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Title
Sprache und Identität im Frühen Mittelalter.


Editor(s)
Pohl, Walter; Zeller, Bernhard
Series
Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Denkschriften 426; Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 20
Extent
302 S.
Price
€ 59,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Achim Hack, Mittelalterliche Geschichte, Historisches Institut, Universität Jena

Wien hat sich längst als eines der Zentren für die Erforschung der frühmittelalterlichen Ethnogenese etabliert. Sprache gilt traditionellerweise als wichtiges, ja identitätsstiftendes Merkmal von Völkern. Daher ist es nicht weiter erstaunlich, dass ein Wiener Kongress im Januar 2009 sich mit dem Verhältnis von Sprache und Identität im frühen Mittelalter beschäftigt hat. Seine Referate – immerhin 21 gewichtige Beiträge – liegen nun in gedruckter Form vor.

Nachdem Walter Pohl einleitend – oder genauer: zusammenfassend – einige für den Band grundlegende Begriffe, Konzepte und Fragestellungen vorgestellt hat (S. 9–22), lotet Wolfgang Haubrichs an zahlreichen Beispielen die Möglichkeiten von Sprache (primär) als Mittel der Kommunikation und (sekundär) der Gruppenbildung aus; dabei spielten Phänomene der Mehrsprachigkeit eine große Rolle, wobei allerdings nicht nur Germanen Latein, sondern bisweilen auch Romanen germanische Sprachen erlernten. Die „sich neu formierenden Gesellschaften“ müsse man sich daher „als komplexe multilinguale Gesellschaften vorstellen“, jedoch „ohne dass die Identitätsleistung der einzelnen Sprachen für Gruppen und Gesellschaften übersehen werden darf“ (S. 23–38). Herwig Wolfram nähert sich dem Tagungsthema in fünf Schritten, indem er Eigen- und Fremdwahrnehmung, Mehrsprachigkeit (samt Sprachwechsel), Mündlichkeit und Schriftlichkeit der Sprache thematisiert. Seine Beispiele stammen aus dem gesamten Frühmittelalter und darüber hinaus, wobei ein Schwerpunkt bei den Goten liegt. Wie er ganz zu Recht feststellt, könnte das so weit gefasste Thema eine „vielbändige Reihe“ füllen (S. 39–59). Hans-Werner Goetz versucht die identitätsstiftende Wirkung von Sprache auf vier Gebieten zu klären, nämlich im Hinblick auf die (sprachlich definierten) germanischen gentes, die Sprachkenntnis und Sprachanwendung, das fast unerschöpfliche Feld der Personennamen sowie die Abgrenzung von Menschen anderer Sprache. Er kommt zum Ergebnis, dass Sprache nur selten nachweislich Identität konstituiert, dass sich das Verhältnis zumindest als sehr komplex darstellt (S. 61–73). Patrick J. Geary untersucht die Frage, warum die letzten Worte Ludwigs des Frommen (ein Zitat aus Joh 12,31) vom sogenannten Astronomus in fränkischer Sprache wiedergegeben werden. Er sieht darin eine Angleichung an Christus, dessen ultima verba ebenfalls in der Muttersprache zitiert werden (vgl. Mt 27,46) (S. 75–80). Ian N. Wood vergleicht die Attalus-Geschichte, wie sie bei Gregor von Tours und bei Wissenschaftlern bzw. Dichtern des 19. Jahrhunderts – etwa Jacob Grimm, Gustav Freytag und Franz Grillparzer – präsentiert wird und zeigt, dass die Zuordnung von Ethnie und Sprache in der „nationalen Epoche“ sehr willkürlich ist (S. 81–91). Jörg Jarnut vertritt die Ansicht, dass schon um die Mitte des 7. Jahrhunderts von der langobardisch-römischen Dichotomie im regnum Langobardorum – und auch von der langobardischen Sprache – nicht mehr viel übrig war (S. 93–97). Roger Wright wendet sich der Situation auf der Iberischen Halbinsel zu, auf der im 1. Jahrtausend eine Fülle von Sprachen zu hören war, zum Beispiel Punisch, Iberisch, Keltisch, Baskisch, Lateinisch, Hebräisch, Griechisch, Vandalisch, Suebisch, Alanisch, Gotisch, Arabisch, Berberisch. Dennoch hat fast immer und fast überall das Latein bzw. Romanische den Umgang im Alltag geprägt, so dass Wright bis ins 8. Jahrhundert von einer monolingualen Situation ausgehen möchte, die dann für circa anderthalb Jahrhunderte von einer arabisch-lateinischen Zweisprachigkeit abgelöst wurde. Sprachliche Identität – so folgert er – stimmte daher weder mit religiösen und schon gar nicht mit ethnischen Identitäten überein (S. 99–108). Zur Beschreibung der Latinität im Karolingerreich des 8. und 9. Jahrhunderts schlägt Michel Banniard ein System von fünf Sprachniveaus vor, das vom fast ausschließlich gesprochenen Protofranzösisch bis zum sermo altus der Sprachpuristen vom Schlage eines Alkuin reicht. Die Entstehung des Romanischen muss dann nicht länger als ein Verfallsprodukt des Lateinischen verstanden werden, sondern lässt sich sogar im Sinne der Soziolinguistik als neuer Akrolekt begreifen (S. 109–120). Michael Richter untersucht an drei ausgewählten Beispielen (Slawisch, Irisch und Deutsch), welche Bedeutung den Alphabeten bei der Verschriftung der Volkssprache zugekommen ist. Während die von Kyrill neu geschaffene Glagolica mit ihren 36 Zeichen eine „adäquate phonetische Umschrift des Slawischen“ ermöglichte, war die lateinische Schrift nicht so ohne weiteres in der Lage, die Laute der westeuropäischen Sprachen in angemessener Weise wiederzugeben. Dem Irischen gelang es aber wesentlich früher und wesentlich besser mit dieser „Zwangsjacke“ zurechtzukommen als etwa dem Deutschen (S. 121–130). Anton Scharer analysiert die Aussagen in Bedas Werken über den Sprachgebrauch auf den britischen Inseln. In der Theorie unterscheidet der Historiograf fünf Sprachen, nämlich vier „Volkssprachen“ (die der Angelsachsen, der Briten, der Iren und der Pikten) und das (Kirchen-)Latein, das alle verstünden. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass immer wieder die Hilfe von Dolmetschern erforderlich wurde. Besondere Beachtung verdient der Umstand, dass sich von der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts bis in Bedas Tage profunde Griechisch-Kenntnisse in Canterbury nachweisen lassen (S. 131–136). Kurt Smolak identifiziert hinter den Verfassern der in mehreren Versionen überlieferten Hisperica famina, die von gesuchten Ausdrücken und Metaphern, besonders griechischen und hebräischen Vokabeln geprägt sind, eine irokeltische, ausgesprochen elitäre Gruppe, die sich als „exklusive Sprachgemeinschaft“ sieht. Weshalb sich alle Textzeugnisse ausgerechnet auf dem Kontinent erhalten haben, wird abschließend durch zwei alternative Hypothesen zu erklären versucht (S. 137–144). Helmut Birkhan stellt einige mittelalterliche und frühneuzeitliche Theorien über die Entstehung der Kelten auf den Britischen Inseln dar, bei denen zum Teil auch die Sprache eine Rolle spielte (S. 145–159). Dieter Geuenich wendet sich mit großen Nachdruck gegen die Gleichsetzung des modernen „Alemannisch“ (besser: Westoberdeutsch) mit der Sprache der frühmittelalterlichen Alemannen. Diese ist lediglich noch in ein paar Dutzend Personennamen greifbar und lässt keine gesamtalemannische Identität erkennen – ein Befund, der sich sehr gut mit anderen Beobachtungen deckt (S. 161–170). Peter Štih zeigt sehr plastisch, wie die slawischen Sprachzeugnisse des Mittelalters von den diversen Nationen und Nationalismen des 19. und 20. Jahrhunderts in Anspruch genommen wurden; so galten etwa die im sogenannten Missionshandbuch des Bischofs Abraham von Freising überlieferten „Freisinger Denkmäler“ (Clm 6426) je nachdem als Dokumente eines Altslowenischen, Altslowakischen, Altböhmischen, Altkroatischen, Altkirchenslawischen usw. Die Unterscheidung des Alpenslawischen (Altslowenischen) vom Gemeinslawischen ist allerdings im Frühmittelalter ebenso wenig möglich wie die Abgrenzung der Slowenen von den Slawen (S. 171–183). Giuseppe Albertoni wertet ein Tridentiner Placitum von 845 im Hinblick auf die sprachlichen und ethnischen Verhältnisse im Etschtal aus. Das im Original überlieferte Dokument unterscheidet Langobardi und Teutisci, worunter Albertoni zufolge alt angesiedelte Langobarden sowie mit den Franken eingewanderte „Neuankömmlinge“ gemeint sind; verständigt hätten diese sich wahrscheinlich bereits in der romanischen Sprache (S. 185–203). Fritz Lošek handelt über die Termini für Freunde, Feinde und Fremde in Eugipps Vita Severini, kommt dabei aber über eine reine Stellensammlung kaum hinaus (S. 205–210). Den Wert der manieriert wirkenden Sprache des Ennodius und Cassiodor für Theoderich den Großen sieht Christian Rohr vor allem darin, den ostgotischen Herrscher für die gebildete römische Senatsaristokratie akzeptabel erscheinen zu lassen (S. 211–217). Corinna Bottiglieri steuert Beobachtungen zu Völkernamen und ihrem Verhältnis zur gentilen Identität bei Amatus von Montecassino und einigen seiner Zeitgenossen bei. Konkret geht es hauptsächlich um Langobarden und Normannen (S. 219–237). Uta Goerlitz konstatiert in der Kaiserchronik des anonymen Regensburger Klerikers eine ambivalente Identität der Bewohner des Gebietes nördlich der Alpen. Denn nur aus der römischen Perspektive wird von einem dûtiskiu lant im Singular gesprochen; hält sich der Protagonist – Caesar – dort auf, so trifft er mit Schwaben, Bayern, Sachsen und Franken auf eine Mehrzahl von Völkern (liute), die über eine jeweils eigene Herkunftsgeschichte verfügen (S. 239–250). Daniela Fruscione geht schließlich dem Problem der germanischen Identität und Sprache nach – und zwar vom Frühmittelalter bis ins 19. Jahrhundert; die Stoßrichtung ihrer Argumentation wird allerdings nicht recht klar (S. 251–264). Es folgt jeweils ein Abkürzungs-, Quellen-, Literaturverzeichnis (S. 265–302); Register fehlen bedauerlicherweise völlig.

Wie dieser Überblick zeigt, behandelt der Band eine breite Palette von Fragestellungen, die aus unterschiedlichen Disziplinen stammen und verschiedenen Forschungstraditionen verpflichtet sind. Wie in vielen analogen Fällen lässt sich der inhaltliche Ertrag nicht auf eine einfache Formel bringen. Alle Beiträge argumentieren aber ausgesprochen quellennah und laden zu weiteren Überlegungen ein – ein größeres Kompliment dürfte kaum denkbar sein.

Doppelungen lassen sich bei einem Tagungsband nicht immer vermeiden; so ist es kein Wunder, dass Isidors klassische Bestimmung des Verhältnisses von Völkern und Sprachen (Etymologiae, Buch IX) gleich in mehreren Beiträgen angeführt wird. Störend wirkt dagegen, dass noch immer gegen den romantischen Volksbegriff Stellung bezogen wird; hier werden Dämme gegen Flüsse errichtet, die schon seit vielen Jahrzehnten ausgetrocknet sind. Immer wenn von „Barbaren“ die Rede ist, werden katenenartig lange Bibliografien aufgeführt; die begriffsgeschichtliche Untersuchung von Elke Ohnacker ist merkwürdigerweise jedoch nie dabei.1 Ganz anders dagegen die Arbeit von Arno Borst über die Exegese der babylonischen Sprachverwirrung. Die Autoren begnügen sich hier allerdings stets mit einem pauschalen Zitat und das, obwohl das Werk 2320 Seiten lang ist – ein Klassiker offenbar, den man zwar kennt, der aber nicht mehr gelesen wird.2

Von solchen kleinen Ungereimtheiten abgesehen kann der sorgfältig redigierte Band nur mit Nachdruck zur Lektüre empfohlen werden.

Anmerkungen:
1 Elke Ohnacker, Die spätantike und frühmittelalterliche Entwicklung des Begriffs „barbarus“. Ein interdisziplinärer Versuch der Beschreibung distinktiver und integrativer gesellschaftlicher Konzepte, Münster 2003.
2 Arno Borst, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, Bd. 1–4 (in 6 Teilbänden), Stuttgart 1957–1963.

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