Cover
Titel
NaturenKulturen. Denkräume und Werkzeuge für neue politische Ökologien


Herausgeber
Gesing, Friederike; Knecht, Michi; Flitner, Michael; Amelang, Katrin
Reihe
Edition Kulturwissenschaft 146
Anzahl Seiten
513 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Anne Dippel, Universität Jena

Seit Michi Knecht ans Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft der Universität Bremen berufen wurde, ist in das ehemals für Ethnopsychoanalyse berühmte Institut ein neuer Geist eingezogen. Gleich zu Beginn knüpfte sie interdisziplinäre Bande, organisierte mit Michael Flitner und Friederike Gesing, später auch Katrin Amelang das Bremen NatureCultures Lab (BNCL), das sich an der Schnittstelle von Science und Technology Studies, Kulturanthropologie und Humangeographie der Neuverhandlung dichotomischer Konzepte verschreibt, die zum Verständnis von mehr als menschlichen Welten fundamental sind.

Aus diesem Zusammenhang kommt der Sammelband „NaturenKulturen. Denkräume und Werkzeuge für neue politische Ökologien“. Er stellt in dreierlei Hinsicht eine Besonderheit im deutschsprachigen Publikationsraum dar. Erstens überschreitet er spielerisch disziplinäre Grenzen – sei es die (epistemisch leidige) Grenze zwischen Europäischer Ethnologie (ehemals Volkskunde) und Ethnologie (ehemals Völkerkunde) oder die zwischen Humangeographie, Mikrosoziologie und empirischen Science and Technology Studies (STS). Zweitens überwindet die Publikation nationale Grenzen: Das Buch versammelt Arbeiten sowohl international renommierter Forscher/innen als auch in Deutschland etablierter Wissenschaftler/innen. Drittens gelingt den Herausgeber/innen eine harmonische Publikation, deren Beiträge – durchweg auf hohem Niveau – einem deutschsprachigen Publikum den Zugang zu anglophonen Studien ermöglicht, die bis dato ihr Einzeldasein in internationalen Zeitschriften gefristet haben und nun im Zusammenklang mit unveröffentlichten Studien das Profil einer NaturenKulturen-Forschung skizzieren, die auf diese Art wohl einzigartig zu nennen ist.

Das Cover des Buches zeigt einen alpinen Bachlauf, an dem rote Bürolampen aufgestellt sind. Sie tauchen die drapierte Graslandschaft am Ufer in warme, gelbliche Kreise, während über den dahinterliegenden Bergen die Dämmerung hereinbricht. Beim Ansehen verschwimmen die Grenzen von Natur und Kultur: Die Umschlagabbildung „Acknowledge a new found grace“ von Rune Guneriussen (2013) lässt sich programmatisch für das Vorhaben des Herausgeberteams deuten. Sie wollen „Verflechtungen, Fusionen und zirkulierende Praktiken zwischen Natur und Kultur“ beleuchten (S. 7). Gesing, Knecht, Flitner und Amelang zielen weder auf die „Synthese“ zwischen disparaten Forschungsgebieten, noch auf die Etablierung einer neuen „Einheitswissenschaft“. Vielmehr fühlen sie sich „Heterogenität“ und „Multiplizität“ verpflichtet, wollen zur „Steigerung epistemologischer, theoretischer und methodischer Vielfalt" (S. 9f.) beitragen. Das ist ihnen mit den im Folgenden besprochenen Beiträgen durchweg gelungen.

Die Einleitung, vermutlich die derzeit beste Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes, liest sich gerade aufgrund aller oben aufgeführten Absagen als programmatische Schrift. Ihr gedankliches Koordinatensystem eröffnet auf seiner x-Achse ein Spektrum, das von STS über Umwelt-Mensch-Beziehung, Human-Animal Studies bis zur Multispezies-Forschung historisch und aktuell die wichtigsten Tendenzen skizziert. Die y-Achse gibt unter dem Stichwort der Strategie den versammelten Beiträgen Raum, erklärt, weshalb sie den Konzepten „Experiment und Kollaboration“, „Praktiken der Klassifizierung“, „Zwischen_Arten“ und „Politiken der Sorge“ untergeordnet sind.

Anna Tsing verfolgt am Beispiel des Matsutake-Pilzes den „Lieferkettenkapitalismus“ (S. 55). Sie entwirft ausgehend vom Mycel ein ethnografisches Narrativ, das globale Diskurse über Migration, Warenströme, ethnische Identität, Nahrungsethnologie, Naturschutz, race, class und gender in einer Welt voller Grenzen verbindet. Es folgt der Aufsatz Sarah Whatmores, der sich über Hochwasserpolitik in England „Kontroversen über Umweltwissen“ (S. 98) annähert und das „politische Potential der Technowissenschaften“ auslotet (S. 99). Whatmore fragt etwa, ob „das Posthumane oder die Posthumanismen selbst ‚anthropologische Maschinen‘ geworden sind, die unabsichtlich vom ‚Menschen selbst‘ in Bann gehalten werden, sogar noch während sie dessen Ableben verkünden“ (S. 85). Jamie Lorimer und Clemens Driessen widmen sich dem Umweltschutz im Anthropozän am Beispiel des Wiederverwilderungsprojektes Oostvaardersplassen in den Niederlanden. Sie werfen dabei einen erfrischenden Blick auf den Begriff des Experiments (S. 106–110). Die theoretisch inspirierende Studie zeigt anhand des Konik-Pferdes, wie eine Kartierung des Seltenen, eine Verwaltung von nachhaltiger Diversität und Terroir mit lokalen Umweltbewegungen nicht immer harmonisch in Einklang zu bringen sind. Einem klassischen Topos des Übergangs, nämlich dem städtischen Brachland, nähert sich Matthew Gandy über den Begriff des „marginalen Raums“ (S. 147): Der Essay begibt sich auf die Suche nach einer „ökologischen Ästhetik“ (S. 152).

Banu Subramaniam eröffnet den zweiten Abschnitt, indem sie sich als Biologin aus feministischer Perspektive dem populären Konzept der „Invasionsbiologie“ annähert. Sie seziert, wie rassistische Diskurse auf Ökosysteme übertragen werden, und bezweifelt die geradezu populistische „Verteufelung von fremden Arten“ (S. 179), befragt, was als „heimisch“ und was als „fremd“ in Zeiten „menschenverursachter Fortbewegung von Flora und Fauna“ beurteilt wird (S. 192). Spätestens bei diesem Beitrag bedauert man, dass analytisch luzide Arbeiten aus der Volkskunde zu diesem Thema, insbesondere die von Friedemann Schmoll1, nicht mit einbezogen worden sind.

Im Hochland Guatemalas entdeckt Emily Yates-Doerr neue Klassifikationen von Fleisch, das hier „ontologisch vielfältige Formen“ annehmen kann (S. 203). Für die dort lebenden Menschen kann pflanzlicher Fleischersatz ebenso Fleisch sein, wie industriell abgepacktes Fleisch nicht als Fleisch gilt – je nach kollektivem Empfinden und rituellem Gebrauch der Nahrung.

Am Beispiel der Entwicklung der medizinischen Behandlung von Knochenbrüchen durch Forschung an Schafen zeigen Martina Schlünder und Pit Arens in Form einer Graphic Novel innovativ, informativ und unterhaltsam, wie die Moderne neue Mischungen, Cyborgs (Donna Haraway), schuf (S. 253).

Den dritten Teil eröffnet Heather Paxson mit ihrer Studie zur Produktion von Rohmilchkäse in den USA. Die Autorin beschreibt, wie Skalen der Pasteurisierung Politiken der Hygiene erzwingen, die Käsereien und ihre Mikroorganismen gefährden. Auch sie plädiert für eine neue Politik, in diesem Fall um mit „lebendigem Käse zu leben“ (S. 280). Den breiten „affektiven Austausch mit Tieren“, von Emotionen, körperlicher Praxis bis hin zu „materieller (technisierter) Beziehungsperformanz“ im Alltag (S. 294), widmet sich Owain Jones am Beispiel des agrarischen Miteinanders von Menschen, Schafen und Kühen in Wales. Wie in deutschen Pflegeheimen Hunde zur Pflege von alten Menschen beitragen, beschreibt Bettina van Hoven. Sie schließt, dass die „Hundhaftigkeit“ bei der Berücksichtigung der tiergestützten Therapie zentral sei (S. 347). Sven Bergmann nähert sich Klimawandel und Meeresmüll über den Begriff der „Plastisphäre“. Er beschreibt „neue Relationen im Meer“ (S. 363), die sich durch die Sedimentierung von Mikroplastik entwickelten, wobei Ökonomien des Reinigens (Bruno Latour) von Schlamassel (Kim Fortun) entstehen, die politisch wirksame Formen der Wissensproduktion sichtbar machen.

Wie Menschen in Neuseeland darauf reagieren, dass das eingewanderte Possum dem Vogel Kiwi das Leben schwer macht, nimmt Michael Flitner im vierten Teil als Beispiel, um die „moralische Ökonomie unseres tierisch-menschlichen Beziehungsgefüges“ zu analysieren (S. 411), insbesondere des „Sterben Machens“ (S. 400) in Zeiten migrierender Spezies. Die weltweite Konjunktur eines „weichen Küstenschutzes“ aufgreifend (S. 416), erörtert Friederike Gesing am Beispiel Neuseelands praktische Formen der Naturpolitik als „Formen von Sorge(n)“ (S. 419), deren implizite Trennung von Natur und Kultur als politischer Akt begriffen werden muss.

Uli Beisel befasst sich in ihrem Beitrag mit der „Entkopplung mutierender Stechmücken von aktuellen Mückennetzpolitiken“ (S. 450). Sie nimmt die Verbreitung von Malaria zum Anlass, über eine „bescheidenere Haltung [...] gegenüber (nicht nur) Stechmücken“ (S. 470) nachzudenken. Den Abschluss bildet Steve Hinchliffes Aufsatz, der sich dem Konzept „One World One Health“ annähert. Er erörtert, wie eine Kollaboration an der Schnittstelle von Tier, Mensch und Umwelt Infektionskrankheiten eindämmen und zu einem neuen common sense beitragen, gar zu einer „Eine-Welt-Anschauung“ (S. 485) führen kann.

Wenn es an dieser gelungenen Veröffentlichung überhaupt Kritik anzumerken gibt, dann insofern, als sie eine Auseinandersetzung mit der reichen volkskundlichen Naturforschung vermissen lässt. Darüber hinaus sind die Übersetzungen nicht alle gleich gut gelungen. Das liegt aber auch am Ausgangsmaterial. Manche Artikel wurden nicht von englischen Muttersprachler/innen verfasst und im Deutschen scheint das standardisierte Wissenschaftsenglisch durch. Diese Diskrepanz entlarvt Hierarchien im globalen Wissenschaftssystem, wo Nichtmuttersprachler/innen dazu gezwungen werden, im Englischen zu denken und mit „Natives“ zu konkurrieren. Sollte daher nicht der Kunst der Übersetzung durch Menschen in heutiger Zeit größere Bedeutung beigemessen werden? Letzteres drängt sich umso mehr auf, wenn man, wie hier, die außergewöhnliche Leistung von sensiblen Übersetzer/innen wie Robin Cackett vor Augen geführt bekommt.

Anmerkung:
1 Friedemann Schmoll, „Multikulti im Tierreich”. Über das Fremde in der Natur, Globalisierung und Ökologie, in: Zeitschrift für Volkskunde 99 (2003), S. 51–64.