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Titel
Albert Reble und die Lehrerbildung. Eine Positionsbestimmung im erziehungswissenschaftlichen Diskurs in der Bundesrepublik Deutschland


Autor(en)
Balcke, Dörte
Erschienen
Bad Heilbrunn 2022: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
337 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Tomas Bascio, Zentrum für Schulgeschichte, Pädagogische Hochschule Zürich

Der Titel dieses Buches suggeriert vielleicht, dass hier eine Hagiographie des Autors Albert Reble, also des Lehrbuch-Klassikers „Geschichte der Pädagogik“ (1951/2016)1, vorliegt. Die Erziehungswissenschaftlerin Dörte Balcke (Universität Augsburg / Albert-Reble-Archiv) nimmt zu Beginn der Einleitung diesem potenziellen Vorwurf den Wind aus den Segeln: Ihre publizierte Dissertation ist zwar als „Biographik“ angelegt, aber nicht das Leben des Pädagogen soll mikrogeschichtlich rekonstruiert werden, sondern „ein Teil Wissenschaftsgeschichte“ (S. 11). Die These ist, „dass Reble sich besondere Verdienste um die Akademisierung der Lehrerbildung, insbesondere der Volksschullehrerbildung, erworben“ (ebd.) hat. Diese Herangehensweise erinnert an die von anderen Autor:innen gehegte Erwartung, „eine der historischen Epistemologie folgende Wissens- und Disziplingeschichte [möge] die Entstehungs- und Produktionsbedingungen erziehungswissenschaftlichen Wissens […] grenzüberschreitend“2 nachvollziehbar machen. Diskurse und Kontexte (nach Foucault, Fleck u.a.) oder soziale Praktiken und Netzwerke (nach Latour, Haraway u.a.) der Wissensproduktion sollen so mitbedacht werden, nicht nur innerhalb der Disziplin, sondern auch transdisziplinär.

Im Kapitel zwei tut dies Balcke ansatzweise in der Einordnung ihrer Untersuchung in den Forschungsstand durch das transparente Auffächern unterschiedlicher Schriften, die sich entweder mit Reble und seinen Leistungen in der Lehrpersonenbildung beschäftigen (Fest- und Gedenkschriften, Dissertationen, Aufsätze), mit der Lehrpersonenbildung im Tätigkeitsfeld von Reble, mit Studien zur Lehrpersonenbildung oder mit Lehrmitteln zur Geschichte der Pädagogik. Die im Untertitel angekündigte „Positionsbestimmung“ wird theoretisch-methodisch durch eine „kontextuelle Disziplingeschichtsschreibung“ (ebd.) erklärt. Neben Rebles Publikationen wurden unzählige unveröffentlichte Dokumente genutzt, die seinen gesamten Tätigkeitsbereich umspannen (viele Briefwechsel, einige Vortragsmanuskripte und weitere Archivalien). Dies spiegelt sich auch im Aufbau des Buches wider: Neben Kapiteln zu Rebles Biografie oder seiner Einbettung in die geisteswissenschaftliche Pädagogik wartet die Untersuchung mit einer groß angelegten Analyse seiner Schriften über und für die Lehrpersonenbildung auf (Kapitel sechs und sieben). Diese über 200 Seiten umfassende historische Kontext- und Diskursanalyse macht den spannendsten Teil des Buches aus und soll die Verdienste Rebles um die Entwicklung der Lehrpersonenbildung ergründen, auch durch die Untersuchung von Verknüpfungen mit der Erziehungswissenschaft.

Jenseits des erfolgreichen Lehrbuchautors wird also in Kapitel sechs auch der Dozent, Forscher und hochschulpolitisch Vernetzte ins Visier genommen. Der Fokus auf die 1950er-Jahre und ihre Reformen ist sicher durch das große Konvolut an Reble-Archivalien dieser Zeit motiviert. Balcke unterteilt den großen Lehrpersonenbildungsdiskurs und Rebles Schriften in vier Teildiskurse (Erziehungswissenschaft in der Lehrpersonenbildung; Allgemeine Didaktik und Fachdidaktik; Theorie-Praxis-Verhältnis in der Lehrpersonenbildung; Lehrpersonenbildung an der Pädagogischen Hochschule oder an der Universität?). Durch diese Unterteilung wird das anfangs gegebene Versprechen der Kontextualisierung eingelöst, indem zentrale Akteur:innen und Publikationen zu Lehrpersonenbildungsfragen mitberücksichtigt werden (z.B. zur zentralen Bedeutung der Erziehungswissenschaft wird, neben Reble, auf Diskursbeiträge von Hans Bohnenkamp, Theo Dietrich, Oskar Hammelsbeck, Karl Holzamer, Rudolf Lochner und weiteren eingegangen). Die intensiven Debatten in Deutschland ab den 1950er-Jahren über die Gestaltungsfrage der Lehrpersonenbildung „führte[n] zu einer langwierigen Auseinandersetzung“ (S. 219), die sich auch in der Analyse zu den bildungspolitischen und theoretisch-inhaltlichen Aspekten widerspiegelt. So erschöpfte sich das Strittige an der Akademisierungsfrage beispielsweise nicht darin, ob, sondern in welcher Institutionsform (Universität, Pädagogische Hochschule, Mischform) die Ausbildung stattfinden sollte. Reble vertrat diesbezüglich keine eindeutige Position, sah allerdings wegen der Wichtigkeit eines pädagogisch-theoretischen und eines schulpraktischen Bezugs eher „in der Pädagogischen Hochschule eine geeignete Lehrerbildungsstätte“ (S. 220). Mit seinem Plädoyer für eine pädagogisch-theoretische Durchbildung und für die Entwicklung einer pädagogischen Grundhaltung und trotz mitschwingender Akademisierungssorgen sprach sich Reble für eine wissenschaftliche Ausbildung aller angehenden Lehrkräfte aus. Für ihn waren „Forschung und Lehre an der PH genauso untrennbar [verbunden] wie an der Universität“ (S. 117).

Balcke schließt jeweils die Teildiskurskapitel mit einem Abschnitt ab, worin die losen Argumente und die unterschiedlichen Akteure (und wenige Akteurinnen) zu Diskursdestillaten kulminieren, was zur Orientierung sehr dienlich ist. Zudem helfen Übersichtstabellen, die Beteiligten örtlich, zeitlich und publizistisch einzuordnen. Alle Diskursakteur:innen werden bei der Erstnennung in biographischen Miniaturen vorgestellt, was sich als praktische Lesehilfe erweist.

Kapitel sieben beschäftigt sich mit Rebles Schriften für die Lehrpersonenbildung, zuallererst mit einer kontextuellen Analyse der „Geschichte der Pädagogik“. Im Sinne von Ludwik Fleck betont Balcke die Arbeit an Lehrbüchern als Ausdruck von „Denkkollektiven“, die sich durch einen gemeinsamen „Denkstil“ – im Sinne ähnlicher Problemstellungen, Methoden, nicht unbedingt konkreter Zusammenarbeit – auszeichnen. Ähnlich wie Rudolf Stichweh sieht sie in Lehrbüchern den „Korpus wissenschaftlichen Wissens“ (S. 226) repräsentiert. Folgerichtig untersucht sie Rebles Hauptwerk in einer Gegenüberstellung mit ähnlichen Lehrmitteln, die um 1955 (zur Zeit von Rebles zweiter, erweiterten Auflage) verbreitet waren. Vor allem der Vergleich mit den damals neuen Geschichtslehrmitteln von Fritz Blättner und Willibald Ruß ist interessant, weil diese wie Reble Dozenten an Lehrpersonenbildungstätten tätig waren. Alle drei waren stark adressatenorientiert und benutzen eine prägnante Sprache. Dies passt zum Diktum, wonach Lehrmittel der „Erzeugung einer Professionsmoral [dienen]“ (S. 277, Philipp Gonon zitierend). Bei Reble ist der Versuch, die Ideen- mit der Sozialgeschichte darzustellen, deutlich ausgeprägt, wie auch seine „gut verständliche, lebendige Sprache [und ein ausgewogenes] Verhältnis zwischen kommunikativer und kognitiver Prägnanz“ (S. 288). Letzteres und die „hohe wissenschaftliche Qualität“ (S. 289) sind auch bei Ruß feststellbar. Beim direkten Vergleich mit Blättner fällt auf, dass die Geschichte in der Pädagogik nicht „aus ‚aufklärerischer‘, sondern aus moralisch-pädagogischer Absicht gelehrt [würde]“ (S. 277, auf Gonon und Daniel Tröhler Bezug nehmend). Die in den 1970er-Jahren geäußerte Skepsis gegenüber Rebles Lehrbuch könnte mit der unzeitgemäßen Sprache und den aufkeimenden Sozialwissenschaften zu tun haben, wie Balcke in Anlehnung an Heinz-Elmar Tenorth meint. Zu diesen genannten Befunden zeigt Balcke zusätzlich auf, dass Rebles Lehrmittel im Vergleich zu den anderen „eine vom Umfang und von der wissenschaftlichen Qualität moderne, am Stand der Wissenschaft orientierte Geschichtsschreibung war“ (S. 290).

Die ebenfalls in Kapitel sieben enthaltene Analyse der Schriftenreihe „Klinkhardts Pädagogische Quellentexte“, die Reble zusammen mit Theo Dietrich ab 1960 herausgegeben hatte, ist ein großer Gewinn, weil diese Schriften über das berühmte Lehrbuch hinaus als wichtige Publikationen für die Lehrpersonenbildung gewürdigt werden. Die Einzelbände der Schriftenreihe mit Texten zu einzelnen Pädagog:innen oder zu problemgeschichtlichen Themen wurden von diversen Autor:innen verfasst. Gemäß Dietrich war Reble diesem „pseudowissenschaftlichen Unternehmen“ (S. 292) gegenüber anfangs skeptisch eingestellt. Nach den zumeist positiven Reaktionen und den hohen Absatzzahlen verschwand der anfängliche Zweifel aber rasch. Dass in der Studie vier von insgesamt dreizehn von Reble selbst herausgegebene Quellenbände genauer untersucht werden (zu Wilhelm Dörpfeld, zu Johann Gottfried Herder, zur Arbeitsschulbewegung, zur Geschichte der Höheren Schule), passt zu Balckes Absicht, die Wirkung des Pädagogen möglichst umfassend zu analysieren.

Durch seine Schreibtätigkeit über und für die Lehrpersonenbildung und seine insbesondere in den 1950er-Jahren getätigte Korrespondenz und Gremienarbeiten war Reble ein wichtiger Diskursakteur, weshalb das Schlusskapitel 8 – wenig überraschend – die zu untersuchende These, wonach sich Reble für die Akademisierung der Lehrpersonenbildung besondere Verdienste erworben hätte, bestätigt. Als zentrale Aspekte gelten Rebles Betonung der Autonomie der Erziehung in Theorie und Praxis, der historischen Dimension für die Lehrpersonenbildung, der Verbindung zur Schulpraxis sowie des Anspruchs an angehende Lehrpersonen und Dozierende, eine pädagogische Grundhaltung zu erwerben bzw. einzunehmen.

Kritisch kann man anmerken, dass bis zum Schluss unklar bleibt, inwiefern die erwähnten Diskursteilnehmenden Reble als Referenz wahrnahmen, selbst wenn seine Monographie „Lehrerbildung in Deutschland“ (1958) „stark rezipiert wurde“ (S. 184). Als weiterer Kritikpunkt sind die zwar anschaulichen, aber zu detaillierten Analysen von Teildiskursen zu nennen. Stellenweise verliert man sich darin und der Lesefluss wird etwas abgebremst. Quellenbegriffe oder Konzepte (z.B. Theorie-Praxis-Bezug, pädagogische Grundhaltung) werden zwar historisch gut kontextualisiert, aber bildungstheoretisch wenig hinterfragt. Eine größere historisch-epistemologische Distanz zu den von diversen Autor:innen verwendeten (geisteswissenschaftlichen) Begriffen wäre sinnvoll. Balckes kontextuelle Analysen gehen weit über bloße Textexegesen hinaus. Eine Lehrperson- könnte analog zu einer Disziplingeschichtsschreibung mehr Verstrickungen, sprachlich vermitteltes Wissen oder gefestigte Machtansprüche thematisieren und so auch als „transindividuelles, transdisziplinäres, transnationales und eben auch transkontextuelles Unterfangen“3 verstanden werden.

Dörte Balcke hat zwar keine eigentliche Disziplingeschichte geschrieben, durch ihre These und ihren Forschungsgegenstand thematisiert sie aber zahlreiche Berührungspunkte zwischen Lehrpersonenbildung und der wissenschaftlichen Pädagogik, mehr inter- denn transkontextuell. Die am Schluss ihrer Arbeit formulierte Idee einer Diskurs- und Kontextanalyse von Klinkhardts Schriftenreihe als potentiellem weiteren Beitrag zur Rekonstruktion der Disziplingeschichte der Erziehungswissenschaft wäre – unter Berücksichtigung der genannten Kritikpunkte – sehr lohnend. Balcke zeigt mit diesem Buch, dass erst durch eine Mikrogeschichte die vielfältigen Verästelungen einzelner Kontexte und Diskurse ins Blickfeld geraten.

Anmerkungen:
1 Der Lehrmittel-Longseller „Geschichte der Pädagogik“ ist bis in jüngster Zeit immer wieder neu ediert worden: Albert Reble, Geschichte der Pädagogik, 23. Aufl., Stuttgart 2016 (1. Aufl. 1951).
2 Markus Rieger-Ladich / Anne Rohstock / Karin Amos, Wissen und Macht, Wissenschaft und Disziplin. Eine Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Erinnern. Umschreiben. Vergessen. Die Stiftung des disziplinären Gedächtnisses als soziale Praxis, Weilerswist 2019, S. 7–16, hier S. 10.
3 Ebd.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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