T. Maissen u.a.: Why China did not have a Renaissance

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Title
Why China did not have a Renaissance – and why that matters. An interdisciplinary Dialogue


Author(s)
Maissen, Thomas; Mittler, Barbara
Series
Critical Readings in Global Intellectual History
Published
Extent
XVII, 240 S.
Price
€ 68,95
Reviewed for H-Soz-Kult by
Cornel Zwierlein, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Dieser schmale, aber intellektuell anspruchsvolle Band ist im heutzutage ungewöhnlichen, aber ingeniösen Format des Dialogs konzipiert und emuliert damit eines der aus der Antike wiederbelebten Vorzeigegenres der in Frage stehenden Epoche selbst, der Renaissance und des Humanismus. Das Anregende und Charmante an einem solchen Werk mit Doppelautorschaft ist, dass keine Harmonie und Thesenübereinstimmung erreicht werden muss.

Thomas Maissen vertritt die einfachere, gut begründete, aber keinesfalls gegenüber Globalgeschichte verschlossene Position, dass es nur eine Renaissance gegeben habe, raumzeitlich insbesondere im Italien des 14.–16. Jahrhunderts verortet, und dass es nicht sinnvoll und angebracht sei, den Renaissance-Begriff metaphorisch für andere Zusammenhänge zu benutzen: „The battle against a Eurocentric master narrative is not won if one transfers concepts or epochs that originate in Europe to other areas where they do not correspond to historical and cultural long-term developments“ (S. 27). Während Mittler eine noch zu erläuternde weitere Anwendungsmöglichkeit sieht, die unseren auch global-geisteswissenschaftlichen Dialog bereichere, bezweifelt Maissen dies und vermutet, dass man durch einen sehr weiten Renaissance-Begriff letztlich eher in die alte methodologische Falle laufe, ein „Alles-ist-x“ zu formulieren (alles ist Imperialismus, alles ist Renaissance, alles ist Moderne).1 Nur enge Definitionen sind scharfe heuristische Werkzeuge, Inklusion kann „well-intentioned“ sein, aber kann zu „empty words“ führen (S. 129), während die Aufgabe von Definitionen gerade die Exklusion bestimmter Gegenstandsbereiche ist. Die Füllung dessen, was die europäische Renaissance war, entwickelt der erfahrene Renaissance- und Frühneuzeithistoriker mit raschen, aber sicheren Strichen anhand der Autoren des 19. Jahrhunderts wie Burckhardt und Michelet ebenso wie anhand der klassischen Autoren wie Petrarca, Machiavelli und Bracciolini. Er erinnert daran, dass die Renaissance-Autoren das „dunkle“ mittlere Alter überwinden und die Antike erreichen und wiederbeleben wollten, deutlich etwa in Petrarcas Briefen an antike Autoren wie Cicero. Natürlich weiß er um die Verwendung des Renaissance-Begriffs in metaphorischer Hinsicht schon seit langem (z.B. Karolingische, Ottonische Renaissance, Renaissance des 12. Jahrhunderts, S. 29). Wenn aber Karl der Große als neuer Augustus oder Alkuin als neuer Horaz ausgestellt wurden, geschah dies, wie Maissen betont, ganz anders (S. 68) – ich würde zusammenfassen: ohne das für die italienische Renaissance konstitutive Moment einer proto-historistischen Konzeption einer fundamentalen Differenz der Epochen. Die Antiken-Emulation der Renaissance-Autoren ist deswegen etwas Besonderes, weil sie in immer größerer Perfektion erfolgte unter der Bedingung der Erfahrung der fundamentalen Trennung und historischen Unerreichbarkeit des Vergangenen, während mittelalterliche Anverwandlungen oder Überblendungen gerade ohne Bewusstsein für grundsätzliche Alterität erfolgten. Dies und die Grundvorstellung, dass Pluralität etwas Positives sein könne gegenüber der einfacheren Vorstellung, dass Einheit (von Herrschaft, von Glauben etc.) die geordnete Welt konstituiere, arbeitet Maissen als die Essenzen der europäischen Renaissance heraus, um zu betonen, dass diese – in vielen Varianten vorkommenden – Essenzen so eben doch nur in Europa entstanden sind. Deshalb dürfe man es, ohne „imperialistisch“ oder anti-globalhistorisch auftreten zu wollen, weiter wagen, schlicht historisch nach dem „Rise of the West“ zu fragen (S. 127) – gerade weil Pluralität, Toleranz und Dialogizität Renaissance-Erbe seien.

Barbara Mittler ist als sinologische Kulturwissenschaftlerin um einen breiteren, in seinen Bedeutungsmöglichkeiten dreifach aufgefächerten Renaissancebegriff bemüht: Renaissance als „epochal frame“ könne man (a) als die Renaissance im Sinne der von Maissen beschriebenen italienischen und westlichen Epoche verstehen; (b) als Chronotyp „Renaissance(s)“, die Ko-Kreationen und Adaptationen sind, die von historischen Akteuren anderer Epochen, Räume und Kulturen mit Inspiration beim ersten Typ geschaffen werden; (c) als „renaissance“ mit kleinem „r“ gemeint im Sinne eines generischen, leicht metaphorischen Begriffs, der ohne tiefer gemeinte geschichtsphilosophische Deutungskraft oder eigenes Epochenwandel-Verständnis alltäglich benutzt wird. Mittler erinnert daran, dass die traditionelle Ordnung chinesischer Geschichtswerke von vorchristlicher Zeit bis in das 17. Jahrhundert an Kaiserdynastien orientiert war, deren Aufstieg, Höhepunkt und Niedergang mit gesamtgesellschaftlichen Depravationseffekten sowie der dann folgenden Einsetzung einer neuen Dynastie den zentralen Grobrahmen von Geschichte bildete. Eher lineare Drei-Phasen-Einteilungen wie im Gongyang-Kommentar waren existent, aber die Ausnahme. Ihr eigentlicher Gegenstandsbereich ist aber die Phase um 1930, als etliche Autoren der vor allem literarischen Moderne eine „chinesische Renaissance“ reklamierten, wie insbesondere Hu Shi (1891–1962). Dieser war für die Haskell Lectures an die University of Chicago eingeladen worden und hielt dort Vorlesungen, die dann in Buchform als The Chinese Renaissance publiziert wurden. Hu Shi versuchte mit diesem Titel die innerchinesische neue Kulturbewegung seinen Zuhörer/innen verständlich zu machen, hatte hierfür wohl nicht Burckhardt, hingegen sicher Edith Sichels heute eher vergessenes Synthesewerk The Renaissance (1917) gelesen (S. 86). Nach Hu Shi sei in China eine ähnliche Regenerierung einer eigenen Nationalliteratur bislang misslungen, welche nun seit etwa 1900 auf der Tagesordnung stehe. Vergleichbar operierten auch Chen Duxiu, Li Dazhao (ein Gründungsmitglied der kommunistischen Partei Chinas) und andere Autoren mit Begriffen wie „Wiedergeburt“ („zaisheng“), „Wiederverjüngung“ („fuxing“), „Neue Welle“ („xinchao“) als Lehnübersetzungen und gegebenenfalls Konzepttransferenzen von „Renaissance“ (S. 141, 151). Wenn sie für ihre Ziele einer literarischen, dann auch allgemein-kulturellen, politischen, gesellschaftlichen Erneuerung Chinas den Chronotyp „Renaissance“ benutzten, wollten sie keine Aussage über Epochenphilosopheme, sondern über nationale Identität treffen (S. 97). Mehrfach betont Mittler dann, dass man akzeptieren müsse, dass „r/Renaissance“ keineswegs ein „intellectual monopoly of Europe“ sei (S. 112). Anstatt die Renaissance als ein „ontologisch autonomes Subjekt“ zu behandeln, das exklusiv europäisch sei, müsse man nun Renaissance als „eine Akkumulation“ von vielen verschiedenen Lese- und Appropriationspraktiken verschiedener Interpreten in verschiedenen Kontexten anerkennen. Renaissance als eine „offene Semiosis, der Änderung unterworfen, offen für Neudefinitionen und Revisionen“, wie sie Zhou Gang folgt (S. 147). Akteure überall auf der Welt „may have been engaged as equals in the writing of r/Renaissances“ – und es sei nicht „unsere [sc. westliche]“ Aufgabe „ihnen [sc. Nicht-Europäern]“ zu erlauben, „unsere“ Renaissance „zu benutzen“ (S. 119), denn „Sinocentrism is not the answer to European claims“ (S. 139). Stattdessen lädt Mittler also zu einer Renaissance-Forschung im Sinne einer transdisziplinären Heuristik (S. 150) ein, die eine „History-in-common“, eine gemeinsame globale Geschichts- und Kulturwissenschaft bedeutet.

Beide Autor/innen und Dialogpartner/innen vermeiden also die Opposition von Eurozentrismus vs. dezentrierter Geschichtsschreibung (ggf. Sinozentrismus). Der eigentliche Unterschied zwischen beiden liegt aber wohl darin, dass Maissen methodologisch eher deskriptiv-analytisch vorgeht, während Mittler latent und zum Teil offen leicht normativ „r/Renaissance“ auch als ein kulturelles dialogisches Erleben in der jüngeren Vergangenheit, aber auch im Hier und Jetzt versteht. Eine „global History-in-common“ ist auch ein ethisch kulturüberschreitendes, die wissenschaftlichen Akteure inkludierendes Geschehen: „[I]f we make this the basis of our writing of a new and global History-in-common, which no longer takes the European case as ‚the Big (and only original) one‘ [...] then we can move from these specific histories back to History again“ (S. 148).

Weiter bleibt bei Maissen die historiografische Konzeptbildung des genuin historistischen Begriffs des 19. Jahrhunderts sehr nah und fragmentarisch mit den Metaphern des „rinasci“ der Zeit um 1400 zusammenbehandelt. Man müsste wohl das 19. Jahrhundert selbst als eine Epoche der historistischen Konstruktion oder vielleicht „Aktualisierung“ (Mittler nach S. Conrad, S. 49) betrachten, oder als Chiffren-Bildung – wie in der Architektur gleichzeitig Neo-Renaissance-, Neo-Gotik-Bauten etc. entstanden, als Chiffren für die im Geist des Historismus als abgeschlossen betrachteten Epochen, die nun monumental nebeneinander in der modernen Welt erinnert werden konnten.2 „Renaissance“ als Chiffre entsteht erst, wenn sie wirklich vorbei ist, also mit der Moderne – und diese Chiffre kann selbst diffundieren, rezipiert, neu semantisiert werden. Aus Sicht des Rezensenten behandelt Mittler „nur“ den (wenngleich wichtigen) Fall, dass diese moderne Chiffre diffundiert, verändert, kulturell transferiert wird.

Eine andere Frage wäre, ob man beschreibungssprachlich in einem gleichwohl eng definierten Sinn von Renaissance als Epochenstruktur-Typ sprechen kann, der abstrahiert einige Kriterien aufweisen muss. Mittler zeigt bei Hu Shi und den anderen Autoren um 1900 eigentlich kaum Beispiele von Quelltexten, in denen ernsthaft in einem strukturellen Dreisprung auf eine klar konturierte „erleuchtete“ Zeit vor der jüngeren, zu verdrängenden Nahvergangenheit zurückgegriffen würde. Die um „nationalchinesische Neugeburt“ bemühten Autoren scheinen primär an denjenigen Phänomenen der italienischen Renaissance interessiert gewesen zu sein, aufgrund derer die Nationalkultur „zum Sieg geführt“ wurde – von der Wiedererfindung des ciceronischen Latein etwa liest man nichts. Das ist alles eher der Blick des 19. Jahrhunderts, zum Beispiel des Risorgimento oder sogar Mussolinis auf die Renaissance (vgl. Preludio zur Machiavelli-Ausgabe, 1924). Zumindest nach Mittlers Darstellung stellten bewusste Konfuzius-Chiffrierung oder ähnliches und Rückgriffe hierauf als Element des Selbstverständnisses der Zukunftsexploration kein zentrales Moment bei Hu Shi und anderen dar. Im Gegenteil wird „Renaissance“ eher „positiv missverstanden“ oder disambiguierend auf die Neuheits- und Öffnungssignale der Humanisten reduziert und so als Synonymbegriff für den Beginn einer eigenen (ggf. sozialistischen) Moderne aus einer eher dichotomen Sicht des Abstoßens der Vormoderne verwandt und folgt damit eher einem Geschichtsmodell der Linearität. Vermutlich wäre die Konfrontation der chinesischen Moderne-Autoren unmittelbar mit den europäischen Renaissance-Chiffrierungen um 1900 als Diskursmasse das direkter Nahliegende gewesen, während der so gewählte Dialog zwischen europäischer „Ur“-Renaissance (Europa um 1500) und dieser Transferbewegung der Renaissance-Chiffre um 1900 (China/USA um 1920/30) eher noch eine Fülle von methodischen Zwischenfeldern, -möglichkeiten und -hiaten sichtbar werden lässt.

Denn es mag sehr wohl in der Weltgeschichte (Hoch-)Kulturen gegeben haben, in denen analoge Phänomene zur italienischen Renaissance stattfanden: zum Beispiel die Wiederentdeckung der arabischen Literatur und Philosophie im Osmanischen Reich seit ca. 1700, nachdem die Osmanisierung dieselbe lange Zeit der Nicht-Pflege überantwortet hatte. Ein abstrakter Epochenstruktur-Typ „Renaissance“, der als heuristisch-deskriptives Werkzeug (nicht als Gegenstand von historischer Semantik- und Diskursanalyse) eingesetzt würde, müsste Definitionskriterien enthalten wie ein Epochen- und Zeitkonzept, in dem eine rudimentäre Dreiteilung von Epochen vorkommt; einen Rückgriff der neuesten auf die älteste Epoche; einen Beginn von transepochaler Kompetitivität zwischen erster und letzter Epoche; ein proto-historistisches Geschichtsbewusstsein; sowie gewisse inhaltliche Komponenten wie vielleicht die Pluralitäts-Denkbarkeit vs. Prämierung von Einheit als Ordnung – aber das müsste man kulturvergleichend ermitteln. Das wäre, erstens, eine abstrakte Renaissance-Heuristik.

Mittler hat aber natürlich recht, dass die Erforschung der Renaissance-Konzept-Transfers (wie auch anderer Epochenkonzepte) ein wichtiger Forschungsgegenstand für sich ist. Epochenkonzept-Transfers haben nun einmal mannigfach und mit durchaus nachhaltigen, fast dramatischen Folgen stattgefunden – man kann sie rückwirkend gar nicht mehr „verbieten“, sondern nur erforschen. Das ist ein zweites Forschungsfeld für sich.

Und schließlich ist in Betracht zu ziehen, dass die wachsende Reflexion späterer Generationen zur Historizität der Renaissance-Autoren Berücksichtigung finden muss. Es müsste also das spätbarocke oder frühaufklärerische Sich-Verhalten zu Antike/Neuzeit (Querelle), die Haltung der Akteure des 16. bis 18. Jahrhunderts selbst zur hermeneutischen Erfassung von Nicht-Europäischem und von Nicht-Europäern zu Europäischem mithistorisiert und -beachtet werden. Denn insoweit erschütterte die hermeneutische Herausforderung auf beiden Seiten – mit der Synchronisierung von asynchronen Geschichten und Chronologien – noch die Aufklärungsmissionare in Peking im späten 18. Jahrhundert und auch Peruaner um 1600: Die Nicht-Selbstverständlichkeit von Epocheneinteilungen wurde schon wieder zum jahrhundertelangen Erfahrungs- und Geschichtsgegenstand. All das müsste man wohl als Vor- und Zwischengeschichte vor der Chiffrenbildung von „Renaissance“ um 1850/1900 einbeziehen. Dies wäre eine dritte Problembenennung und Frage, wie Zeiten synchron und diachron verstanden und bezeichnet wurden.3

Doch ist es, wie eingangs erwähnt, wirklich erfrischend, wie hier das humanistische Dialog-Modell aufgegriffen wurde – anstatt (zum Beispiel in Forschungsverbünden) der Einheitlichkeit und der Homogenität der Ansätze zu huldigen und Dissonanz und (auch disziplinäre) Nichtübereinstimmung zu kaschieren: Ein solcher Dialog zeigt, dass souveräne Köpfe auch miteinander publizieren können, die nicht dieselbe Auffassung teilen. So wie die Renaissance nur höfisch domestiziert im Klientelismus des kaschierenden Absolutismus überlebte, muss man hoffen, dass es Möglichkeiten für die Einspeisung solcher antithetischer Frische in die Hülle von Antragslogiken gibt, die auf Einheits-self-fashioning dringen. Dass die betreffenden Grundtexte beider Dialogpartner/innen im Anhang auch in englischer Übersetzung in Ausschnitten zu Verfügung gestellt werden, bereichert die Leser/innen um die Möglichkeit weiterer Nachprüfung und Inspiration. Auch für die Lehre kann man gut imaginieren, dass ein solcher konfrontativer Ansatz stärker das Nachdenken und Selbst-Positionieren bei Lehrenden und Lernenden anregt.

Anmerkungen:
1 Der Poppersche Satz „Eine Theorie ist falsifizierbar, wenn die Klasse ihrer Falsifikationsmöglichkeiten nicht leer ist“ kann insoweit abgewandelt werden in dem Sinne, dass eine heuristisch gemeinte Definition, die (nahezu) nichts ausschließt, auch sehr wenig konturierte Erkenntnis produzieren kann. Karl R. Popper, Logik der Forschung, 9. verb. Aufl., Tübingen 1989, S. 53.
2 Cornel Zwierlein, Modell Italien (1450–1650), in: Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (Hrsg.), Europäische Geschichte Online, Mainz 23.09.2019, <http://www.ieg-ego.eu/zwierleinc-2019-de>; URN: urn:nbn:de:0159-2019091703 (08.09.2020).
3 Vgl. CfP (Deadline 31.10.2020): Zeiten bezeichnen. Frühneuzeitliche Epochenbegriffe: europäische Geschichte und globale Gegenwart / Labelling Times. The ‚Early Modern‘ – European Past and Global Now, in: H-Soz-Kult, 30.07.2020, <https://www.hsozkult.de/event/id/event-93007> (08.09.2020).

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