Vom Umbau in den Wissenschaften Einführung und Dokumentation*
Als alles noch übersichtlich schien, konnten auch Wissenschaft und Mythos, Ratio und Glaube streng voneinander getrennt werden. Die Einheit der Wissenschaft, pure Vernunft, überprüfbare Experimente, die Suche nach Wahrheit, das Gebot der Objektivität und zweckfreie Forscherneugier bestimmten das Bild von und wohl auch Selbstverständnis der Wissenschaftler. Inzwischen wird der Fortschrittsglaube dem 19. Jahrhundert zugerechnet und das Dilemma des 20. Jahrhunderts nicht selten mit dem Wort ‚Wissenschaftsgläubigkeit’ beschrieben – als Glaube mit absolutem Machtanspruch ... der wie alle Religionen, auch seine Ketzer hervorgebracht hat. Ob Wissenschaft und allgemeines Wohl immer eine glückliche Verbindung eingehen, wurde schon seit dem 1. Weltkrieg bezweifelt; seit Lévi-Strauss den Mythos rehabilitiert und die Wissenschaftsforschung entdeckt hat, daß auch in den Hard Sciences individuelle Vorlieben, Erwartungshaltungen und ‚Konstruktionen’ eine mehr und weniger prägende Rolle spielen, werden diese tradierten Gegenüberstellungen gern mit Fragezeichen versehen. Mythos ist nicht mehr ‚das Andere’ der Vernunft; wer das ‚Haus der Weisheit’ betritt, kann sich zwischen den Wissenschafts-Definitionen hochdifferenzierter Spezialgebiete schnell verirren. Zur Zeit lernt Wissenschaft, damit zu leben, dass sie kein festes Gehäuse hat, dass im Haus der Wissenschaften jedenfalls nicht nur eine Vernunft und Wahrheit und Objektivität wohnen.
Beim Sichten der Literatur über Wissenschaft und Mythen, Ratio und Glaube könnte der Eindruck entstehen, daß heute die Skepsis gegenüber all den wissenschaftlichen Tugenden vorherrscht. Der Eindruck täuscht schon deshalb, weil es zum Handwerk der Naturwissenschaften gehört, daß sie nicht diskutieren, sondern tun – die Entdeckungen der Biologie, Mathematik, Physik und Mikroelektronik (und erst recht der aus Fächerkombinationen entstandenen neuen Wissenschaften) stützen den Glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten der Wissenschaft. Es lässt sich zwar nicht mehr so bestimmt wie im 19. Jahrhundert sagen, was Aufklärung, was Vernunft und Glaube ist, aber das Selbstbewusstsein der Zweifler ist angesichts der Fortschritte der Wissensgesellschaft samt Marginalisierung der Humanities geknickt. Identitätsstiftende Erzählung mit Legenden über Gründung (der Welt, des Landes, eines Volks), mit Ritualen und Geboten, die eben dieses Land und Volk zusammenhalten, wurde traditionell dem Mythos zugeordnet. Aus diesem Verständnis von ‚gemeinschaftsbildenden Konstruktionen’ nährt sich der polemische Vergleich mit den Mythen der Wissenschaft. Die Um- und Neubauten im Haus der Wissenschaften haben manche Legende erschüttert. Pessimisten sehen alles weiter auseinanderdriften, Optimisten meinen, dass sich neue Gemeinsamkeiten entwickeln können – im Umgang mit der Ambivalenz, im Austausch, in der Praxis der Zusammenarbeit oder durch Öffnung gegenüber Wissensformen, die in Academia zuvor fremd waren. Wodurch diese unterschiedlichen Haltungen zustande kommen, ist noch nicht im Einzelnen erforscht.
Titel: Die Eulen der Minerva Alte Mythen, neue Erzählungen in den Wissenschaften
Dieter Simon Editorial
Vom Umbau in den Wissenschaften Einführung und Dokumentation
Dossier
Martin Aigner Die pure Eleganz der Mathematik
Hanfried Helmchen Neue Zunftregeln in der Medizin
Christoph Markschies "Jeden Morgen geht die Sonne auf"
Wissenschaft - ein Handwerk
Peter Deuflhard Maler, Mörder, Mathematiker
Dunja Melcic Legenden von der Entzauberung
Hans-Jörg Rheinberger Das Wilde im Zentrum der Wissenschaft
Fernando Vidal Knowledge and Belief - Boundaries and Relationships
Ketzer-Refugium
H.M. Enzensberger Forschungsgemeinschaft
Jürgen Trabant Jan und Hein und Klaas und Pit. Mythos Universität
Alexander Grau Der Kuhn-Joker und der Mythos vom Mythos der Wissenschaften
Fundstücke
Olaf B.Rader Von Hostien, Mäusen und Bazillen. Glaube und Rationalität im Mittelalter
Der Mythos Jan Ullrich - Wissenschaftspoesie
Testudo volans systematisiert sich
Im Gespräch Uwe Wesel und Günter Spur - Zwei Männer, zwei Welten, zwei Mythen
Wissenschaftskabinett
Nikolaus Lohse Mythologie der Moderne. Ein romantisches Denkmodell
Michael Fuhs "Meine Erfahrung zählt auch."
Michael Lindner Europa - Der lange Ritt auf dem Stier
Alexander Schuller Krankheit als Erlösung