem, ohne aber auch nur ansatzweise die Organisation und die personelle Zusammensetzung des Stifts als Ausgangspunkt zu skizzieren. Dass Dekan Heymerick manche „Missstände“ und alltäglichen Mängel im Stift wahrnahm und darauf mit der Kompilation seines „Repertoriums“ reagierte, wird deutlich, doch bleibt kritisch zu fragen, wie ernst diese Reformrhetorik zu nehmen ist. Die Verfasserin macht sich hier viel zu sehr die Perspektive des Dekans zu eigen, was nicht Wunder nimmt, weil sie über die tatsächlichen Zustände spätmittelalterlicher Kollegiatstifte zu wenig im Bilde ist.

Wegweisende Studien von Peter Moraw und Guy P. Marchal, von anderen Autoren gar nicht zu reden, sind ihr nicht bekannt, werden nicht zitiert. Für die Rezeption der Aachener Regel in der Reichskirche (S. 153f.) ist übrigens die Dissertation von Rudolf Schieffer (S. 28 Schiefer) maßgeblich, die in diesem Zusammenhang nicht angeführt wird, und für die handschriftliche Verbreitung der Regel ist die Zusammenstellung von Hubert Mordek unverzichtbar.2 Selbst mit dem Forschungsstand zu mittelalterlichen Stiftsstatuten ist die Verfasserin nicht vertraut. Der vergleichende Blick über die niederrheinischen Stifte allein auf St. Mauritz in Münster ist völlig beliebig.3 Gleichwohl kommt sie zu dem richtigen Ergebnis, „dass man es bei Arnolds Werk eher mit einem Nachschlagewerk zu tun hat als mit einem Statutenbuch“ (S. 145). Gewiss, nichts anderes meint auch der Begriff „Repertorium Decani“. Umso bedauerlicher ist, dass die Verfasserin für ihr Buch an einem irreführenden Titel festgehalten hat, der noch dazu ohne zeitliche Einschränkung ganz unverbindlich ist. Die Edition der Xantener Stiftsstatuten wird mit diesem Buch eben nicht vorgelegt, sondern bleibt ein Desiderat.

Der Herausgeber der neuen Reihe, Jens Lieven, kündigt in seinem Vorwort an, die Edition weiterer Quellen wie Rechnungen, Kapitelsprotokolle, Kanonikertestamente und historiographische Texte sei geplant (S. 11), was rückhaltlos zu begrüßen ist. Der vorliegende erste Band entspricht allerdings nicht den Standards, die man von heutigen Editionen erwartet, übrigens auch nicht hinsichtlich der sprachlichen Gestaltung, die von unpräzisen Formulierungen, Redundanzen und Wiederholungen geprägt ist. Um die Schwächen der vorliegenden Edition abzufangen, wäre es wünschenswert, wenn die Handschrift von Heymericks „Repertorium“ als Digitalisat zugänglich gemacht würde. Die vorliegende Arbeit ist für die Benutzung des „Repertoriums“ gewiss eine Hilfe, doch bleibt angesichts der offenkundigen Mängel dieser Edition der Rückgriff auf die Handschrift weiterhin unverzichtbar. Abschließend ist zu wünschen, dass die künftigen Editionsbände dieser Reihe besser gelingen werden. Die Erforschung des Kollegiatstifts Xanten ist aller Anstrengungen wert.

Anmerkungen:
1 Nun zum Teil nachgedruckt in: Dieter Scheler, Stadt und Kirche, Land und Herrschaft am Niederrhein in Mittelalter und anbrechender Neuzeit. Gesammelte Studien (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 30), Münster 2019.
2 Hubert Mordek, Bibliotheca capitularium regum Francorum manuscripta. Überlieferung und Traditionszusammenhang der fränkischen Herrschererlasse (Monumenta Germaniae Historica. Hilfsmittel 15), München 1995, S. 1045–1058.
3 Nicht benutzt wird z.B. die Studie von Jörg Schillinger, Die Statuten der Braunschweiger Kollegiatstifte St. Blasius und St. Cyriakus im späten Mittelalter (Quellen und Studien zur Geschichte des Bistums Hildesheims 1), Hannover 1994, siehe dazu meine kritische Besprechung in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 67 (1995) S. 413–416.

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