Volk – Kirche – Vaterland. Church building im 19. Jahrhundert (4. Jahrestagung des AKPF)

Volk – Kirche – Vaterland. Church building im 19. Jahrhundert (4. Jahrestagung des AKPF)

Organisatoren
Arbeitskreis Protestantismusforschung (AKPF)
Ort
Neudietendorf (bei Erfurt)
Land
Deutschland
Vom - Bis
31.03.2006 - 02.04.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Henner Stieghorst, Kirchengeschichte der Neuesten Zeit - Hist. Frauenforschung, Philipps-Universität Marburg - FB 5

Unter dem Titel „Volk – Kirche – Vaterland. Churchbuilding im 19. Jahrhundert“ tagte vom 31.03. bis zum 02.04.2006 in Neudietendorf zum vierten Mal der im Jahr 2003 ins Leben gerufene Arbeitskreis Protestantismusforschung (AKPF).1 In mittlerweile bewährter Weise war die Zusammenkunft in Vorträge zum Tagungsthema und in davon inhaltlich unabhängige Workshops gegliedert, in denen Nachwuchswissenschaftler/innen ihre Projekte zur neueren und neuesten Christentumsgeschichte präsentierten.

Gemeinsamer Bezugspunkt war der Begriff der Volkskirche, der seit dem Ende des ersten Weltkriegs, auch in aktuellen theologischen und kirchenpolitischen Diskussionen, in erster Linie zur Unterscheidung zweier Typen von Kirche dient: des auf Staat und Gesellschaft insgesamt bezogenen von dem auf freiwilliger Mitgliedschaft gründenden ohne staatskirchliche Konstitution. Besonderes Augenmerk galt in Neudietendorf dem ‚Church Building‘ – der Entstehung eines volkskirchlichen Bewusstseins – und dessen Bedeutung für die Verbindung von kirchlicher oder konfessioneller mit nationaler Identität in der Zeit von 1830 bis 1930.

Jochen-Christoph Kaiser, Marburg (kaiserj@staff.uni-marburg.de), widmete sich „Verbandsprotestantismus, Innerer Mission und der Entstehung eines volkskirchlichen Bewusstseins“. Er wies darauf hin, dass sich die beiden miteinander zusammenhängenden Größen ‚volkskirchliches Bewusstsein‘ und ‚Pluralisierung des religiösen Feldes‘ angesichts modernisierungsbedingter Herausforderungen nicht erklären ließen, indem dichotomische Konzepte herangezogen würden wie ,Säkularisierung versus Rechchristianisierung‘, ,Minderheitenkirche versus Mehrheitskirche‘ und ,Differenzierung versus Integration‘: ‚Nation building‘ und ‚church building‘ könnten nicht auf der Grundlage einer unterkomplexen allgemeinen Säkularisierungstheorie verglichen werden, die an den Fragen der Nationalisierung politischer Theologien und diakonischen Handelns vorbeiführe.

Eine gesamtprotestantische Identität sei stimuliert worden gemeinsam mit der im Jahrhundert der politisch-industriellen ,Doppelrevolution‘ neuen Qualität der ‚Anfragen‘ an die Kompetenz von Theologie und Kirche, Kontingenz zu bewältigen. Die Zusammengehörigkeit als kirchliches ‚Volk‘ habe sich aber vorrangig in ,Antworten‘ lokaler und regionaler Reichweite manifestiert, z.B. in denen des Verbandsprotestantismus. Der Volksbegriff sei im 19. Jahrhundert zum zentralen Bestandteil des ,cultural code‘ geworden; er habe eine nachhaltige Modernisierung kirchlich-theologischer Milieus bewirkt, weil sie mit ihm an nationale Diskurse anschlussfähig geworden seien. Die Rekonstruktion der dazu gehörenden theologischen und kirchlichen Mentalitätsentwicklungen zählte Kaiser zu den prominenten Forschungsdesideraten der Kirchengeschichte der neuesten Zeit.

Daniel Bormuth, Bad Zwesten und Marburg (daniel_bormuth@yahoo.de), gab einen Überblick über die institutionellen Konsequenzen theologisch-konfessioneller Separation in Deutschland und die Ansätze zu ihrer Überwindung vom Fall des Alten Reichs 1803/1806 bis zum Ende des landesherrlichen Kirchenregiments 1918. „Protestantische Einigungsbestrebungen“ entsprangen dem Bedürfnis nach einheitlicher politischer und gesellschaftlicher Repräsentation und Partizipation der evangelischen Kirchen und freien Organisationen sowie dem Verlangen, dem zumindest subjektiv als bedrohlich wahrgenommenen ultramontan erstarkenden Katholizismus selbstbewusst und in äquivalenter Geschlossenheit gegenüberzutreten. Diesen Projekten standen territoriale Interessen der deutschen Staaten und binnenprotestantischer Konfessionalismus entgegen, in den Landeskirchen sowohl als auch in den freien evangelischen Organisationen, deren Gliederung weitgehend der landeskirchlichen Struktur entsprach. Auch die vielfach staatlicherseits, vor allem zur territorialen Arrondierung geförderten protestantischen Unionen wurden nicht zu Schrittmachern nationaler kirchlicher Einigung. Bormuths Ansicht nach waren der Wegfall des landesherrlichen Kirchenregiments sowie die neue konstitutionelle und soziale Position in der Weimarer Republik für eine reichsweite Zusammenführung der Kirchen im Deutschen Evangelischen Kirchenbund von 1922 und des Verbandsprotestantismus auf den Kirchentagen seit 1919 entscheidend – als Voraussetzung und als Auslöser.

Olaf Blaschke, Trier (blaschke@uni-trier.de), präsentierte seine breit und kontrovers rezipierte These vom „19. Jahrhundert als Zeitalter der ‚zweiten Konfessionalisierung‘“ anhand neuen konfessionsstatistischen Materials. Blaschke versteht seine Interpretation des Neo-Konfessionalismus als Gegenmodell zu Erklärungen für Moderne oder Modernisierung, Bürgertum und Säkularisierung, die die religiöse Dimension fast völlig ignorierten. Dabei hielt er fest, dass die meisten Säkularisierungstheorien von einem geradlinigen bzw. wellenförmigen Abnehmen der Religion von 1820 bis 1960 ausgingen, ohne dies empirisch zu belegen. Am Beispiel von Buchhandels- und Wallfahrtsstatistiken illustrierte er hingegen seine Überzeugung, dass eine Abnahme des Interesses an religiösen Fragen bzw. an Glaubenspraxis gerade nicht zu konstatieren sei, und sprach von einer parabolischen Verlaufskurve: An der Trierer Heilig-Rockwallfahrt nahmen 1810 rund 200.000 Menschen, 1844 700.000, 1891 1,9 Millionen und 1933 sogar 2,2 Millionen Gläubige teil, ehe die Zahlen für 1959 wieder auf 1,7 und 1996 auf 700.000 zurückgingen. Auch in der Bücherbranche oder in der konfessionellen Vereinsarbeit zeigten sich Scheitelpunkte deutlich nach 1830. Die von ihm kritisierten Säkularisierungstheorien widerlegte Blaschke allerdings nicht. Er konzedierte, dass seine Klassifizierung des 19. Jahrhunderts als „zweiten konfessionellen Zeitalters“ nicht absolut zu verstehen und die Rede vom „ersten“ und „zweiten“ konfessionellen Zeitalter im „langen“ 16. und 19. Jahrhundert nur dann sinnvoll sei, wenn man sich die Unterschiede beider Epochen vor Augen halte.

Nicht als Blaschkes Antipode, sondern zur Ergänzung betonte Martin Friedrich, Berlin/Bochum (friedrich@leuenberg.net), statt der Konfessionalisierung die „Kirchwerdung“ bzw. den kirchlichen Neuaufbruch speziell im Vormärz wie auch im weiteren 19. Jahrhundert. Friedrich kritisierte nicht Blaschkes Gesamtkonzept, wohl aber dessen Terminologie und dessen Analyse des ‚ersten‘ konfessionellen Zeitalters.
Übereinstimmung erzielten beide Referenten darin, dass es im 19. Jahrhundert nicht nur eine Verstärkung der Religiosität, sondern auch der Konfessionalität gegeben habe. Nach Friedrichs Forschungen entstand im 19. Jahrhundert außerdem ein neuer Kirchenbegriff, der institutionelle Gestalt gewann. Mit stärkerer Bindung der Kirche an staatliche Aufsicht im Vormärz begann in bürgerlichen Kreisen die Suche nach einer staatsfreieren ‚volkskirchlichen‘ Alternative zum Staat-Kirchen-Modell.

Am Beispiel des preußischen Theologen und Philosophen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834), des Schweizer Theologen und Literaturhistorikers Alexandre Vinet (1797–1847), des theologischen Vordenkers des Neuluthertums und des Diasporaprotestantismus Johann Konrad Wilhelm Löhe (1808–1872) sowie des dänischen Theologen, Philologen und Politikers Nikolai Frederik Severin Grundtvig (1783–1872) zeigte Friedrich, wie in unterschiedlichen Kontexten die Trennung von Staat und Kirche bzw. das Konzept der Volkskirche gedacht werden konnte. Allen vier Denkern war gemeinsam, dass der theologische Eigensinn der Kirche sich in bestimmten äußeren Formen niederschlagen musste.

Thomas Kuhn, Basel (thomas-k.kuhn@unibas.ch), führte unter dem Titel „Nationalkirche oder Freikirchen?“ die „schweizerische ekklesiologische Diskussion im 19. Jahrhundert“ vor. Er stellte die kirchenpolitischen Positionen bis ca. 1840 unter besonderer Berücksichtigung Zürichs dar und zeichnete, unter anderen gestützt auf den Schweizer Theologen Alois Emanuel Biedermann (1819–1885), die Entwicklung bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts hinein nach. Liberale Nationalbewegung auf der einen Seite und auf der anderen regenerativ-konservative Bestrebungen prägten die weltanschauliche Ausrichtung der Kantone seit der französischen Revolution sowie der zentralistischen „Helvetik“ Napoleons; sie bestimmten kontrovers auch die Kirchenpolitik.

Wegweisenden Charakter maß Kuhn der Züricher Affäre um die Berufung des liberalen evangelischen Theologen David Friedrich Strauß (1808–1874) auf eine Dogmatik-Professur von 1839 bei. Die ekklesiologische Debatte seit den 1840er Jahren interpretierte Kuhn von Biedermanns „freier Theologie“ aus, der in einer Synthese philosophischen und theologischen Freisinns auf eine liberale Kirchenpolitik zielte, sich an konstitutionellen Trends in Deutschland orientierte, einem „wissenschaftlichen Begriff der Kirche“ bzw. der „Gemeinde“ verpflichtet war und sowohl Schleiermacher rezipierte als auch die Entwicklung der schottischen Free Church verfolgte. Den Schweizer reformierten Protestantismus sah Kuhn im 19. Jahrhundert und darüber hinaus durchgängig von einem politisch und gleichermaßen konfessionellen Freiheitsbewusstsein geprägt, das von Schweizer Seite aus auch explizit deutschem, vor allem lutherischem Stil entgegengesetzt wurde.

„,Endzeit‘ und Church Building“ behandelte Michael Kannenberg, Basel, im Blick auf den „württembergischen Pietismus zwischen Korntal und Konsistorium“. Er vertrat dabei die These, dass endzeitliche Erwartungen in Württemberg zu Anfang des 19. Jahrhunderts weit verbreitet waren, sie aber durch das Ausbleiben der von Johann Albrecht Bengel berechneten Ereignisse eine nachhaltige Enttäuschung erfuhren. Sie führte dazu, dass sich der Pietismus bis 1848 wandelte, verbürgerlichte, verkirchlichte, verinnerlichte und seine separatistische Kraft verlor: Pietisten kehrten in die Kirche zurück und wurden dort zu einer entscheidenden gestalterischen Kraft. Die eschatologische Erwartung wurde proleptisch umgedeutet, die Zeichen der Endzeit suchte man nicht mehr in historischen oder politischen Weltereignissen, sondern wandte sich dem Glauben und der Ethik des frommen Individuums zu.

Ulrich Barth, Halle (barth@theologie.uni-halle.de), problematisierte „Theologiegeschichtliche Aspekte der Entstehung eines volkskirchlichen Bewusstseins in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ und verband sie mit systematisch-theologischen Überlegungen zu Ort und Rang des Konfessionellen. Grundsätzlich unterschied er den ideengeschichtlich vom soziologisch ausgerichteten Umgang mit Protestantismus und Pluralismus. Ausgehend davon, dass Religion „eigentlich“ eine anthropologische Konstante sei, plädierte Barth dafür, nicht von deren Verschwinden in Modernisierung oder Säkularisierung auszugehen, sondern von deren Transformation. Als der neuzeitlichen Individualisierung einzig gemäße Form erweise sich die Volkskirche, sie allein betrachtet Barth als von der Idee her in der Lage, Konfession zeitgemäß zum Ausdruck zu bringen. Theodosius Harnack (1817–1889) habe wie Schleiermacher „Volkskirche“ als Gegenbegriff zur Staatskirche entworfen. Daran anschließend bewertete Barth als die allen anderen Gestalten von Kirche überlegene Form die der Volkskirche, und er sieht in gegenseitiger Bedingung von Institution und Individuum einem Vermittlungsbedarf, der im Prinzip der ecclesia reformata semper reformanda treffend zum Ausdruck komme.

Rolf-Ulrich Kunze, Karlsruhe (rolf-ulrich.kunze@ifg.uni-karlsruhe.de), stellte der niederländischen Entwicklung des Protestantismus im 19. Jahrhundert die Lage in Baden gegenüber, um aus dem Aufzeigen von Parallelen und Unterschieden Kriterien für einen noch zu leistenden protestantismusgeschichtlichen Vergleich zu gewinnen. In konfessions-, sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht lasse sich die Frage der Vergleichbarkeit leichter positiv beantworten als in kirchen- und theologiegeschichtlicher. Konfessionsgeschichtlich seien in den Niederlanden wie in Baden bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein Protestantismuskonzepte mit integrierender Funktion für die Landesidentität auszumachen. Niederländisches und badisches „Nation Building“ hielt Kunze trotz aller Verschiedenheit für eindeutig protestantisch codiert. Kirchen- und theologiegeschichtlich aber seien die Traditionsstränge zwischen der evangelischen Landeskirche in Baden und dem Dissenter-Paradies des niederländischen Protestantismus mit seiner grundsätzlichen Institutionalisierungsfeindlichkeit sehr unterschiedlich. Der Erkenntnisgewinn einer Kontrastierung des Protestantismus beider Länder miteinander liege im Aufweis unterschiedlicher Modernisierungsverläufe, deren Integrationskonflikte in den Niederlanden stärker als in Baden entlang kirchlich-theologischer Milieugrenzen ausgetragen wurden.

Das Konzept der Volkskirche bedarf weiterer christentumsgeschichtlicher Erforschung. Im Spektrum der Tagungsbeiträge erwies es sich als seinem Ursprung nach in mehrerlei Hinsicht innovativ; im Zusammenspiel mit nationalen Programmen ergaben sich im 19. und 20. Jahrhundert Akzentverschiebungen; national spezifische Variationen von „Volkskirche“ zeichnen sich durch die auf der Tagung unternommenen Ansätze zu internationalen Vergleichen ab.

Anmerkung:
1 Vgl. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=4837


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