„Update!“ – der titelgebende Imperativ verweist auf die zentrale Problemstellung von Franziska Hellers Studie: Jedes „Updaten“, jedes Aktualisieren, jede Überführung in ein anderes Format ist ein Eingreifen, Verändern, (Neu-)Aneignen in einem spezifischen historischen Kontext, entsprechend der technologischen, diskursiven, medialen und sozio-ökonomischen Bedingungen. Die Frage, was bei der Umwandlung von analogen in digitale Formate passiert, untersucht Heller am Beispiel Film für die letzten 25 Jahre. Der Prozess der Digitalisierung wird dabei nicht nur als technologische Transition verstanden, sondern vor allem als diskursiv und ideologisch überformte ästhetische und kulturelle Praxis. Ziel ist es, mit einem kulturgeschichtlich-medienarchäologischen Ansatz zu untersuchen, wie die Modellierung medial vermittelter Geschichtsbilder als „Produkt und Faktor einer medienspezifischen Erinnerungskultur von und mit Filmen“ (S. 441) erfolgt. Dabei liegt ein Fokus auf der bisher vernachlässigten wahrnehmungstheoretischen Dimension.
Die Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich 2018 als Habilitationsschrift angenommen, was dem Duktus und den ausführlichen Diskussionen im Fußnotenapparat anzumerken ist. Dem Gegenstand entsprechend ist die Studie netzartig mit zahlreichen Querverweisen angelegt. Digitalisierung versteht Heller explizit als methodologische und medienhistoriografische Herausforderung, der sie auf sehr hohem theoretischem Niveau begegnet mit der Verwendung von Konzepten und Begriffen aus der Zeitphilosophie, Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte, Kulturwissenschaft, Film- und Medienwissenschaft, Soziologie und der politischen Ökonomie. Historiografisch gründet Heller ihren Ansatz auf Reinhart Kosellecks Überlegungen zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Diesen verknüpft sie mit dem zeitphilosophischen Modell von Gilles Deleuze, das Filmbilder versteht als wechselseitige Bilder zwischen aktuellem Bild und Erinnerungs-Bild. Die heterogenen zeitlichen Schichten, die Wahrnehmung und Wirkung von Bildern beeinflussen, fasst Heller methodisch unter dem Begriff des „Clusters“. Cluster als interagierende zeitliche Schichtungen sind historiografisch wirksam, indem sie unterschiedliche Angebote der Erfahrung von Geschichte und Geschichtlichkeit bieten.
In vier nach Clustern strukturierten Kapiteln werden anhand zahlreicher Fallstudien Digitalisate (= digitalisierte Filme, digitale Filmrestaurationen), digitale Editionen (DVD, Blu-Ray) und digitale Dispositive untersucht. Neben der ausführlichen theoretischen Reflexion ist die Bandbreite des Korpus hervorzuheben, die Produkte der Unterhaltungsindustrie ebenso analysiert wie Klassiker der Filmgeschichte, historische Dokumentationen und Bonusmaterial sowie Events und Filmfestivals. Die ästhetisch versierten Analysen der Filmbeispiele sind mit 150 teils farbigen Abbildungen illustriert, die die Argumentation auch sinnlich nachvollziehbar machen. Da das Buch kapitelweise zur Ansicht und im PDF-Format auf der Homepage des Verlags im Open Access zugänglich ist, lässt sich der hohe Preis des gedruckten Bandes verschmerzen.1
In den einleitenden Kapiteln werden Charakteristika digitaler Bilder diskutiert. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass ihre digitale Eigenschaft nicht unmittelbar sichtbar oder erfahrbar ist. Auf wirkungstheoretischer Ebene handelt es sich entsprechend um ein mediales Vermittlungsproblem. Das bedeutet, es muss beim Rezipienten erst der Glaube an eine spezifische Qualität geschaffen und vermittelt werden. Im kulturindustriellen Kontext ist dies an manifeste ökonomische Interessen gekoppelt. Wie die Interaktion mit den Konsumenten erfolgt, analysiert Heller im Anschluss an das Konzept der Warenästhetik von Wolfgang Fritz Haug2, in dem die Imagination des Konsumenten eine wichtige aktive Funktion einnimmt.
Anschließend untersucht Heller Werbeclips zu digitalen Re-Editionen und ermittelt als bestimmende ästhetische Strategie eine Fetischisierung des Filmerlebnisses und der Kinogeschichte (1. Cluster). Eine häufig verwendete Strategie ist beispielsweise eine Vorher-Nachher-Gegenüberstellung von nichtrestaurierten und restaurierten Bildern im split screen, um die Qualitätsunterschiede anschaulich als Kaufargument zu vermitteln. Die Fetischisierung des Digitalen mit dem Versprechen neuer, ungekannter Erlebnisqualität von „alten“ Filmen speist sich aus dem „Technoimaginären“ (der Begriff schließt an Hartmut Böhmes Kulturanalyse an).3
Heller folgt einem pragmatischen Ansatz, dessen Dimensionen im fünften Kapitel (2. Cluster) präzisiert werden. Hier stehen Aspekte digitaler Performance und des Zuschauenden als Vollzugsinstanz im Mittelpunkt. Sogenannte Restoration Talks, die Vorführung restaurierter Filme mit ausführlichen Erklärungen zur Restaurierung, versteht Heller als performative Form der Kontextualisierung. Deren Analyse zeigt, wie im faszinativen Erleben des Films zugleich auch die Leistung des Restaurierungsprozesses nachvollzogen wird. Entsprechend sieht Heller in Restoration Talks eine Form der aisthetischen Historiografie (im Anschluss an Gernot Böhmes Aisthetik-Modell). Bei dieser Form der Geschichtsbildmodellierung greifen im Akt des sinnlich-unmittelbaren Erlebens die unterschiedlichen Zeitschichten der Bilder mit dem Erfahrungshorizont des Rezipienten ineinander.
Die Funktionalisierung des Imaginären in aisthetischer Historiografie steht im Mittelpunkt des sechsten Kapitels (3. Cluster) am Beispiel von Filmen, die mit Schaulust und filmischem Spektakel operieren. Heller analysiert filmhistorische Dokumentationen zu Filmrestaurierungen, die aus fiktionalem und nicht-fiktionalem Quellenmaterial bestehen: beispielsweise die begleitende Dokumentation zur Re-Edition (2011) von Georges Méliès’ „Die Reise zum Mond“ („Le Voyage dans la Lune“, Frankreich 1902), in der Tom Hanks vor einer Mondkulisse sitzend verkündet, dass es ohne Méliès’ Imagination keine reale Mondlandung 1969 gegeben hätte. Filmische Fiktion und historischer Fakt interagieren hier mit dem Effekt, dass Bilder der Filmgeschichte und Bilder der Zeitgeschichte ineinander aufgehen. Auf Basis weiterer Beispiele zeigt die Autorin, wie über filmische Verfahren Fakt und Fiktion verschmolzen werden, was „das filmisch Imaginär-Utopische als Bestandteil des vermittelten Geschichtsbildes nicht nur annimmt, sondern sogar ausstellt“ (S. 265). Es handelt sich also nicht um eine Umschreibung des Fiktionalen zum Dokumentarischen, sondern um die affirmative Ausstellung und Aufwertung des Imaginären als realisierbare Utopie – wohinter ein mythisches Geschichtsbild steckt. Politisch-ideologische Implikationen dieser Formen aisthetischer Historiografie verdeutlicht die Analyse der Dokumentation „Münchhausen – Ein Mythos in Agfa-Color“ (Deutschland 2005, Gert und Nina Koshofer) über die populäre Ufa-Produktion „Münchhausen“ (Deutschland 1942/43, Josef von Baky), in der ausführlich der Farbfilm „Opfergang“ (Deutschland 1942/44) von Veith Harlan zitiert wird. Heller zeigt, wie Spielfilmszenen aus diesen Filmen als vermeintlich selbstevidente Dokumente verwendet werden und im Zelebrieren der technischen Leistung des historischen Farbfilms das Technoimaginäre als in die Gegenwart wirkende Vergangenheit fetischisiert wird. Indem die Filmgeschichte mit dem Filmerlebnis verknüpft wird, wirken die Schauwerte der Spielfilmzitate erfahrungsbildend auf die Vorstellung von Geschichte. Diese Elemente baut der Zuschauer prothetisch in seine Biographie ein, das heißt, dass medial Erfahrenes identitätsbildend in die Autobiographie integriert wird.
Das siebte Kapitel (4. Cluster) hat insofern resümierenden Charakter, als die unterschiedlichen Objekte der vorherigen Kapitel in der Perspektive einer Mise en Relation untersucht werden. Unter Mise en Relation versteht Heller ein Prinzip, das Wahrnehmungsakt, -haltung und -erfahrung angesichts von zeitlichen Differenzen in deren Zusammenspiel fasst. Als Fallbeispiele dienen verschiedene Versionen eines Films. Das Nebeneinander verschiedener Fassungen vermittelt als prägende Erfahrung Relativität, es gibt nicht mehr die „eine“, „definitive“ Version. Die Filme befinden sich so in einem ständigen Wandel, abhängig von den jeweiligen (medialen) Bedingungen und dem Rezipienten beziehungsweise Nutzer. Heller belegt schlüssig die paradoxe These, dass die Erfahrung der „Versionenhaftigkeit“ in der digitalen Domäne ein zentrales Argument zur Valorisierung des Films als Kunstwerk ist, wofür im Anschluss an Bourdieu der Begriff „Konsekration“ verwendet wird.
Auswirkungen auf die Modellierung von Geschichtsbildern veranschaulicht Heller am Beispiel von „Das Erbe der Nibelungen“ (Deutschland 2011, Guido Altendorf). Diese Dokumentation über den Nibelungen-Klassiker von Fritz Lang (Zwei Teile, Deutschland 1922/24) zeigt dessen ideologische Instrumentalisierung mit direkten und indirekten Bildzitaten in nationalsozialistischen Propagandafilmen. Jedoch verschwimmen durch die ästhetische Dichte und präsentische Eindrücklichkeit der Bilder in der Dokumentation die Lektüreformen. So vervielfachen sich die Perspektiven und produzieren eine wechselseitige Auratisierung. Letzten Endes trägt die Pluralität des Clusters im kulturindustriellen Kontext zum Mythos des editierten Films bei.
Als Ergebnis konstatiert Heller, dass in der Wahrnehmung des Digitalen verschiedene, zum Teil gegenläufige, Konzepte existieren, die ästhetisch, diskursiv und dispositivisch stets dem Kontext entsprechend neu ausgehandelt werden. „Diese Konfigurationen im Zeichen der digitalen Domäne gehorchen nicht einer Logik oder einer Ideologie […], vielmehr funktionieren sie als vieldeutige und -schichtige Cluster“ (S. 424, Hervorhebungen im Original). Wenn es auch keine eindeutige Semantik und vereinheitlichbare Funktionslogik des Digitalen gibt, ermittelt Heller als vereinheitlichenden Effekt eine mediale Geschichtsbildmodellierung, die „nicht mehr zwischen Fakt, Fiktion und medialer Erfahrung unterscheidet“ (S. 425).
Hellers Studie zur „Film- und Mediengeschichte im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit“ zeichnet sich neben fachkundigen Fallanalysen in der Domäne des Digitalen vor allem dadurch aus, wie sie das Phänomen Digitalisierung in seinen verschiedenen Dimensionen beleuchtet und wahrnehmungstheoretische Effekte in der Konstruktion von Geschichtsbildern reflektiert. Ein wichtiger Befund lautet: „Digitalisate und digitale Dispositive inkorporieren das filmisch Imaginäre als prothetische Erinnerung und vermitteln diese als Geschichte“ (S. 451). In einer Zeit, in der die Spanne bis zum nächsten Update immer kürzer wird, hat Franziska Heller eine (ge-)wichtige, grundlegende Arbeit vorgelegt, die aufgrund ihrer theoretischen Überlegungen und methodischen Vorschläge über das Medium Film hinaus relevant ist.
Anmerkungen:
1https://www.fink.de/view/title/55287 (17.09.2020). Die Publikation wurde vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützt, der den kostenlosen Zugang zur Bedingung macht.
2 Wolfgang Fritz Haug, Kritik der Warenästhetik. Gefolgt von Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus, überarbeitete Neuausgabe, Frankfurt am Main 2009 (1. Aufl. 1971).
3 Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, 3. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2012 (1. Aufl. 2006).