Cover
Titel
Consumption and Violence. Radical Protest in Cold-War West Germany


Autor(en)
Sedlmaier, Alexander
Reihe
Social History, Popular Culture, and Politics in Germany
Erschienen
Anzahl Seiten
335 S.
Preis
€ 37,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Gerth, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Auch wenn seit der ersten „Hochphase“ der Konsumgeschichte bereits einige Jahre vergangen sind1, besteht nach wie vor ein reges Interesse an konsumhistorischen Themen. Neuere Arbeiten widmen sich dabei zunehmend spezifischeren Forschungsfragen, die oft jedoch durch transnationale oder globale Perspektiven erweitert werden.2 Alexander Sedlmaiers hier zu besprechende Monografie hat den Anspruch, sich eines Desiderats konsumhistorischer Forschung anzunehmen, nämlich der Verbindungen und Wechselwirkungen von Konsum und (politischer) Gewalt.3 Am bundesrepublikanischen Beispiel untersucht Sedlmaier dabei ein recht breites Spektrum des alternativen Milieus mit dessen gewaltsamen und militanten Protestformen. Konsum, so die These, stellte dabei einen für die verschiedenen Bewegungen und Gruppierungen gemeinsamen sowie für das alternative (Protest-)Milieu der Bundesrepublik insgesamt konstitutiven Bezugspunkt ideologischer Rechtfertigung dar. Hinreichend zu verstehen sei die Radikalität der Proteste zwischen 1960 und 1990 nur dann, wenn man neben der inhärenten Herrschaftskritik auch deren konsumkritische Elemente ernstnehme. Zusätzlich zum konsumhistorischen Schwerpunkt knüpft Sedlmaier damit an die ebenfalls publikationsstarke Forschung zu sozialen Bewegungen und alternativen Milieus an.4

Dass es dem in Bangor (Wales) lehrenden Autor gelingt, das disparate Spektrum an Akteuren und Aktionen des alternativen Milieus in eine kohärente Erzählung einzubetten und dabei sowohl Querbezüge zwischen den verschiedenen Akteuren als auch Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Aktionen deutlich herauszuarbeiten, ist dem dichten und zugleich detailreichen Stil sowie der themenspezifischen Gliederung des Buches zu verdanken. In sieben, grob chronologisch angeordneten Kapiteln stehen jeweils konkrete Konsumkontexte im Fokus, anhand derer sich politische Gewalt entzündete oder zumindest debattiert wurde. Im ersten Kapitel betrifft dies vor allem Anschläge auf Kaufhäuser als Symbole der Konsumgesellschaft. Sedlmaier zeichnet dabei nach, wie im Rahmen von Kunstaktionen und Go-Ins der 1960er-Jahre nicht nur Diebstahl als Herrschaftskritik interpretiert wurde, sondern sich hieraus gleichzeitig antikapitalistische und gewaltsame Guerillapraktiken als scheinbar legitime Formen dieser Kritik etablierten. Mit den ideologischen Grundlagen solcher Konsum- und Herrschaftskritik beschäftigt sich Sedlmaier intensiver in Kapitel 2. Eine tragende Rolle im Rahmen der Studierendenproteste und deren radikalen bis militaristischen Nachfolgern schreibt er dabei den Werken Herbert Marcuses zu. Hierbei rekurriert er nicht nur kenntnisreich auf dessen Schriften, sondern zeigt auch die reziproke Beeinflussung von Theorie und Bewegungen auf.

Der daran anschließende, wiederum stark ideologiebezogene Teil widmet sich der Radikalisierung beziehungsweise Militarisierung von Protestgruppen. Dementsprechend liegt der inhaltliche Schwerpunkt auf der Roten Armee Fraktion (insbesondere auf den Schriften Ulrike Meinhofs) sowie der „Bewegung 2. Juni“. Sedlmaier versucht dabei aufzuzeigen, wie die viel zitierte „Konsumscheiße“ (S. 108) beständiger Teil von Herrschaftskritik und Gewaltrechtfertigung geblieben ist. Trotz der Ausführlichkeit des dritten Kapitels (rund 50 Seiten) gelingt ihm dieses Vorhaben weniger gut als in den beiden folgenden Abschnitten zu Fahrpreisprotesten (Kapitel 4) beziehungsweise zu Anti-Springer-Kampagnen (Kapitel 5), welche die gelungensten Teile des Buches sind. In beiden Fällen differenziert Sedlmaier plausibel innerhalb des Spektrums der jeweils beteiligten Akteure. Auch die unterschiedlich radikalen Forderungen mit Blick auf alternative Wirtschaftsformen werden gut herausgearbeitet und auf ihren gesamtgesellschaftlichen Rückhalt hinterfragt – ein Punkt, der im dritten Kapitel ausführlicher hätte beachtet werden können.

Kapitel 6 behandelt die Hausbesetzerszene, Kapitel 7 nähert sich der zunehmenden Aufmerksamkeit für globalisierte Wirtschaftszusammenhänge in den 1980er-Jahren einerseits und deren Herausforderung durch moralische (Gegen-)Ökonomien andererseits. Die beiden Kapitel stellen dabei insofern eine Einheit dar, als sie auf sich wandelnde, eben weniger gewaltförmige oder gewaltlose Protestformen eingehen (Hausprojekte, Fairer Handel, Boykotte). Dass gewaltsame Konsumproteste damit keinesfalls völlig beendet waren, zeigt Sedlmaier gleichermaßen – unter anderem anhand der Auseinandersetzungen in kommerzialisierten öffentlichen Räumen anlässlich der Tagung von Weltbank und Internationalem Währungsfonds 1988 in West-Berlin.

Es ist ein wesentliches Verdienst des Autors, dass er pointiert herausarbeitet, welche grundsätzliche Relevanz Konsum im Rahmen der Proteste des alternativen Milieus besessen hat. Auch die Vielfalt der Akteure, die jenseits der „klassischen“ Konsumentenbewegungen und Verbraucherverbände den Anspruch erhoben, für „die“ Konsumenten zu sprechen, wird anschaulich dargestellt. Die ökonomischen Bedingungen, sozialen Folgen und politischen Kontexte des Konsums – kurzum: das gemeinsame Angriffsziel der dargestellten Proteste – fasst Sedlmaier als „regimes of provision“ (S. 11) zusammen. Dass dieser Begriff selten eine hinreichende analytische Tiefenschärfe erlangt – zu vielfältig erscheint der Bedeutungsgehalt –, ist dem Anliegen des Verfassers nicht abträglich. Mit Akribie widmet er sich den stetigen Friktionen der westdeutschen Konsumgesellschaft jenseits bekannter Zäsuren und liefert damit eine angenehme Abwechslung zum latent präsenten Telos manch anderer konsumhistorischer Arbeit. Die große Stärke des Buches liegt indes in dem Umstand, dass Sedlmaier seine Untersuchungssubjekte ernstnimmt. Das schlägt sich sowohl in der Quellenauswahl nieder, die die Bestände etlicher Bewegungsarchive berücksichtigt, als auch im steten Bemühen, die Argumente der Protagonisten rational zu deuten. Aus der Perspektive von Bewegungsakteuren werden dabei nicht nur Spannungen und Widersprüche innerhalb der Bewegungen sehr deutlich herausgearbeitet. Staatliche Gewalt wird zudem als eine Form der Stabilisierung bestimmter „Konsumregime“ interpretierbar.

Allerdings wird Sedlmaier dem Vorwurf nicht entgehen können, er treibe seine Argumentation allzu sehr auf die Spitze. Die zuweilen recht kleinteiligen Untersuchungsrahmen erweisen sich immer dann als Hindernis, wenn eine ausreichende Kontextualisierung fehlt. So handelte es sich bei den angeführten Protestbeispielen eben selten um eine „radical mobilisation of discontent among West German consumers“ (S. 278), sondern oftmals lediglich um die Aktionen kleiner Minderheiten, die in weiteren Konsumentenkreisen auf wenig Verständnis stießen. Hier steht Sedlmaiers Grundannahme, „regimes of provision“ seien prinzipiell verhandelbar, dem Auffinden von stabilisierenden Faktoren derselben entgegen. Auch das Diktum rational begründeter Gewaltanwendung führt zu blinden Flecken in der Untersuchung: Die Prämisse scheint ausschließlich und vollständig für die Seite des Protestes zu gelten. Rationalitäten staatlicher Gewalt bleiben demgegenüber ebenso unterbelichtet wie irrationale und situative Elemente der Auseinandersetzungen. Sedlmaiers Konsequenz führt hier mitunter zu unterhaltsamen Resultaten, wenn er beispielsweise exakt zwischen Steinewerfern (rational) und Plünderern (irrational) differenzieren will (S. 224f.). Weitaus problematischer wird es, wenn antiamerikanische (S. 265, S. 278) oder antisemitische (S. 245ff., S. 293) Motive von Protesten nicht recht zur Rationalitätsannahme passen wollen und ihnen dementsprechend kein näheres Erklärungspotential zugemessen wird.

Dass der Leser das Buch am Ende mit gemischten Gefühlen zur Seite legt, liegt schließlich auch an der Zusammenfassung. Viele der in den Kapiteln aufgeführten Differenzierungen und klugen Analysen erscheinen hier hinfällig: Wenn Sedlmaier das gesamte Spektrum der Protestes auf bloße „attempts at political orientation in highly complex systems of provision“ beziehungsweise auf die Suche nach „moral integrity amidst the irresolvable contradictions of the economic process“ reduziert (S. 288), wirkt das bestenfalls analytisch undifferenziert und schlimmstenfalls politisch problematisch. An dieser Stelle wäre – schon mit Blick auf die Aktionen der Roten Armee Fraktion – ein wesentlich kritischerer Umgang mit dem Gewaltbegriff notwendig gewesen. Trotz einiger Einwände bleibt aber festzuhalten: Alexander Sedlmaier setzt mit seiner Untersuchung einen weiteren, wichtigen Stein ins Mosaik der konsumhistorischen Forschung.

Anmerkungen:
1 Vgl. stellvertretend Heinz-Gerhard Haupt, Konsum und Handel. Europa im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2003.
2 Vgl. exemplarisch Ruben Quaas, Fair Trade. Eine global-lokale Geschichte am Beispiel des Kaffees, Köln 2015.
3 Im Index des 2012 von Trentmann herausgegebenen Konsumhandbuches fehlt beispielsweise der Begriff „violence“ komplett. Vgl. Frank Trentmann (Hrsg.), The Oxford Handbook of the History of Consumption, Oxford 2012. Sedlmaier selbst hat Grundzüge seiner jetzigen Arbeit bereits in einem früheren Artikel skizziert. Vgl. Alexander Sedlmaier, Konsumkritik und politische Gewalt in der linksalternativen Szene der siebziger Jahre, in: Sven Reichardt / Detlef Siegfried (Hrsg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010, S. 185–205.
4 Vgl. hierzu jüngst Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, 2. Aufl. Berlin 2014.

Anm. der Red., 15.1.2018:
Das Buch liegt jetzt auch in deutscher Übersetzung vor:
Alexander Sedlmaier, Konsum und Gewalt. Radikaler Protest in der Bundesrepublik, Berlin: Suhrkamp 2018.