Wahrnehmungs- und vorstellungsgeschichtliche Studien haben in den letzten Jahren unseren Blick auf die mittelalterliche Welt erheblich verändert. Das gilt zum einen insbesondere für die zeitgenössische Geschichtsschreibung. Denn in einer ganzen Reihe von Untersuchungen wurde herausgearbeitet, wie sehr Vorstellungs- und Wahrnehmungsmuster der Historiographen das von ihnen Beschriebene präjudizierten und die Realität formten. Das gilt zum anderen auch für die mittlerweile zahlreichen Versuche, sich der Wahrnehmung Fremder und der Vorstellung von Fremden bzw. Fremdem zu nähern. Auch hier hat sich das Bild von blockartig und gleichförmig denkenden, lediglich auf Ausgrenzung und Abwehr des Fremden zielenden mittelalterlichen Menschen längst deutlich differenziert. Gleich in mehrfacher Hinsicht ordnet sich die 2019 erschienene, schon vier Jahre zuvor eingereichte Dissertation Anna Aurasts in diese schon länger florierenden Forschungsfelder ein. Wie in den meisten angesprochenen vorstellungshistorischen Arbeiten zur mittelalterlichen Fremdwahrnehmung auch, handelt es sich dabei um eine Fallstudie: Hier stehen zwei Chroniken vom Beginn des 12. Jahrhunderts im Zentrum der Betrachtung, die Cronicae et gesta crucum sive prinicipum Polonorum des Gallus Anonymus und die Chronica Boemorum des Cosmas von Prag.
In ihrer Analyse dieser beiden Texte, die zunächst einmal ausführlich jeder für sich (Kap. 2, S. 35–151, und Kap. 3, S. 153–281) sowie anschließend vergleichend betrachtet werden (Kap. 4, S. 283–300), folgt Anna Aurast sehr streng ihrer in der Einleitung (Kap. 1, S. 15–34) entwickelten Methodik. Dabei baut sie auf bisherigen Definitionsversuchen der Forschung auf (darunter Zygmund Bauman, Jerzy Strzelczyk, Bernhard Waldenfels), setzt sich jedoch zugleich von ihnen ab. So kommt sie zu einer durchaus eigenen theoretischen Arbeitsgrundlage und Methode. Dabei wird sie von der – eigentlich selbstverständlichen, tatsächlich jedoch oft fehlenden - Überlegung geleitet, den Begriff des Fremden möglichst genau zu definieren.
Das Resultat der dazu angestellten Gedankengänge ist der Lesbarkeit der Arbeit vielleicht nicht immer förderlich, jedoch der Kategorisierung des Fremdheitsbegriffs aus analytischen Gründen zuträglich. Denn im Folgenden wird im gesamten Werk eine Unterscheidung von vier Fremdheitsbedeutungen durchgehalten, tituliert von „fremd 1“ bis „fremd 4“. Fremd ist demnach 1. jemand oder etwas „der eigenen Gruppe nicht Zugehöriges“, 2. auch etwas, das einem solchermaßen Fremden gehört, 3. etwas, das „unbekannt / unvertraut“ ist oder 4. „unverständlich / unerklärlich“. Für jede dieser vier Fremdheitsbedeutungen, die freilich nicht neu sind, differenziert die Verfasserin noch einmal zwischen räumlicher, ethnischer bzw. politischer, religiöser, sozialer, sprachlicher und kultureller Fremdheit, sodass sich insgesamt 24 Bedeutungsebenen ergeben. Innovativ daran sind weniger diese unterschiedlichen Fremdheitsaspekte, die in einer Vielzahl von Studien bereits vorkommen, als die strenge Systematik und das Bemühen um eine Definition des Fremden, welche die Arbeit letztlich ausmacht und von anderen Versuchen abhebt.
Mit geradezu mathematischer Konsequenz durchforstet die Verfasserin denn auch die beiden Grundlagentexte nach Hinweisen auf „Fremde(s)“ auf den von ihr zuvor theoretisch gewonnenen Ebenen. Ihr Vorgehen ist für beide Texte genau gleich angelegt: Nach einigen einführenden Seiten über „Text und Kontext“ (Gallus Anonymus: Kap. 2.1; Cosmas von Prag: Kap. 3.1) folgt der Aufbau exakt den Vorstellungen von „Fremden 1“ bis „Fremden 4“ und den jeweiligen, oben genannten Unterebenen. Dabei wird schon rein quantitativ deutlich, dass die der eigenen politisch-ethnischen und religiösen Gruppe nicht Zugehörigen den wichtigsten Stellenwert in der Vorstellungswelt der Chronisten einnehmen. In politisch-ethnischer Hinsicht sind das insgesamt Berichte über Böhmen, Polen, Deutsche und Ungarn, also die Bewohner der vier Nachbarreiche, in religiöser Hinsicht bei Gallus polytheistische Nichtchristen außerhalb der eigenen Grenzen, bei Cosmas vor allem böhmische Juden. Diese Befunde überraschen nicht, wenn man das mit den Ergebnissen anderer Studien in der mediävistischen Fremdheitsforschung zum Hochmittelalter vergleicht. Denn außerordentlich oft sind politisch-ethnische und religiöse Identitäten in zeitgenössischen Texten zu greifen. Als fremd empfindet man häufig die nächsten, aber eben doch andersartigen Nachbarn, und das Fremde wird ebenso auch in der eigenen Gemeinschaft beobachtet, vor allem aber erscheinen gerade diese Gruppen von „Fremden“ als berichtenswert, weil sie die Interessen der Geschichtsschreiber berühren.
Andere Fremdheitskategorien, etwa „fremd 3“, kommen in dieser Fallstudie deutlich seltener vor - mit tatsächlich Unbekanntem und Unvertrautem, wie man es etwa bei Adam von Bremen oder in späteren Reiseberichten findet, hatten die beiden mittelalterlichen Autoren ausweislich ihrer Chroniken schlichtweg kaum etwas zu tun. Es gehörte nicht zum Berichtshorizont und bildete keinen Gegenstand ihres (historiographischen) Interesses. Bei beiden Chronisten lässt sich mitunter eine negative und auch feindselige Einstellung gegenüber Fremden nachweisen, die sich wiederum, auch dies keine Ausnahme in der hochmittelalterlichen Historiograhie, mit Spezifika erklären lässt, die zur jeweiligen Abfassungszeit am -ort bestanden. Es wird somit unter dem Strich sehr gut deutlich, welche Faktoren die beiden Chronisten zu ihren Vorstellungen über Fremde(s) bewogen. So bietet die auch in Bezug auf die Textanalyse sehr gründliche und fundierte Dissertation zukünftigen Studien über die beiden im Zentrum stehenden Chronisten und ihre Werke eine hervorragende Grundlage auf neuestem Forschungsstand, der im Übrigen - was besonders ist - auch die slawischsprachige Literatur umfasst.
Die einzelnen Ergebnisse zu den beiden Texten, die umfassend erläutert werden, überraschen insgesamt nicht, sondern ordnen sich eher gut in die bisherige Forschung ein. Und so kann man sich nach der Lektüre fragen, warum bei all der Betonung einer methodischen Systematik und bei der mehrfach pointierten Herausstellung einer neuen theoretischen Grundlegung doch die Ergebnisse in Bezug auf die beiden Texte letztlich erwartbar sind. Oder, um es anders auszudrücken, warum die Ergebnisse der Studie, die theoretisch-methodisch und begrifflich durchaus eigene und sehr fundierte Ansätze verfolgt, die Resultate der bisherigen Forschung zu anderen Beispielen hochmittelalterlicher Geschichtsschreibung eher bestätigen. Vielleicht liegt es daran, dass auch ältere Arbeiten schon unterschiedliche Arten von Fremdheit erkannt haben, dass auch sie schon die Identifikation mit religiösen, kulturellen und ethnischen oder politischen „Wir-Gruppen“ und Abgrenzungen von Fremden fundiert und logischerweise nicht theorielos oder unmethodisch untersucht haben.
Zu überlegen wäre letztlich auch, ob die theoretischen Überlegungen zum Fremdheitsbegriff, die hier gar nicht zugrunde gelegt (wie die Unterscheidung verschiedener Fremdheitsgrade bei Justin Stagl) oder die im Literaturverzeichnis genannt, nicht aber operationalisiert wurden (wie die differenzierten Überlegungen Marina Münklers und Werner Röckes) nicht auch schon in eine ähnliche Richtung gewiesen hätten. Denn es ist zwar sicherlich richtig, wenn Anna Aurast die Notwendigkeit betont, ihre Analyse mit einem theoretischen Rahmen abgesichert zu haben, allerdings hat die bisherige Forschung zur mittelalterlichen Fremdwahrnehmung doch auch weit mehr getan, als lediglich begriffsgeschichtlich zu arbeiten (S. 298). Dennoch: Neben dem unbestreitbaren Gewinn der Dissertation in den Einzelanalysen der beiden Chroniken ist positiv hervorzuheben, was die Arbeit im Vergleich mit anderen auszeichnet: die systematisierenden theoretischen Überlegungen sowie eine methodische Stringenz und Begrifflichkeit. Denn das ist in jedem Fall ein Aspekt, an dem in bisherigen Studien zur mittelalterlichen Fremdwahrnehmung ein Mangel besteht.