So zahlreich die Studien zur Arbeit der DDR-Sicherheitsorgane, insbesondere zur Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit, inzwischen auch sind, so selten waren bisher Untersuchungen zum Zusammenspiel der Arbeit dieser Sicherheitsorgane mit den Instanzen des Rechtswesens der DDR. Dabei erweist sich gerade auf diesem Untersuchungsfeld, wie sich die Repressions- und Präventionslogistik dieses nominalsozialistischen Polizeistaates DDR konkret ausgestaltete und über die Jahrzehnte entwickelte. Nun hat Bernd Knabe die Ergebnisse seines Forschungsprojekts zur Praxis des politischen Strafrechts in der Honecker-Zeit vorgelegt. Er untersucht anhand von 27 Fällen die strafrechtliche Verfolgung von Personen, die wegen ihres Übersiedlungsbegehrens, wegen Spionage oder politischer Opposition vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in seiner zentralen Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen inhaftiert waren. Die Zusammenarbeit des MfS-Untersuchungsorgans mit Staatsanwälten und Richtern steht im Mittelpunkt seiner Analysen. Knabe verliert jedoch auch in seinem Forschungsfeld nie aus dem Blick, dass der Charakter des ganzen politischen Systems dadurch geprägt war, dass keine funktionierende Gewaltenteilung bestand und die kontrollfrei herrschenden Führungsgremien der SED die politischen Hauptverantwortungsträger darstellten.
Der Leser bzw. die Leserin dieser Rezension soll wissen, dass sich unter den von Knabe untersuchten 27 Fällen auch die ehedem vom MfS untersuchte Strafsache des Rezensenten selbst befindet. Hier könnte berechtigt der Einwand möglicher Befangenheit aufgeworfen werden. Dieser kann aber vermutlich durch den Umstand relativiert werden, dass der Rezensent dem Autor an dieser Stelle bescheinigt, insbesondere seinen Fall korrekt dargestellt zu haben.
Knabe bemerkt einleitend, dass seit 1971 beim politischen Strafrecht in der DDR einerseits eine fortlaufende Verschärfung der Rechtssetzung zu konstatieren war (S. 11 f.). Andererseits deutet er an, dass auch moderate Rechtsentscheidungen zu verzeichnen waren, die sich aus der Einflussnahme der SED-Führungsgremien auf die Strafverfolgung ergaben (S. 12). Nach Abschluss der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 1975 und mit Aufwuchs der neuen politisch alternativen Gruppen während der 1980er-Jahre stieg die Zahl der Übersiedlungswilligen stetig an. Dasselbe galt für die Zahl der Aktiven im gesellschaftlich minoritären Segment der Opposition. Warum das immer schärfere Schwert des politischen Strafrechts nicht automatisch auch zu seiner verschärften Anwendung führte, erschließt sich sowohl aus opportunistischen Erwägungen der politischen Führung, als auch aus einem sektoralen Strategiewandel in der Arbeit der Sicherheitsorgane. Der Befund dieses Wandels besagt, dass die Sicherheitsorgane im Kampf gegen oppositionelle Aktivitäten zunehmend die Gewichte vom Primat der strafrechtlichen Repression hin zu Techniken der Prävention und Zersetzung verschoben. Dabei wurden zum Teil extralegale Diskriminierungsmethoden und soziale Ausgrenzung praktiziert. Auf dem Feld der Justizpolitik wurde besonders in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre auf dem Feld oppositioneller Aktivitäten die Anwendung strafrechtlicher durch ordnungsrechtliche Instrumentarien substituiert: Auch dies zählte zu den sicherheitsstrategischen Modifikationen. Knabe behandelt in seiner Monographie zwar solche Strategiemodifikationen nur am Rande (S. 298f.). Er äußert jedoch Zweifel an der Stichhaltigkeit obigen (auch vom Rezensenten geteilten) Befunds (S. 41). Denn jenseits dieser sicherheitspolitischen Tendenz hat sich der Maßnahmestaat stets punktuell den Rückgriff auf strafrechtliche Verfolgung vorbehalten und fall- bzw. situationsbedingt auch vollzogen. Andererseits kam es in den 1980er-Jahren vermehrt zu „Rechtsbeugungen“ durch den politisch motivierten Verzicht auf strafrechtliche Verfolgungen, die vom Gesetz her eigentlich geboten waren. Knabe weist zutreffend darauf hin, dass solche zentralen Entscheidungen der SED-Politbürokraten vom MfS und dem Justizapparat widerspruchslos umgesetzt wurden. So wurde auch auf diesem Weg das Rechtsbewusstsein der Bürger spürbar untergraben (S. 12).
In sehr differenzierter Weise gibt Bernd Knabe dem Leser in fünf Abschnitten anhand von Fallanalysen Einblicke in Modalitäten und Besonderheiten der MfS-Untersuchungshaft, der Gerichtsverhandlung, ihrer Auswertung durch Justiz und MfS, des Strafvollzugs sowie des Zustandekommens von Festlegungen für die Zeit nach der Haftentlassung. Er untersucht insbesondere die Abstimmung von Entscheidungen zwischen MfS und Justizorganen zur Einleitung von Ermittlungsverfahren, Verhaftung und Hauptverhandlung. Auch die Vernehmungsstrategien des MfS-Untersuchungsorgans, Varianten des Ablaufs der Hauptverhandlung und die Bedeutung von Rechtsmittelverfahren werden analysiert. Dabei hat Knabe herausgearbeitet, in welchem Ausmaß sich die in politischen Verfahren agierenden Staatsanwälte mit dem MfS-Untersuchungsorgan sowohl während der Ermittlungen als auch in Vorbereitung der Hauptverhandlung als „Justizfunktionäre“ abstimmten. Die Staatsanwälte orientierten sich weitgehend an der rechtlichen Bewertung der Ermittlungsergebnisse durch das MfS, was mittels einer kaschierenden Richtlinie, der Anklageschrift nicht allzu offensichtlich den Schlussbericht des Untersuchungsorgans zugrunde zu legen, nicht wirklich verdeckt werden konnte. Weil auch das Gericht in der Regel der Rechtsauffassung des MfS folgte, kann bei der Prozessinszenierung durchaus von einer „Fassade der Gesetzlichkeit“ gesprochen werden.
Dabei entgeht Knabe in wohltuender Weise der Versuchung, diesen „Normalzustand“ einer Scheinjustiz zur Schablone seiner Fallanalysen zu machen. Vielmehr stellt er die Variationsbreite und Methodenvielfalt der Vollzugsinstanzen politischen Strafrechts und deren Zusammenwirken konkret fallbezogen und sehr anschaulich dar. Hier kommen auch die Abweichungen von der „Norm“ zur Sprache. Knabe konstatiert unter anderem „eine bemerkenswerte Flexibilität bei den zuständigen SED- und MfS-Funktionären“. Zudem macht er ein „individuelles Untersuchungshaftregime“ aus, das spezifischen Informationsabschöpfungsinteressen des MfS und der formalrechtlichen Legitimierung der Ermittlungsresultate seiner Abteilung IX diente (S. 298f.). Dabei mag manchem Leser die Darstellung dieser Vielfalt des Vorgehens jener Repressionsinstanzen die Übersicht erschweren. Jedoch geschieht das zugunsten einer weitgehenden Annäherung an die Wirklichkeit der Exekution politischen Strafrechts in der späten DDR. Knabe berichtet auch über „die mitunter durchaus beachtlichen Bemühungen von Verteidigern“ (S. 219) im Interesse ihrer Mandanten. Gleichwohl blieben diese Bemühungen überwiegend vergeblich und führten höchstens zur graduellen Reduzierung des staatsanwaltlichen Strafantrags im Urteil.
Knabes Monographie zeichnet sich durch eine sorgfältige und differenzierte Behandlung des Themas aus. Er verzichtet auf spekulative und tendenziöse Wertungen, ohne es an Eindeutigkeit hinsichtlich der Beurteilung eines autoritären Polizeistaates fehlen zu lassen. Überall dort, wo er solche Beurteilungen vornimmt, sind sie durch die vorangegangenen Sachdarstellungen gerechtfertigt. So erhält der auf den ersten Blick rein pejorative Begriff „Justizfunktionär“ eine substantielle Rechtfertigung. Es wird klarer und anschaulicher, wie in der DDR auch auf der Grundlage von immer entwickelteren ausdifferenzierten „Gesetzlichkeitsnormen“ und einer weitgehend affirmativen „Justizmaschine“ das Zusammenspiel mit den Sicherheitsorganen funktionierte und wie so ein integrales Repressionsinstrument zusammengesetzt war. Zur Antwort auf die Frage, wie nach dem Ende der DDR mit diesem Kompositum umzugehen sei, das aus Polizei, Sicherheitsorganen (Geheimdienst / Untersuchungsorgan), dem Justizapparat und dem Strafvollzug bestand, ist es wichtig, aus Knabes Studie Folgendes abzuleiten: Das Verhängnisvolle entsprang eher der Einhaltung geltender Gesetze als deren Verletzung. Dies muss in die anhaltende Debatte über „unrechtsstaatliches Recht oder rechtsstaatliches Unrecht“ einfließen.