: Der frühneuzeitliche Kometendiskurs im Spiegel deutschsprachiger Flugschriften Stuttgart 2020 : Franz Steiner Verlag, ISBN 978-3-515-12517-8 583 S. € 84,00

: Frühneuzeitlicher Wissenswandel. Kometenerscheinungen in der Druckpublizistik des Heiligen Römischen Reiches. Bremen 2020 : Edition Lumière, ISBN 978-3-943245-94-3 860 S. € 49,80

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Bellingradt, Institut für Buchwissenschaft, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Kometenerscheinungen sind auch heute noch gelegentlich sogenannte Medienereignisse. Folgt man der sehr umfangreichen historiografischen Aufarbeitung zu beobachteten Kometen, so darf man vermuten: Vorbeifliegende kosmische Objekte haben Erdenbewohner/innen schon immer zu medialen Anschlusskommunikationen und sozialen Folgehandlungen motiviert. Während 2020 unter anderem der freiäugig, also ohne Teleskop- oder Fernrohrnutzung sichtbare Komet C/2020 F3 („Neowise“) für mediale Aufmerksamkeit sorgte, erschienen zwei Studien, die sich Kometenerscheinungen der europäischen Frühen Neuzeit widmen. Sowohl Doris Grubers als auch Anna Jerratschs Buch sind überarbeitete geschichtswissenschaftliche Dissertationen, die an der Universität Graz (Gruber) bzw. der Humboldt-Universität zu Berlin (Jerratsch) angenommen wurden. Beide Arbeiten widmen sich einem interdisziplinären und beliebten Forschungsfeld rund um vormoderne Kometenerscheinungen, dessen Fülle an Publikationen und Forschungsmeinungen beeindruckt und bisweilen zur Unübersichtlichkeit neigt. Wenn es einen Tenor all dieser Forschungsströmungen gibt, so wäre dies vielleicht die Feststellung, dass sich das frühneuzeitliche Wissen über Kometenerscheinungen in Auseinandersetzung mit antiken Wissensbeständen formierte und stetig veränderte. Im Mittelpunkt beider quellennah geschriebenen, medienanalytisch und wissenshistorisch ausgerichteten Studien steht der von menschlichen Beobachtungsleistungen ausgelöste Wissenswandel: Für Jerratsch waren frühneuzeitliche Kometen „herausfordernde Objekte“, die als „Motor von Medien- und Wissenswandel“ fungierten (S. 18); für Gruber sind Kometenerscheinungen ein wesentlicher Faktor der generellen medialen Wandlungsprozesse von Wissensbeständen während der Frühen Neuzeit. Beide Studien setzen, in unterschiedlichem Umfang, auf die Auswertung von deutschsprachiger Flugpublizistik.

Das rund 850 Seiten umfassende Buch von Doris Gruber analysiert exemplarisch die drei Kometenerscheinungen von 1577/78, 1680/81 und 1743/44, die als historisch greifbare Momente aus längeren Kommunikationsprozessen verstanden werden und deren medialen Spuren im gedruckten Medienspektrum aufschlussreiche Erkenntnisse über den situativen Stand und Wandel des Wissens über Kometen ermöglichen sollen. Die Autorin setzt somit auf eine zusammenhängende Analyse von drei Kommunikationssituationen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, die sie als besondere Medienereignisse würdigt und mit Blick auf sich wandelndes „Kometenwissen“ thematisiert. Bei dieser Herangehensweise wird auf eine leitende Forschungsprämisse der jüngeren Medien- und Kommunikationsgeschichte Bezug genommen, nach der von einem relationalen Verständnis von medialer Produktion und Wissensgenerierung auszugehen ist. In Grubers Worten heißt dies deutlich: Es gibt ein „Wechselverhältnis von Wissens- und Medienwandel“ (S. 49). Laut der Autorin sind es die Zusammenhänge zwischen sich veränderndem „Kometenwissen“ und einem „sich immer stärker ausdifferenzierenden Mediengeflecht“ der Frühen Neuzeit (ebd.), die diese überarbeitete Dissertation beleuchten will.

Um eine solch komplexe Analyse umsichtig anstellen zu können, setzt die Arbeit in überzeugender Manier auf einen vergleichenden Ansatz, der die anvisierten Wandlungsprozesse anhand eines multiperspektivischen Blicks auf einen Teil des mittels einer Drucktechnik hergestellten Medienspektrums (Druckpublizistik) ermöglicht. Als Analysegebiet und medialer Resonanzraum wird das Heilige Römische Reich Deutscher Nation betrachtet. Bei der Auswahl der relevanten Publikationsformen – bisweilen auch „printmedialer Output“ genannt – setzt Gruber gekonnt auf eine breite, kombinatorisch anlassgebundene und seriell-periodische Medienformate umfassende Perspektive: Flugpublizistik, Schreibkalender, Messrelationen und, soweit bereits verfügbar, Zeitschriftenartikel finden Berücksichtigung. Insgesamt kann die Studie auf mehr als 500 ermittelte und im Anhang detailliert ausgewiesene Drucktitel verweisen. Mittels des umsichtig erklärten Analyseblicks auf die intermedialen (das heißt intertextuellen und interpiktoralen) Beziehungen der einzelnen Publikationsformen und ihrer Themenaufbereitung zu Kometenerscheinungen positioniert sich die Arbeit innerhalb jüngerer Strömungen zur Kommunikationsgeschichte der Frühen Neuzeit. In diesen historiografischen Strömungen haben Anschlusskommunikationen, mediale Echos und Weiterverarbeitungsmuster innerhalb des Medienverbundes bzw. eines Mediensystems zunehmend an Bedeutung gewonnen.1 Gruber zielt auf diese intermedialen Anschlusskommunikationen und ihre Dynamiken, wenn vom „Breitenwirkungspotential“ bestimmter medialer Formate die Rede ist.

Nach umfangreichen Einblicken in die Forschungsstände zu den ausgewählten Publikationsformen folgt der eigentliche empirische Teil der Dissertation: die Analyse der Publizistik zu den drei Kometenerscheinungen. In sehr detaillierten Schritten zu einem exemplarischen „Bestseller“ aus der Publizistik werden jeweils „Wissensbestände“ behandelt, „epistemische Praktiken: Kodierungen in Text und Bild“ beleuchtet und die „Produktion und Rezeption der Kometenpublizistik“ thematisiert ( S. 111–442). In den rund 100 Seiten zu jeder Kommunikationssituation zeigt sich deutlich die beratende Schwerpunktsetzung zur handwerklichen Sorgfalt im Umgang mit frühneuzeitlichen Schrift- und Bildmedien seitens der Doktormutter Gabriele Haug-Moritz (Graz). Abgeschlossen wird die lange, manchmal zu Redundanzen neigende Arbeit von einem auffallend kurzen Synthesekapitel: „Kometenwissen im Wandel“, auf das ein fast 450 Seiten umfassender Anhang mit einer beeindruckenden Detail-Bibliografie zu den berücksichtigten rund 500 Drucktiteln der Flugpublizistik, Schreibkalender, Messrelationen etc. folgt.

Was findet die Studie neben Dutzenden von wertvollen Kleinbefunden bei diesem Aufwand heraus? Aus dem Abgleich mit dem aktivierten und veränderten „Kometenwissen“ älterer medialer Diskurse kann Gruber nachweisen, „dass alle Wissensbestände in einem engen gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis standen und die vielfachen Überlagerungen neue Theorien und deren Akzeptanz mitunter befruchteten oder auch vereitelten“ (S. 450). Im Vergleich der geführten Diskurse wird der unterstellte Zusammenhang zwischen Medienwandel und Wissenswandel bestätigt und vielfach überraschend nuanciert. Die „Sackgassen und Rückkoppelungen“ (S. 451) dieses Prozesses und die ihn begleitenden Argumente werden deutlicher sichtbar: So tauchen zum Beispiel heilsgeschichtliche Deutungen immer wieder auf und führen zu Umwegen, Rückschritten und der Etablierung damals eigentlich schon überholter – und aus heutiger Sicht falscher – Wissensbestände. Aus Grubers Buch, das durch quellennahe Argumentation und analytische Schärfe besticht, lässt sich problemlos eine konstante „Kometenfurcht“ erkennen, gegen die Neugier, „rationale“ Argumente und selbst gut lesbare und weit verbreitete Flugschriften nicht immer eine Chance auf elitäre und breitenrezeptive Wahrnehmung und Anerkennung hatten.

Anna Jerratschs Studie widmet sich deutschsprachiger Flugpublizistik zu Kometenerscheinungen zwischen ca. 1530 und 1680. Jerratsch überrascht einleitend terminologisch, wenn sie Flugschriften in die vagen Kategorien „Kleinliteratur“ und „Gelegenheitsliteratur“ einordnet und hierzu auch noch andere Varianten von fliegenden Blättern, nämlich bebilderte und unbebilderte Einblattdrucke zählt; recht versteckt in einer Anmerkung (54 auf Seite 33). „Kometenflugschriften“ könnten so sowohl Flugblätter wie Flugschriften, also einblättrige wie mehrblättrige fliegende Druckpublikationen sein. Die Einschätzung, wonach man „den Begriff Flugschriften [...] als inhaltsneutralen und medialen Oberbegriff [nutzt, D. B.], unter den sich auch Einblattdrucke oder Flugblätter subsumieren lassen“, hat die Autorin wohl exklusiv. Ansonsten positioniert Jerratsch ihre Untersuchungsperspektiven relativ sicher innerhalb der relevanten Forschungsströmungen und betont die Problematik der älteren „Massenmedium“-Einschätzungen. Indem sie auf die Leser/innen- und Hörer/innengruppen von Flugpublizistik achtet, zeigt sie ebenso ein Gespür für die Reichweiten „der anlassbezogenen deutschsprachigen Druckmedien nicht zu großen Umfangs“ (S.38).

Jerratsch analysiert und rekonstruiert zeitgenössische „Diskurse“, die in deutschsprachigen „Kometenflugschriften“, also den einblättrigen und mehrblättrigen Varianten der Flugpublizistik, binnen fünf Jahren nach Kometenerscheinung nachweisbar sind. Die Analyse berücksichtigt laut eigener Auskunft mehr als 630 Drucktitel – im Anhang finden sich allerdings „nur“ rund 250 frühneuzeitliche Drucktitel als „Primärquellen“ ausgewiesen – und wird anhand von sieben chronologisch geordneten Fallstudien angestellt; gerahmt sind diese Fallstudien durch einführende Abschnitte zu „Kometen in der Frühen Neuzeit“, deren Diskurskontexten, zur Formation eines integrierten Kometenbildes in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, und einem bilanzierenden Schlusskapitel. In den einzelnen Fallstudien, die jeweils 30 bis 50 Seiten umfassen, wird der Forschungsstand zu den einzelnen Kommunikationssituationen präsentiert und eingeordnet und danach die „textuelle Verarbeitung“ von wichtigen Problemstellungen und Themen der jeweiligen Kometenerscheinung beleuchtet. Fixpunkte der Analyse sind hierbei die Grenzen, Beziehungen und Übergänge zwischen naturkundlichen (wie mathematisch-astronomischen), theologischen und astrologischen Wissensbeständen, die dann zielführend einen „im Diskurs greifbaren Wissenswandel“, so Jerratsch (S. 52), historiografisch sichtbar machen.

Medienhistorisch wertvoll ist Jerratsch Befund, dass die untersuchte Flugpublizistik „prinzipiell für alle Adressatenkreise gleichermaßen von Interesse“ war (S. 494) und dass die ausgelösten Anschlusskommunikationen der Publizistik eine themengebundene, „eigene Öffentlichkeit geschaffen“ habe (ebd.). Etwas mehr Berücksichtigung der verfügbaren medien- und pressehistorischen Studien hätte hier den empirischen Befunden mehr Tiefgang gegeben. Da bei Flugschrift und Flugblatt nur die „textuelle“ Ebene im Fokus stand, sind die Aussagen zu Bildargumenten – im sogenannten illustrierten Flugblatt – sehr reduziert. Die wissenshistorischen Ausführungen zu den medialen Kometen-Reaktionen von 1577 bis 1680 sind überzeugend und anregend geschrieben, und können mit Gewinn gelesen werden. Eine Deutung überrascht indes: Laut Jerratsch hörte der in deutschsprachigen Flugdrucken nachweisbare Kometendiskurs abrupt nach 1680 auf. Nicht nur ein schneller Blick in die europäischen Datenbanken zu Druckpublikationen vor 1800 widerspricht dieser These, sondern auch Doris Grubers fast zeitgleich publizierte Dissertation dokumentiert eine Fülle von fliegenden und periodisch-seriellen Publikationen mit Kometenthemen und -bezügen im 18. Jahrhundert.

Beide Studien sind mit kleinen Einschränkungen als Gewinn zu lesen, aufgrund der Themennähe sollte dies im Idealfall ergänzend und parallel geschehen. Es bestätigt sich abermals beim Blick auf Kometen, dass die Frühe Neuzeit als eine Phase beschleunigter medialer Veränderungsprozesse zu gelten hat. Deutlich wird zudem der hohe Quellenwert von Flugpublizistik für medien- und wissenshistorische Forschungen. Die fliegenden Blätter sollten innerhalb des Medienverbundes – oder zumindest innerhalb des gedruckten Medienspektrums, wie es Gruber überzeugend demonstriert – kontextualisiert werden, weil der historische Blick sonst mit künstlichen Scheuklappen ausgestattet wird. Da es auch nach diesen dicken Büchern noch genügend offene Baustellen zu frühneuzeitlichem „Kometenwissen“ (Gruber) gibt, dürfen sich die Folgeforschungen durch Gruber und Jerratsch zu mehr Quellenbewusstsein ermuntert fühlen.

Anmerkung:
1 Vgl. Johannes Arndt, Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit. Die publizistische Darstellung politischer Konflikte im Heiligen Römischen Reich 1648–1750, Göttingen 2013; Johannes Arndt / Esther-Beate Körber, Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit 1600–1750, in: dies. (Hrsg.), Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit (1600–1750), Göttingen 2010, S. 1–25; Daniel Bellingradt / Massimo Rospocher, A History of Early Modern Communication, in: dies. (Hrsg.), A History of Early Modern Communication. German and Italian Historiographical Perspectives (= Annali dell’Istituto storico italo-germanico / Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts, Bd. 45/2), Bologna 2019, S. 7–22.

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