Historische Kulturwissenschaften – Konzepte und Methoden

Historische Kulturwissenschaften – Konzepte und Methoden

Organizer(s)
Projektgruppe Schwerpunkt Historische Kulturwissenschaften, Universität Mainz
Location
Mainz
Country
Germany
From - Until
29.11.2007 - 30.11.2007
Conf. Website
By
Andreas Frings, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Historische Kulturwissenschaften bezeichnen ein tragfähiges Forschungsprogramm – und sie sind Basis einer Initiative zur Schwerpunktbildung an der Universität Mainz, die den besonderen Stärken und Traditionen Mainzer geisteswissenschaftlicher Fächer gerecht wird. Das wurde auf der Tagung „Historische Kulturwissenschaften – Konzepte und Methoden“, die am 29.-30.11.2007 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz durchgeführt wurde, deutlich.

Verantwortlich für diese Tagung war eine Projektgruppe zur Entwicklung eines universitären Forschungsschwerpunktes „Historische Kulturwissenschaften“ unter der Leitung der mediävistisch ausgerichteten Philosophiehistorikerin Prof. Dr. MECHTHILD DREYER, an der Historiker, Ägyptologen, Kunsthistoriker, Amerikanisten und Kirchenhistoriker beteiligt sind. Sie war Teil eines Programms, das im Laufe des Jahres 2007 die Basis für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit im historisch-kulturwissenschaftlichen Bereich legen sollte.

Dabei war die Tagung selbst in zwei unterschiedliche Bereiche geteilt: An den beiden Vormittagen stellten auswärtige Gäste ihre Überlegungen zu Grundsatzfragen vor, während nachmittags Mainzer Wissenschaftler Einzelfragen der Konzeptualisierung Historischer Kulturwissenschaften thematisierten oder historische Fallstudien vorstellten, um auf diese Weise das Potenzial Historischer Kulturwissenschaften auszuloten.

Dabei wurde deutlich, dass mehrere programmatische Entscheidungen des Mainzer Projektverbundes tragfähig und zukunftsweisend sein dürften. So betonte beispielsweise LUTZ MUSNER aus der Erfahrung des Wiener Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften heraus, dass historisch-kulturwissenschaftliches Arbeiten keineswegs in kulturalistische Exzesse abgleiten dürfe, in denen kulturelle Phänomene in gehobener Terminologie zirkulär aus sich selbst heraus erklärt würden, sondern diese vielmehr an ihre historischen, d.h. eben auch ökonomischen und sozialen Kontexte rückgebunden werden müssten. Dieses Plädoyer deckt sich weitgehend mit dem Mainzer Vorhaben, weniger programmatische Modellbildungen als vielmehr historisch-empirische Arbeiten in den Vordergrund zu rücken, um auf diese Weise auch unterkomplexe und vereinfachende kulturalistische Theorie- und Modellbildungen in dissidenter Weise auf ihre Tragfähigkeit zu untersuchen. Dass die mannigfaltigen turns der letzten Jahre nicht selten mehr Erkenntnisgewinn versprachen, als sie einhalten konnten, darin waren sich Lutz Musner und das Mainzer Projekt, aber auch beispielsweise MANFRED K. H. EGGERT (Tübingen) einig.

Eggert teilte wiederum mit DIETER TEICHERT (Konstanz; z.Zt. Duisburg-Essen) die Einschätzung, dass es nicht immer des Rückgriffes auf die jeweils neueste kulturwissenschaftliche Autorität bedürfe, um grundlegende Fragen zu lösen. Beide beriefen sich vor allem auf jene Autoren der Jahrhundertwende, die inzwischen zumindest teilweise wieder zum kulturwissenschaftlichen Kanon zählen dürfen: Georg Simmel, Max Weber, Ernst Cassirer oder Heinrich Rickert, um nur vier zu nennen. Dieter Teichert konnte so zeigen, dass beispielsweise die Methodenentscheidung zwischen „Verstehen“ und „Erklären“ bereits seit langem als befriedigend gelöst gelten darf, da die Unterscheidung von Natur- und Kulturwissenschaften in epistemologischer Hinsicht bereits damals nachhaltig erschüttert worden sei.

Am zweiten Vormittag stellte dann BARBARA KORTE (Freiburg) am Beispiel eines eigenen Projektes die Erkenntnispotenziale interdisziplinärer Arbeit vor, die ja keineswegs selbstverständlich sind. Ausgangspunkt war ihre Beteiligung am Tübinger SFB 437 „Kriegserfahrungen, Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“, an dem sie mit Untersuchungen zu literarischen Genres der britischen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges beteiligt war. An diesem Beispiel zeigte sie vor allem, dass es einer vorgängigen Einigung auf gemeinsame methodische Vorgehensweisen und einer gemeinsamen Sprache bedürfe, um zueinander kompatible und gleichzeitig in den jeweiligen Fachzusammenhängen anschlussfähige Ergebnisse zu zeitigen. Gleichzeitig plädierte sie für eine Ausweitung der Quellenbasis und damit auch des Kanons der Literaturwissenschaften, die nicht aus einem antielitären Reflex gespeist ist, sondern sich zwingend aus der forschungsleitenden Fragestellung ergibt.

Dass historische und kulturwissenschaftliche Perspektiven unterschiedliche Aspekte auch von Philosophie und Philosophiegeschichte zu erhellen vermögen, war das Anliegen ANDREAS CESANA (Mainz), der auf diese Weise eine tendenziell eher systematische Denktradition aufgriff und deren Kulturalität und Historizität thematisierte. Ebenfalls die Disziplin und die Disziplinengrenzen in Frage stellend rückte CHRISTIANE KRUSE (Marburg) die Erweiterung der Kunstgeschichte zur Bildwissenschaft in den Mittelpunkt ihres Vortrages. Die damit einhergehenden Konsequenzen einer transdisziplinären Perspektive auf Fachzusammenhänge waren Gegenstand der folgenden, engagierten Diskussionen.

Selbstverständlich kann man in einer solchen kurzen Übersicht nicht allen Vorträgen in angemessener Weise gerecht werden; noch schwieriger dürfte dies aber für die Sektionen sein, die vor allem eines belegten: die Vielfalt historisch-kulturwissenschaftlicher Forschungsinteressen an der Universität Mainz und die Lebendigkeit der damit einhergehenden Forschung. Dass Mainz über eine große Zahl „kleiner Fächer“ verfügt, die im Kontext des entstehenden Schwerpunktes Historische Kulturwissenschaften gestärkt werden und ihrerseits als Stützen des Schwerpunktes eine Stärke der Universität bilden, unterstrich auch der Präsident der Universität Mainz, GEORG KRAUSCH, schon am ersten Vormittag. In den Sektionen zu den Themen „(Ideen-)Geschichte der Historischen Kulturwissenschaften“, „Kulturbegriffe und Kulturkonzepte“, „Historische Bildwissenschaften“, „Methodologie der Historischen Kulturwissenschaften“, „Fallstudien: Praxis, Identität und Erinnerung“ sowie „Fallstudien: Natur zwischen Materialität und Idee“ trugen Vertreter ganz unterschiedlicher und sonst selten miteinander im Gespräch stehender Disziplinen gegenseitig vor. Die lebhaften Diskussionen bewiesen nicht nur wechselseitiges Interesse, sondern auch die Fruchtbarkeit dieser Auseinandersetzungen für die jeweilige weitere Arbeit.

Für die Entwicklung des angestrebten Mainzer Schwerpunktes Historische Kulturwissenschaften war diese Tagung somit sehr produktiv. Wichtige Aspekte des Mainzer Projektvorhabens, unter anderem der historisch-empirische Akzent und die ungewöhnlich große räumliche und zeitliche Vielfalt, die sich aus der Zusammensetzung der beteiligten Fächer ergibt, erwiesen sich als zukunftsweisend und eröffneten Perspektiven für diverse Forschungsvorhaben. Die Weiterführung dieses Diskussionsverbundes steht damit außer Frage.

Ein Sammelband, der ein Gros der Vorträge dokumentieren wird, ist in Vorbereitung.

Konferenzübersicht:

Historische Kulturwissenschaften – Konzepte und Methoden

Plenarvorträge:

Musner, Lutz (Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Wien): Jenseits von Dispositiv und Diskurs. Historische Kulturwissenschaften als Wiederentdeckung des Sozialen

Teichert, Dieter (Universität Konstanz, Fachbereich Philosophie): Erklären und Interpretieren. Historische Kulturwissenschaften nach dem Methodendualismus

Eggert, Manfred K. H. (Universität Tübingen, Institut für Ur- und Frühgeschichte): Die Vergangenheit im Spiegel der Gegenwart: Überlegungen zu einer Historischen Kulturwissenschaft

Korte, Barbara (Universität Freiburg, Englisches Seminar): Literarische Genres und Erfahrungsgeschichte

Cesana, Andreas (Universität Mainz, Studium generale): Kulturalität der Philosophie

Kruse, Christiane (Universität Marburg, Kunstgeschichtliches Institut): Kunstwissenschaft als Bildwissenschaft: Eine notwendige Erweiterung?

Sektion 1: (Ideen-)Geschichte der Historischen Kulturwissenschaften

Rehm, Patricia (Philosophisches Seminar): Johann Gottfried Herder – der Großvater der Kulturwissenschaften?

Mühl, Martin (Philosophisches Seminar): Sozialität, Leib und Materie in Hegels Begriff des Wissens

Solies, Dirk (Philosophisches Seminar): Kulturkritik "als" Kulturphilosophie. Zur Anatomie und Genese eines konzeptuellen Junktims der Moderne (Georg Simmel, Theodor Lessing)

Heil, Joachim (Internationale Maurice Blondel-Forschungsstelle für Religionsphilosophie): Die hermeneutische Eröffnung eines Zuganges zur Identität des Menschen im Ausgang von Dilthey und Ricœur

Reiser, Marius (Seminar für Biblische Wissenschaften): Die Auswirkungen der Aufklärung auf die Bibelauslegung

Sektion 2: Kulturbegriffe und Kulturkonzepte

Lentz, Carola (Institut für Ethnologie und Afrikastudien): Kultur(en): Konzepte, Kontroversen, Perspektiven

Schreg, Rainer (RGZM): Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit: eine historische Kulturwissenschaft par excellence?

Kreuder, Friedemann (Institut für Theaterwissenschaft): Das Leipziger Theatralitätskonzept als "Leitfaden" durch die Geschichte

Lehnardt, Andreas (Seminar für Religions- und Missionswissenschaft und Judaistik): Judaistik und die historischen Kulturwissenschaften

Füssel, Stephan (Institut für Buchwissenschaft): "Der liebe Gott steckt im Detail". Der Begriff der Kulturwissenschaft von Aby M. Warburg und die zeitgemäßen Anwendungsmöglichkeiten

Sektion 3: Historische Bildwissenschaften

Junker, Klaus (Institut für Klassische Archäologie): Homerische Visualität. Bildwerdung im frühen Griechenland

Schmidt-Funke, Julia (Historisches Seminar): Bildergeschichten – Geschichtsbilder. Visuelle Geschichte der Frühen Neuzeit

Walkenhorst, Birgit (Institut für Theaterwissenschaft): Bildwissenschaftliche Überlegungen aus theaterhistorischer Perspektive. Traumbilder und Theatralität in der Frühen Neuzeit

Oy-Marra, Elisabeth (Institut für Kunstgeschichte): Essenskulturen - Kultur des Essens im Bild: Historische Bildwissenschaft als Kultur-wissenschaft am Beispiel der Inszenierung des Geschmacks in der frühen Neuzeit

Peterfy, Margit (Forschungs- und Lehrbereich American Studies): Bilddatenbank zur US-amerikanischen visuellen Kultur des 19. Jahrhunderts am Beispiel des Motivs des 'barefoot boy'

Sektion 4: Methodologie der Historischen Kulturwissenschaften

Hütig, Andreas (Philosophisches Seminar): Dimensionen des Kulturbegriffs

Frings, Andreas (Historisches Seminar): Handlungstheoretische Diskursanalyse und historische Semantik

Sauerbrey, Anna (Historisches Seminar): In der Sackgasse der Diskurse: Vorschläge für eine neue theoretische Ausrichtung der Geschlechtergeschichte am Beispiel der Frühen Neuzeit

Fugger, Dominik (Liturgiewissenschaft und Homiletik): Vom Begreifen kultureller Phänomene. Über die Notwendigkeit einer kulturwissenschaftlichen Quellenhermeneutik

Sektion 5: Historisch-Kulturwissenschaftliche Fallstudien 1: Praxis, Identität und Erinnerung

Hindrichs, Thorsten (Musikwissenschaftliches Institut): Gitarrenmusik und "bürgerliche Musikpraxis" in Deutschland um 1800

Gall, Alfred (Institut für Slavistik): Erfahrungsbericht und Erinnerungskultur: Polnische und russische Lagerliteratur in komparatistischer Perspektive

Kleinjung, Christine (Historisches Seminar): Frühmittelalterliche Königsvorstellungen. Das Beispiel Westfranken

Leypoldt, Günter (Amerikanistik/ American Studies): Kulturelle Praxis und geschichtlicher Raum: Der Begriff des Feldes in der amerikanischen Romantik

Pahlitzsch, Johannes (Historisches Seminar): Zwischen Byzantinisierung und Arabisierung: Griechisch-Arabische Übersetzungen orthodoxer Christen im 12. und 13. Jahrhundert

Sektion 6: Historisch-Kulturwissenschaftliche Fallstudien 2: Natur zwischen Materialität und Idee

Brömer, Rainer (Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin): Der menschliche Körper in der islamischen Medizingeschichte: Historische Wissenschaftsforschung, "Medicine Studies"

Obermaier, Sabine (Deutsches Institut): Gottes Geschöpf und Autors Zeichen: Das Tier in der Literatur des Mittelalters

Steinfeld, Patricia (Philosophisches Seminar): Der naturwissenschaftliche Materialismus im 19. Jahrhundert am Beispiel von Ludwig Büchner

Kampf, Antje (Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin): Zur Materialität von Männerkörpern: Medizingeschichte und männliche Reproduktion

Kersting, Philipp (Geographisches Institut): Landschaft als materialisierte Geschichte


Editors Information
Published on
Contributor
Classification
Temporal Classification
Regional Classification
Additional Informations
Country Event
Conf. Language(s)
German
Language