Obwohl sich der attische Seebund in der althistorischen Forschung seit jeher großer Beliebtheit erfreut und gerade im englischsprachigen Raum auch Gegenstand jüngerer Untersuchungen ist1, erschienen in Deutschland in den vergangenen zwei Jahrzehnten nur wenige Arbeiten, die sich mit der Struktur und dem Charakter des Seebundes beschäftigten.2 Umso erfreulicher ist es, dass mit der im Wintersemester 2013/14 in Münster angenommenen Dissertation von Christian Igelbrink nun wieder ein Werk publiziert wurde, das sich diesem Thema widmet. Denn anders als der Titel auf den ersten Blick nahelegt, ist das Ziel der Arbeit durchaus vielschichtig: So möchte der Autor nicht nur die Rechtsformen der athenischen Gründungen im 6. und 5. Jahrhundert v.Chr. bestimmen und die Anlage der Apoikien und Kleruchien in ihrem historischen Kontext verorten. Vielmehr geht es Igelbrink darüber hinaus darum, die (in seinem Werk begrifflich weit gefasste) Kolonisation als Herrschaftsmittel der Athener im Seebund zu interpretieren und mit Hilfe eines Phasenmodells nachvollziehbar zu machen, welche außenpolitischen Funktionen die Gründungen im 5. Jahrhundert erfüllten und welche Entwicklungslinien sich aufzeigen lassen.
Im Anschluss an die Einleitung diskutiert Igelbrink die Grundbegriffe seiner Arbeit: Eine terminologische und rechtssystematische Untersuchung soll die Merkmale von Apoikien und Kleruchien im 5. Jahrhundert möglichst eindeutig identifizieren. Indem der Autor auf diese Weise klare Kriterien für die verschiedenen Gründungstypen bestimmt, wendet er sich gegen Forscher, die betonen, die Quellengrundlage im 5. Jahrhundert ermögliche keine Definition gerade der Kleruchie, und deshalb auf Zeugnisse des 4. Jahrhunderts zurückgreifen. Ebenso kritisiert er Thesen, die von fließenden Übergängen zwischen Apoikien und Kleruchien ausgehen oder rechtliche Zwischenformen erkennen. Die Basis für seine Analyse bilden dabei vornehmlich inschriftliche Zeugnisse, die historiographischen Werke werden aufgrund ihrer unscharfen Verwendung der Begrifflichkeiten nur ergänzend herangezogen. Als Ergebnis hält Igelbrink fest, dass sich die Kleruchien ab dem frühen 5. Jahrhundert als eigenständige Rechtsform entwickelten und im Gegensatz zu Apoikien von athenischen Bürgern besiedelt wurden, die ihr Bürgerrecht weiterhin behielten und in diesem Sinne steuer- sowie wehrpflichtig blieben. Die Kleruchien wurden dabei in der Folge von Konfiskationen des Territoriums anderer Poleis angelegt und hatten häufig einen militärischen Charakter. Demgegenüber bildeten Apoikien eigenständige Gemeinwesen, die seit archaischer Zeit mit der Absicht dauerhafter Besiedlung gegründet wurden.
Nach diesen Vorbemerkungen wendet sich Igelbrink in den nächsten zwei Kapiteln den einzelnen athenischen Gründungen zu. Dabei verweist er zunächst auf das besondere Gepräge der frühen Kolonien, deren Anlage von Einzelpersönlichkeiten initiiert wurde. Erst mit der Vertreibung der Peisistratiden und den Reformen des Kleisthenes veränderte sich der Charakter der Siedlungen: Sie gingen nun zumeist auf Entscheidungen des attischen Demos zurück. Das vierte Kapitel gliedert der Autor nach bedeutsamen Einschnitten der athenischen Geschichte im 5. Jahrhundert und diskutiert vor diesem Hintergrund chronologisch das Quellenmaterial zu den einzelnen Gründungen. Hierbei stellt er die Rechtsformen, historischen Kontexte, Besonderheiten und Funktionen der jeweiligen Kolonien vor. Mit Hilfe dieser Analyse identifiziert Igelbrink verschiedene Faktoren, die Auswirkungen auf die Gründungstätigkeit der Athener hatten: So prägten innenpolitische Vorgänge ebenso wie außenpolitische Veränderungen die Aktivitäten der attischen Polis. Ihre Siedlungspolitik wurde durch die zunehmende Rivalität mit Sparta und Versuche, den Seebund zu erhalten sowie ökonomische und geopolitische Interessen zu schützen, beeinflusst. Insgesamt folgert der Autor, dass die Kolonien im 5. Jahrhundert ein wichtiges Herrschaftsinstrument Athens darstellten. Dabei entsprach die Rechtsform der Kleruchie den Ansprüchen, welche die Athener an ihre Gründungen stellten, am besten und bildete das favorisierte Gründungsmodell, da sie zuverlässig und dauerhaft Zugriff auf die in Frage stehende Region gewährte. Apoikien wurden demgegenüber nur dann angelegt, wenn strukturelle oder politische Gründe dies nahelegten, wie etwa im Falle von Brea.
Im Anschluss macht sich der Autor daran, die Ergebnisse der Einzeluntersuchungen zu systematisieren und in den Kontext der athenischen Machtpolitik einzuordnen. Hier verdeutlicht der Autor, dass schon antike Beobachter die athenischen Gründungen als Herrschaftsmittel betrachteten und dementsprechend negativ beurteilten. Die Verbindungen zwischen Metropolis und Kolonien wurde dabei durch verschiedene rechtliche, politische und kultische Maßnahmen hergestellt und gestärkt, wobei deren Effizienz nach Igelbrink variierte: Bei den Kleruchien bestand wegen der juristisch-administrativen Verknüpfungen eine enge Bindung an Athen. Kultisch-religiöse Handlungen allerdings spielten im 5. Jahrhundert anders als in archaischer Zeit eine eher geringe Rolle. In Kombination mit anderen Machtinstrumenten der Athener – etwa militärischen Aktionen sowie rechtlichen, politischen und kultischen Eingriffen in die inneren Strukturen der verbündeten Städte – bildeten die Gründungen laut Igelbrink ein wichtiges Element der athenischen Strategie zur Herrschaftsetablierung und -sicherung; wirtschaftliche oder sozialen Motive waren bei der Anlage von Kolonien demgegenüber von untergeordneter Bedeutung. Die außenpolitische Ausrichtung der athenischen Gründungen unterstreicht der Autor, indem er am Ende des Kapitels sein Phasenmodell entwirft: Nach einer ersten Expansion mit anschließender Konsolidierung des Machtbereiches (erste expansiv-konsolidierende Phase) erkennt er ab 450 v.Chr. präventive Maßnahmen, um Abfallbewegungen innerhalb des Seebundes einzudämmen (innenpolitisch-präventive Phase). Daran schließen sich ab etwa 445 v.Chr. erneute Bemühungen an, den Herrschaftsbereich auszudehnen und zu sichern (zweite expansiv-konsolidierende Phase), bevor die Kolonien in der Zeit des Peloponnesischen Krieges vornehmlich als Repressionsmittel dienten, um die athenische Machtstellung zu behaupten (repressive Phase).
Am Ende stellt der Autor die wichtigsten Ergebnisse und Thesen noch einmal übersichtlich zusammen. Erneut betont Igelbrink hier die hohe Relevanz der Gründungen für die Aufrechterhaltung der athenischen Herrschaft, indem er den Seebund als „maritimes Kolonialreich“ charakterisiert und zugleich die Kleruchien als einen Grund für das Scheitern des athenischen Imperiums identifiziert: Da sie als Zwangsmittel wahrgenommen wurden und als solche von den verbündeten Poleis nicht akzeptiert werden konnten, steigerte sich der Widerstand gegen die Herrschaft der Athener. Den Abschluss der Arbeit bilden ein Literaturverzeichnis sowie mehrere Register.
Insgesamt legt Igelbrink ein sehr nützliches Werk vor. Die zuletzt genannten Überlegungen zur Herrschaftspolitik Athens überzeugen aber nur teilweise: So ist es wenig überraschend, dass eine Untersuchung zu athenischen Gründungen zu dem Ergebnis kommt, die Kolonien seien eines der wichtigsten Herrschaftsmittel der Athener gewesen; Igelbrinks kursorische Erwähnung weiterer Maßnahmen zur Machtsicherung kann deren Funktion und Bedeutung nur ansatzweise erfassen. In diesem Sinne berücksichtigt auch die Charakterisierung Athens als maritimes Kolonialreich die Komplexität des Seebunds nicht ausreichend. Die Stärke von Igelbrinks Werk liegt aber in der systematischen und gründlichen Untersuchung der athenischen Kolonien im 6. und 5. Jahrhundert. Sicher, es ist nicht alles neu, und das erarbeitete Phasenmodell orientiert sich stark an der gängigen Gliederung athenischer Außenpolitik im 5. Jahrhundert. Doch durch die Bestimmung klarer Kriterien für die verschiedenen Gründungsformen ergänzt Igelbrink sinnvoll frühere Untersuchungen, die sich hauptsächlich auf das 4. Jahrhundert beziehen. Und auch wenn seine rechtliche Einteilung natürlich idealtypisch ist, gelingt es ihm, eindeutige Zuordnungen zu treffen und überzeugend zu begründen. Treffende Interpretationen gelingen ihm darüber hinaus zur Attraktivität der Kleruchie für die Athener im 5. Jahrhundert. Überdies wird die tabellarische Übersicht über die athenischen Gründungen zukünftigen Forschern von großen Nutzen sein; die dazugehörige Zusammenstellung der wichtigsten epigraphischen und literarischen Zeugnisse ersetzt zudem das fehlende Quellenregister. Obwohl man sich bei der Lektüre zuweilen eine klarere Sprache und Positionierung sowie etwas mehr Stringenz in der Argumentation gewünscht hätte, überzeugen so insbesondere die ersten vier Kapitel der Dissertation. Damit legt Christian Igelbrink ein wichtiges Werk vor, von dem Althistoriker, die sich mit dem Seebund beschäftigen, aufgrund der akribischen Einzeluntersuchungen profitieren werden.
Anmerkungen:
1 Vgl. insbesondere die Beiträge in den Sammelbänden von Polly Low (Hrsg.), The Athenian Empire, Edinburgh 2008 und John Ma / Nikolaos Papazarkadas / Robert Parker (Hrsg.), Interpreting the Athenian Empire, London 2009.
2 Eine der wenigen Ausnahme stellt die rechtshistorisch ausgerichtete Arbeit von Philipp Scheibelreiter dar: Untersuchungen zur vertragsrechtlichen Struktur des delisch-attischen Seebundes, Wien 2013.