Das kürzlich veröffentlichte Portal Open Memory Box https://open-memory-box.de/ mit Filmmaterialien aus der DDR kann man sich wie eine Spielwiese für Journalist/innen, ehemalige DDR-Bürger/innen und Zeithistoriker/innen vorstellen. Während einem Archivbesuch meist eine Anfrage mit Themenstellung vorausgeht und im Anschluss ein Stapel Quellen aus einem unzugänglichen Lager gebracht wird, bietet Open Memory Box sozusagen über die Hintertür den direkten Zugang zu den verborgenen Kisten. Auf dem Filmportal sind seit dem 23. September 2019 über 2.000 digitalisierte Schmalfilmrollen (8 mm und Super 8) von 148 Familien aus der DDR einzusehen. Das entspricht 415 Stunden Hochzeiten, Feten, Arbeitseinsätze, Chinareisen, Westbesuche und vielem mehr auf schwarzweißem und farbigem Zelluloid aus den späten 1940er-Jahren bis 1990.
Das Material hatten die Projektentwickler nach einem öffentlichen Aufruf ab 2013 gesammelt und mit einer Förderung unter anderem der Bundesstiftung Aufarbeitung, des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, des DAAD sowie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung realisieren können. Während Alberto Herskovits1, schwedischer Produzent und Dokumentarfilmer, für die künstlerische Umsetzung zuständig war, stand Laurence McFall2, kanadischer Politikwissenschaftler und Leiter des Centre canadien d’études allemandes et européennes (Montreal), als wissenschaftlicher Berater zur Seite. McFalls hatte zuvor mit der Befragung von über 200 Zeitzeugen eine Antwort auf die Frage nach der relativen Stabilität der SED bis 1989 und deren abruptes Ende mit der Friedlichen Revolution gesucht.3
Das Filmportal ist übersichtlich gegliedert und in deutscher, englischer, französischer sowie russischer Sprache verfasst. Es eröffnen sich den Besucher/innen drei sehr unterschiedliche Einstiege, wobei der erste am innovativsten ist: das „Anti-Archiv“4. Hier wollten sich die Macher vom Konzept eines traditionellen (Film-)Archivs deutlich abgrenzen und dem Gedanken einer geöffneten Büchse am nächsten kommen. Auf einer leicht bedienbaren Leiste erscheinen 52 eher assoziative Begriffe: z.B. Angst, Erotisch, Schießen. Wählt man etwa „Gelb“ aus, folgt eine kurze Sequenz an Schnipseln von gelben Blumen, gelben Farbstichen, gelben Jacken, gelben Autos, gelben Küken, untermalt von einer Soundcollage. Hält man das entsprechende Bild an, kann man zu der dazugehörigen Originalfilmrolle („Roll“) springen und sieht plötzlich Aufnahmen von zwei Kleinkindern in einer gelben Badewanne. Diese Anwendung ist verspielt, lädt zum Entdecken ein und lebt von der Faszination an fremden Intimbildern.
Der zweite Einstieg, das „Archiv“ 5, erscheint eher konventionell mit Suchfeld und Filter, mit dem die Ergebnisse nach Jahrzehnten sortiert werden können. 2.700 Schlagwörter und 50.000 Marker ermöglichen die gezieltere Suche, wobei die Suchoperation noch optimierbar ist. Schlägt man etwa „Punk“ nach, landet man bei „Aussichtspunkt“. Der Vorteil ist jedoch naheliegend, denn nun können die Filme mit Fragestellungen zu Mobilität, Geschlecht, Familie, Mode oder Jugend seriell und über die Jahrzehnte vergleichend erforscht werden. So treten mit „Rockbands“ markierte Szenen erst ab den 1970er-Jahren auf. Von der ausgewählten Szene kommt man über das Feld „Roll“ zur Originalfilmrolle und über „Box“ zur ursprünglichen Filmsammlung. Diese Navigation ist für Interessierte aber auch Wissenschaftler hilfreich, um mehr über den Kontext der Szenen zu verstehen.
Der dritte Einstieg, „Geschichten“ 6, bedient das Genre der Dokumentation. Hier wurden für drei Kurzfilme (weitere sind angekündigt) Szenen der Schmalfilme montiert, musikalisch untermalt und von Beteiligten kommentiert. Zum ersten Mal erhält man Informationen über Personen, Orte und Anlässe. Wobei die Erzählungen im off die Szenen eher kontrastieren, denn anders als die Bilder vom häuslichen Glück, erinnern die Zeitzeug/innen retrospektiv häufig familiäre Konflikte und Alltagsprobleme in der DDR. Das ist unterhaltsam, informativ und Herskovits hat hier seine Qualitäten als Dokumentarfilmer deutlich bewiesen, denn durch den Einsatz von Musik und Erzählerstimmen werden die Filme, die im „Anti-Archiv“ und „Archiv“ wie Zufallsfunde auf dem Flohmarkt wirken, emotionalisiert und personalisiert. Geschichten über die seltenen Besuche der Mutter bei ihrem Kind während des Studiums machen deutlich, was in der Berichterstattung über Open Memory Box oft fälschlicherweise behauptet wird: Die Schmalfilme würden „Alltag“7 in der DDR zeigen. Dafür aber waren die Kameras zu teuer, die Filme zu selten, die Anlässe zu besonders. Darüber klärt das Portal jedoch nicht auf.
Doch das ist nicht das Einzige, was Open Memory Box vermissen lässt. Die Entscheidung, die Filmrollen und Schnipsel zu anonymisieren, ist aus Gründen des Personenrechts nachvollziehbar, dennoch ist einzig die Erwähnung einer Inventarnummer zu wenig. Nach welcher Systematik wurden die Rollen und Sammlungen erfasst? Chronologisch oder nach dem Eingangsdatum? Ein Beispiel: „Box 059 Roll 13“ zeigt unter anderem Szenen eines afrikanischen Landes. Wie lautete der Originaltitel der Filmrolle? Was war Anlass der Reise? Wann und wo entstanden die Aufnahmen? Auch die Einordnung in Jahrzehnte ist hier zu vage. Das wären aber wichtige Informationen für eine Quelleninterpretation. Hinzu kommt, dass die Systematik der Sammlungen („Box“) unübersichtlich gestaltet ist, denn nicht die einzelnen Rollen lassen sich auswählen, sondern nur die verschiedenen Schlagworte der Filme. Je länger man auf dem Portal verweilt, desto mehr ergeben sich Fragen. Das kann produktiv sein, aber auch Ratlosigkeit auslösen. Hier wird deutlich, dass sich Open Memory Box weniger an Zeithistoriker/innen richtet und mehr an Mitglieder der DDR-Erfahrungsgemeinschaft, denn beim Betrachten verschiedener Aufnahmen zur Jugendweihe oder dem Ferienlager werden unweigerlich Erinnerungen an die eigenen Erlebnisse stimuliert.
Die Praxis Schmalfilm in der DDR bleibt dabei merkwürdig kontextlos und scheinbar selbstverständlich. Warum gab es Schmalfilm in diesem Land? Wer konnte eigentlich filmen? Was durfte gefilmt werden? Wieso gibt es schon Aufnahmen aus den 1940er-Jahren? Kein einführender Text klärt darüber auf. Hier haben die Macher eine Chance verpasst, die bedauerlich ist, denn seit Jahren gibt es ein gesteigertes Interesse von Wissenschaftler/innen und Archivar/innen an solchen Bildquellen, das sich in zahlreichen Tagungen und Sammelbänden ausdrückt.8 Es sind Fragen, die vergleichbare Portale sehr wohl beantworten, die allerdings unter Federführung von Archiven entstanden.9 Auch wenn dort nicht immer alle Filme zu sehen sind, wird Wert gelegt auf die umfangreiche Erfassung des Entstehungszeitraums, des Originaltitels, nach Familien sortiert und sogar Daten über die Schmalfilmer/innen werden gesammelt.
Open Memory Box ist kein Archiv im traditionellen Sinn, sondern eher Beispiel für ein „digital archive“ 10, wo Wissen dynamisch und jederzeit zugänglich ist. Herskovits und McFalls sind auch keine ausgebildeten Archivare. Trotzdem haben Sie mit dieser beachtlichen Materialsammlung und –digitalisierung eine Quelle sichtbar gemacht, die bis jetzt von Zeithistoriker/innen ignoriert wurde. Vielleicht hat es gerade der ungewöhnlichen Kooperation aus einem schwedischen Dokumentarfilmer und einem kanadischen Politikwissenschaftler bedurft, um ein solches Pionierprojekt zu realisieren, denn Archive sind abhängig von öffentlichen Mitteln, deren Vergabe an erinnerungspolitische Interessen gebunden ist. Das Portal kann hier eine wichtige Lücke schließen. Und vielleicht auch Brücken bauen, denn die endlosen Szenen von Spaziergängen, Tanzparties, Familienritualen und Grillfesten lassen erahnen, dass trotz deutsch-deutscher Teilung, die Unterschiede zwischen Ost und West gar nicht so groß waren. Manchmal lassen sie sich einzig am Etikett einer Bierflasche ausmachen. Inwiefern das Material für historische Fragestellungen verwendet wird, bleibt abzuwarten. Einen kreativen Ausgangspunkt bietet Open Memory Box in jedem Fall. Es ist eben eine Spielwiese, die zum Entdecken einlädt, aber auch zum Verlieren, wenn man keine konkrete Frage hat.
Anmerkungen:
1 Vgl. http://www.altofilm.se/About_us.html (30.09.2019)
2 Vgl. http://www.irtg-diversity.com/index.php?page=people&person=laurence_mcfalls&id=392p;id=392 (30.09.2019)
3 Vgl. Laurence McFalls, Communism’s Collapse, Democracy’s Demise? The Cultural Context and Consequences of the East German Revolution, London 1995.
4 Vgl. https://open-memory-box.de/anti-archive (30.09.2019)
5 Vgl. https://open-memory-box.de/archive (30.09.2019)
6 Vgl. https://open-memory-box.de/stories (30.09.2019)
7 Siehe dazu die Tagesschau auf ARD https://www.ardmediathek.de/ard/player/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3RhZ2Vzc2NoYXUyNC9hMWMzYTQ4OC1iYmE3LTQxYTgtODRkMi0yOWFmMjIxOTczMjAvMQ/; Das heute journal im ZDF https://www.zdf.de/nachrichten/heute-journal/open-memory-box-104.html; Berliner Zeitung https://www.berliner-zeitung.de/kultur/alltag-in-der-ddr-online-filmarchiv-zeigt-bisher-ungesehene-aufnahmen-33217248. (30.09.2019)
8 Karen L. Ishizuka / Patricia R. Zimmermann (Hrsg.), Mining the Home Movie. Excavations in Histories and Memories. Berkley 2008; Sonja Kmec / Viviane Thill (Hrsg.), Private Eyes and Public Gaze: The Manipulation and Valorisation of Amateur Images. Trier 2009; Laura Rascaroli / Gwenda Young (Hrsg.), Amateur Filmmaking. The Home Movie, the Archive, the Web. New York u.a. 2014; Siegfried Mattl u.a. (Hrsg.), Abenteuer Alltag. Zur Archäologie des Amateurfilms. Wien 2015. (30.09.2019)
9 Vgl. etwa das spanische Red del cine doméstico, https://www.memoriasceluloides.com/; Österreichisches Filmmuseum, https://www.filmmuseum.at/jart/prj3/filmmuseum/main.jart?j-j-url=/sammlungen/filmsammlung_und_restaurierung/_amateurfilm&ss1=ys1=y; Archivo Nazionale del Film di Famiglia in Bologna, https://www.homemovies.it/
10 Wolfgang Ernst, Digital Memory and the Archive. Minneapolis u. London 2013, S. 84–86.