„Die Worte des Hauses gehören nicht in den Bazar“ – dieses Sprichwort benennt ein fundamentales Ordnungsprinzip der Gesellschaft in Gilgit, der größten Stadt des Karakorumgebirges: Was im inneren Kreis von Familien geschieht, darf nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Mit ihrer Arbeit über die weiblichen Lebenswelten in Nordpakistan verstößt die Ethnologin Katrin Gratz gegen dieses Gebot, trägt sie doch die gesprochenen Worte aus dem Haus heraus und führt die LeserInnen in den häuslichen Alltag junger Mädchen, Mütter, Schwiegermütter und Witwen hinein. Ihre zentralen Thesen erarbeitet Gratz anhand des von ihr entworfenen heuristischen Instruments, dem „Dreieck der Erkenntnis weiblicher Lebenssituationen“ (S. 41), das sich aus den Koordinaten Verwandtschaft, Geschlecht und Raum zusammensetzt.
In drei Teilen und insgesamt 12 Kapiteln entfaltet die Autorin eine Theorie über die Ordnung der Beziehungen in Gilgit, die „vier Kreise der Beziehungen“ (Teil I); sie beschreibt den weiblichen Lebenszyklus im Spannungsfeld zwischen der Herkunftsfamilie einer Frau und der Familie, in die sie hineinverheiratet wurde – wobei sie „die zentrale Ideologie der Gilgit-Gesellschaft“, die „Ideologie der einen Familie“ (S. 522) analysiert (Teil II); und sie untersucht den sich rasch wandelnden städtischen Raum aus der Perspektive der Frauen und Mädchen (Teil III). Die im Verborgenen agierenden, passiv geglaubten Frauen treten als Akteurinnen in Erscheinung, die selbstbewusst ihre Handlungsspielräume ausnutzen und in konkreter Auseinandersetzung Potenziale wie Gefahren ihrer sich rasch wandelnden Lebenswelt ausloten.
Da Familie und Haushalt in Pakistan bis heute als schwer erforschbar gelten und daher wissenschaftliche Beschreibungen darüber weitgehend fehlen, schließt die vorliegende Dissertation eine wichtige Forschungslücke. Darüber hinaus dient die Arbeit als Vergleichsfolie für andere urbane Regionen Nordpakistans (z.B. in Baltistan und Chitral) sowie für nordpakistanische Regionen allgemein, die ihren dörflichen Charakter sukzessive einbüßen. Die Strukturprinzipien der weiblichen Alltagswelt sind – so die Autorin – auf weite Teile Pakistans, Afghanistans und die muslimische Welt übertragbar. Die Arbeit wendet sich nicht nur an Sozial- und Kulturwissenschaftler, sondern dient sich explizit auch als „Werkzeug des Verstehens“ (S. 45) für PraktikerInnen der Entwicklungszusammenarbeit an.
Die Stadt Gilgit hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten durch den Zuzug von MigrantInnen, durch Verstädterung und Modernisierung stark gewandelt. Gratz forschte im Zeitraum 1994 –1996 über eineinhalb Jahre in zwei Verwandtschaftsnetzwerken, in denen sie als angenommene Milchtochter integriert war. Ihre Forschung wurde zu einer „verdeckte[n] Forschung wider Willen“ (S. 25), da sich im Laufe der Forschung teilnehmende Beobachtung und Interviewführung als nicht kompatibel mit der Alltags- und Arbeitswelt der Frauen erwiesen. Lakonisch erklärt die Autorin: „Ich trainierte mir an, stets so informell wie möglich zu wirken. Man könnte auch sagen, ich versuchte, nach ‚permanentem Feierabend‘ auszusehen. Alles sollte möglichst zufällig wirken: Ich kam nur zufällig vorbei, wir kamen zufällig auf ein bestimmtes Gesprächsthema usw.“ (S. 23) Die Arbeit leistet zugleich einen Beitrag zur „neuen narrativen Ethnographie“ (S. 65): Die Autorin verzichtet weitgehend auf wissenschaftliches Vokabular und markiert über unterschiedliche Darstellungstechniken verschiedene Erkenntnis- und Interpretationsebenen. Der Text ist durchzogen mit Zitaten aus den Feldtagebüchern, die sowohl Erlebnisse, Gespräche wie auch Reflexionen aus der Feldphase wiedergeben. Letztere benutzt die Autorin häufig als Ausgangspunkt, um zu zeigen, wie „eigene Erlebnisse zu neuen Ideen und Erkenntnissen“ führten (S. 351). Die Arbeit ist weder voyeuristisch noch eine subjektive Nabelschau, sondern bietet erfahrungsbezogene Konzepte, die zudem mit interessanten und teilweise originellen Graphiken veranschaulicht werden. Hilfreich ist der Appendix mit Verwandtschaftsterminologien und einem Glossar.
Im ersten Teil („Die Kreise der Beziehungen“) dekonstruiert die Ethnologin das Stereotyp weiblicher Machtlosigkeit und Passivität, indem sie weibliche „agency“ nicht im Kontext verdeckter Handlungen als Abhängigkeit, Unterdrückung und Widerstand deutet, sondern die Wirkungsfelder und Handlungsressourcen von Frauen hervorhebt. Mittels des Modells der konzentrisch angelegten Beziehungskreise, die sich vom inneren Kreis, dem Haus (got), über den zweiten Kreis der Brüder-Haushalte, bis in den dritten Kreis der Nachbarschaft (het) und den vierten Kreis der Nicht-Verwandten erstrecken, analysiert die Autorin die Normen, Ideale und gelebten Realitäten der ersten drei – patrilinear organisierten – Kreise sowie deren Außenbeziehungen. Väter und Brüder repräsentieren für die Öffentlichkeit einen Soll-Zustand, während Frauen im Haushalt den Ist-Zustand bestimmen. Gratz postuliert, dass der „Gruppenegoismus“ (S. 131ff., 205) das soziale Leben normativ reguliert. Die „ausgebildete Rhetorik der Zusammengehörigkeit“ (S. 61) steht dabei jedoch im Gegensatz zu den innerhäuslichen Konflikten. Soziales Leben im het ist über Gastfreundschaft und Freigiebigkeit gegenüber Gästen einerseits, andererseits aber über Konkurrenz, Neid und Missgunst – gerade auch unter den Frauen – charakterisiert (S. 227, 245).
Im zweiten Teil („‚Die Ideologie der einen Familie‘ und der Lebenszyklus der Frau“) kritisiert Gratz das Stereotyp der getrennten Geschlechterwelten, der „separate worlds“. Sie deutet beide Geschlechterwelten als Aspekte eines soziokulturellen Systems. Wurden im ersten Teil weibliche Beziehungsgeflechte unter dem Fokus der dominierenden Abstammungsideologie dargestellt, werden Lebenszyklen (Verlobung, Hochzeit, Statuswechsel zur Schwiegertochter, Ehejahre, Witwenstatus) im Spannungsfeld der Herkunfts- und der Schwiegerfamilie aus verschiedenen – weiblichen – Wahrnehmungen eindrücklich beschrieben. Die patrilineare Ideologie wird durch die Widersprüchlichkeit zwischen Verwandtschaftsrhetorik bzw. -diskursen und Praxis in Frage gestellt. Die „Ideologie der einen Familie“ basiert auf einer Ambivalenz verwandtschaftlicher Zuordnungen (vgl. unter anderem S. 477). Verheiratete Frauen wechseln die Familien bei gleichzeitiger patrilinearer Wohnsitzregelung. Gesellschaftlich wird dieser Widerspruch aufgelöst, indem die neuen Beziehungen sich entlang bestimmter Entwicklungszyklusstadien der beiden Haushalte entwickeln: Die Schwiegermutter entpuppt sich als Tyrannin (S. 493), die die Loyalität der Schwiegertochter zu ihrer Herkunftsfamilie brechen muss. Die dramatische Schilderung der Trennung einer jungen Braut von ihrer Familie, „das zentrale Übergangsritual der Gilgitgesellschaft“ (S. 433), wird in ihrer Ritualität erst vor diesem Hintergrund verstehbar (S. 441f.). Gratz folgert, dass „der Beziehung zwischen Schwiegertochter und Schwiegermutter fast immer ein gewisses Maß an struktureller Gewalt innewohnt und innewohnen muss“ (S. 497). Individuell löst die Verheiratete mit der Geburt ihrer Kinder diese Ambivalenz, indem sie in einem Kreis von Fremden ihre „eigenen Leute“ gebiert – ein „Schaffensakt ganz besonderer Natur“, wie die Autorin anmerkt (S. 535) – und sich über diese in der Familie ihres Mannes verortet.
Ein weiterer Stereotyp der Ethnographie Pakistans – die Konzentration von ethnologischen Forschungen auf ländliche Gebiete – erörtert Gratz im dritten Teil („Pardahlandschaften“) ihrer Arbeit. Die Teilung des Subkontinents 1947 beschleunigte Modernisierung und Urbanisierung. Kaum eine Forschung hat sich jedoch neben den demographischen, politischen und ökonomischen Konsequenzen mit den „kulturellen Dimensionen dieses Prozesses“ auseinandergesetzt. Sehr gelungen ist die Erörterung über den städtischen Raum Gilgits, der immer „gendered“ ist. Raumqualitäten wie „innen“ und „außen“ spiegeln sich deutlich im Verschleierungsverhalten der Frauen. Verstädterung – so kann die Autorin überzeugend aufzeigen – bedeutet die Ausweitung des mit Männern assoziierten Territoriums. Auch wenn sich im Prozess der Verstädterung für Frauen neue Mobilitätsräume ergeben haben, wird die Mobilität von Frauen insgesamt komplizierter und eingeschränkter. Eine Nutzung der immer weiter vorrückenden männlich-assoziierten Räume (wie z.B. des Bazars) ist für Frauen nur unter Einhaltung der „pardah“-Regeln (Regeln der Geschlechtertrennung) möglich.
Der Lesefluss ist durch die den Leser führenden Erläuterungen, die Vorausweisungen auf Inhalte und Rückbezüge stellenweise mühsam, jedoch lassen sich bei einem derart dichten Werk mit komplizierten Beziehungsgeflechten Wiederholungen nicht vermeiden. Am Schluss wäre statt einer knappen Zusammenfassung eine Reflexion auf theoretischer Ebene vor allem bezüglich der Idealvorstellungen von Familie und weiblicher Lebenswelten in Auseinandersetzung mit den rapiden Veränderungen der pakistanischen Gesellschaft der Arbeit dienlicher gewesen.
Die Dissertation ist ein wichtiges Grundlagenwerk über weibliche Lebenswelten in einer muslimischen Gesellschaft. Für eine Beschäftigung mit dem durch Erdbeben und politische Unruhen destabilisierten pakistanischen Staat ist das Werk unentbehrlich, zeigt es doch eine – weibliche – Seite der Gesellschaft, die in den oftmals holzschnittartigen Berichten über religiöse Fanatiker, Korruption und Frauenunterdrückung verloren zu gehen scheint.