Ein interdisziplinär besetztes Wissenschaftlerteam aus Wien und Linz hat 1998 bis 2002 im Auftrag der VÖESTAlpine AG die Geschichte deren Vorgängerfirma, der Reichswerke Hermann Göring AG, Standort Linz, aufgearbeitet. Die Beiträge des gemeinsam von der VÖESTAlpine mit vier historischen Instituten der Universität Linz sowie dem Landestheater Linz veranstalteten Symposiums umrissen einige Ergebnisse des abschließenden zweibändigen Sammelbandes 1 und stellten den Zusammenhang mit Resultaten anderer Forschungsprojekte.
Das Symposium eröffnete Ulrich Herbert mit einem Überblick zum Forschungsstand über das Gesamtthema: die Beschäftigung ausländischer Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkrieges. Herbert betonte, daß in der historischen Perspektive der "Arbeitseinsatz" kein überregional gleichförmiges Phänomen darstellte und auch nicht alle zwangsweise zur Arbeit ins Reich verbrachten ethnischen Gruppen gleichen Lebens- und Arbeitsbedingungen unterworfen waren. Vielmehr differenzierte sich ein vielgestaltiges System der Ausbeutung aus, das bestimmte Gruppen bevorzugte (beispielsweise Zivilarbeiter aus den "Westgebieten") und andere demgegenüber deutlich benachteiligte (z.B. "Ostarbeiter"). Hieraus ergab sich eine erste, grobe Kategorisierung der Zwangsarbeiter, die sich jedoch sowohl nach dem Geschlecht der Arbeiter als auch nach Ort, Wirtschaftszweig sowie der speziellen Verwendung des Einsatzes weiter auffächerte. Diese Zusammenhänge seien bei Untersuchungen zur Thematik angemessen zu berücksichtigen.
Zu Beginn des zweiten Tags der Konferenz unterrichtete Oliver Rathkolb über das Anlage des Forschungsprojekts und seine Einbettung in den öffentlichen Diskurs. Er betonte die Interdisziplinarität des Projekts unter Einbeziehung zeithistorischer, wirtschaftsgeschichtlicher, geschlechtergeschichtlicher, volkswirtschaftlicher und psychologischer Ansätze und Zugänge. Ziel des Vorhabens sei die Dokumentation der Zwangsarbeit für Antragssteller an den österreichischen Versöhnungsfonds gewesen. Daneben sollte jedoch auch durch die historische Aufarbeitung der Umstände und Bedingungen der Zwangsarbeit in den Reichswerken Hermann Göring, Linz, Diskussionen angeregt werden, sowohl unter den Mitarbeitern der VÖESTAlpine AG als auch im Fachpublikum wie in der interessierten Öffentlichkeit. Das Symposium selbst verstand sich auch als eine Plattform für diese Information und Diskussion.
Gabriella Hauchs Beitrag galt dem "Geschlecht der Zwangsarbeit". Sie arbeitete die signifikante Benachteiligung weiblicher Zwangsarbeiter heraus. Neben dem geringeren Lohn für annährend gleiche Arbeitsleistung im Vergleich zu den männlichen Zwangsarbeitern derselben "Kategorie" waren sie zusätzlich sexueller Gewalt ausgesetzt, die sowohl andere Zwangsarbeiter als auch das Bewachungspersonal ausübten. Hinzu kamen die teilweise für sie besonders unerträglichen hygienischen Bedingungen in den Baracken und der vielfältig dokumentierte rigide Zugriff des Regimes auf Schwangere durch Zwangsabtreibungen oder, bei "rassisch höherwertigen" Neugeborenen, Kindswegnahme und Freigabe zur anonymen Adoption. Daneben gäbe es jedoch auch eine kleine Gruppe von "Gewinnerinnen" des Systems: Jüdinnen, denen es gelang, unerkannt als "nichtjüdische" Zwangsarbeiterinnen den Konzentrationslagern zu entgehen und so der nationalsozialistischen Todesmaschinerie zu entkommen.
Bertrand Perz öffnete den Blick von Linz auf die anderen Standorte des "Reichskonzerns" Hermann Göring Werke. In seinem Beitrag verglich er die Situation einer spezifischen Gruppe von Zwangsarbeitern, den KZ-Häftlingen, an den Standorten des Konzerns in Oberösterreich und in Polen. Er stellte fest, daß die Erwartungen der Behörden und Unternehmen über die Leistung dieser Zwangsarbeitergruppe von den Ergebnissen bei weitem nicht erreicht wurden. Die Firmen versuchten deshalb durch Festsetzung von verbindlich zu erfüllenden Normen die KZ-Häftlinge zu höheren Leistungen zu treiben, notfalls mit Hilfe von Überstunden bzw. Doppelschichten und drakonischer Bestrafungen. Erstaunlich in diesem Zusammenhang ist, daß das betriebliche Disziplinierungsregime der Häftlinge in einigen Fällen zum Konflikt mit der SS-Lagerleitung führte. Diese sah darin ihr Gewaltmonopol gefährdet; überdies monierte sie den schlechten körperlichen Zustand der Bestraften. Perz' Beitrag machte deutlich, wie notwendig eine bislang immer noch ausstehende, fundierte Gesamtdarstellung des Gesamtkonzerns Hermann-Göring Werke bleibt, auch in Bezug auf die unterschiedlichen Arbeitsbedingungen an den diversen Standorten dieses in seiner Blütezeit europaweit agierenden Konzerns.
Gudrun Pischke und Gerhard Wysocki widmeten sich in ihren jeweiligen Ausführungen der Situation der Reichswerke Hermann Göring am Standort Salzgitter. In ihrem deskriptiv gehaltenen Beitrag informierte Pischke über Anzahl und Ausgestaltung der "Lagerlandschaft" zur Unterbringung der Zwangsarbeiter, die zum Abbau und zur Verarbeitung der Erzvorkommen des Salzgitter Höhenzugs eingesetzt waren. Gerhard Wysocki schärfte hingegen den Blick auf das Verhältnis von Sozialpolitik, Terror und Repression innerhalb des Systems. Er wies auf die enge Verbindungen der Firmenleitung zu Gestapo und SS hin und betonte, daß sich das Management den diesen Organisationen zur Verfügung stehenden Unterdrückungsapparat zu Nutze machte. Die erfolgreiche Kooperation der Firma mit Gestapo und SS schlug sich in einer Reihe von "innovativen" Maßnahmen zur Disziplinierung der Zwangsarbeiter nieder, die nach erfolgreicher Erprobung in Salzgitter von der Speer'schen Kriegswirtschaftsverwaltung der gesamten Rüstungswirtschaft zur Adaption empfohlen, teilweise sogar als verbindliche Richtlinien vorgeschrieben wurden.
Mark Spoerer fasste die inzwischen reichen Forschungsergebnisse zur Zwangsarbeit bei Daimler-Benz zusammen und ergänzte sie mit Thesen aus seinen jüngsten Forschungen zum Thema. Er bestätigte die eingangs von Ulrich Herbert festgestellte Ungleichheit in der Behandlung von Zwangsarbeitern. Innerhalb des Konzerns seien sie von Werk zu Werk, teilweise sogar von Werksteil zu Werksteil äußerst unterschiedlicher Behandlung, abhängig von den jeweiligen disziplinarischen Vorgesetzten, unterworfen gewesen. Dies zeugt von großen operativen Handlungsspielräumen der Unternehmen beim Einsatz der Zwangsarbeiter innerhalb der vom nationalsozialistischen Staat vorgegebenen gesetzlichen Rahmenbedingungen. Kontrovers diskutiert wurden Spoerers Bemerkungen zur ökonomischen Rationalität von unternehmerischen Entscheidungen während des Zweiten Weltkrieges, allerdings ohne die von ihm konzedierten Unterschiede bei den entscheidungsleitenden Präferenzen zwischen privatkapitalistischen Firmen einerseits sowie staatlichen und von Parteiorganisationen getragenen Unternehmen, wie den Hermann-Göring Werken oder VW, andererseits angemessen zu würdigen.
Manfred Griegers Beitrag zu VW zeigte Parallelen zur Situation bei den Reichswerken Hermann Göring auf. Beide Konzerne waren nationalsozialistische Gründungen der zweiten Hälfte der 1930er Jahre in nur schwach industrialisierten Regionen und konnten bis zum Kriegsbeginn keine Stammbelegschaft mehr aufbauen. Sie waren deswegen in besonderem Maße und zu einem frühen Zeitpunkt auf den Einsatz von Zwangsarbeitern angewiesen. Die hierarchische Kategorisierung der Zwangsarbeiter nach Ethnien und Geschlecht folgte nicht nur der rassischen Logik des nationalsozialistischen Gesellschaftsaufbaus, sondern verhinderte auch eine ethnienübergreifende Solidarität und organisierte Resistenz der Zwangsarbeiter gegenüber dem Regime. Abschließend wies Grieger auf die in Wolfsburg seit fünfzehn Jahren erfolgreich betriebene innerbetriebliche Erinnerungsarbeit hin. Sie umfasst regelmäßige Besuche von Auszubildenden bei VW in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Oswiecim/Auschwitz und eine von einer Auszubildendengruppe initiierte und mitgestaltete Erinnerungsstätte in einem ehemaligen Luftschutzbunker.
Michael Johns Referat führte wieder nach Oberösterreich zurück. Er gab einen sozial- und wirtschaftshistorischen Überblick über den dortigen Zwangsarbeitereinsatz, insbesondere bei den Reichswerken Hermann Göring in Linz. Seine Ausführungen vermittelten einen Eindruck vom quantitativen Ausmaß des Arbeitseinsatzes und den jeweiligen Anteilen der unterschiedlichen Ethnien. Auch aus seinen Ausführungen ergab sich, daß generalisierende Aussagen zu Art und Umfang des Einsatzes nur schwer zu treffen sind, da selbst innerhalb dieses relativ kleinen Gebietes signifikant unterschiedliche Strukturen in der Belegschaft von Zwangsarbeitern betreffend Ethnien, Geschlecht und Status aufzufinden sind, wie er an den Beispielen Reichswerke Hermann Göring, Linz, und Steyr-Daimler-Puch, Steyr, veranschaulichte. Basis von Johns Ausführungen sind neben betriebsinternen "Gefolgschaftsstatistiken" eine von Forschungsprojekt aufgebaute und ständig erweiterte Datenbank, die auf einem 1998 auf dem Werksgelände aufgefundenen umfangreichen Bestand an Personalakten der ehemaligen Reichswerke Hermann Göring, Linz, fußt. Neben ihrer Funktion als Basis für statistische Auswertungen stellt diese Datenbank inzwischen ein wertvolles Hilfsmittel für die Restitution ehemaliger bei den Reichswerken Hermann Göring in Linz eingesetzten Zwangsarbeiter dar.
Karl Fallend berichtete über seinen Beitrag zum Projekt als Psychologe. Als Kontrapunkt zu den rein quantitativen Auswertungen serieller Quellen zum Ausländereinsatz setzte er psychoanalytische Erinnerungsinterviews einzelner überlebender Zwangsarbeiter. Er erhielt so Eindrücke der psychischen Realitäten und Erinnerungen an die Zeit in Linz, aber auch über die individuelle Einordnung des Erlebten in den persönlichen Erfahrungs- und Erinnerungshorizont des Einzelnen. Bei der Mehrheit der Interviewten hatten sich die Erlebnisse an den "Arbeitseinsatz" als die lebensprägenden und -leitenden Erfahrungen in die Psyche eingegraben. Das Schicksal einzelner osteuropäischer Betroffener nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit erneuter Haft, Folter und Zwangsarbeit oder Deportation durch die sowjetische Siegermacht relativierte die "Linzer Zeit" in deren persönlicher Erinnerung. Die Ergebnisse seiner Interviews verarbeitete Fallend in Zusammenarbeit mit dem Linzer Landestheater zu einem Schauspiel, deren Besuch den Teilnehmern des Linzer Symposium einen für Veranstaltungen dieser Art ungewöhnlichen Abschluß gab.
Das Symposium hat gezeigt, welch fruchtbare Ergebnisse detaillierte Untersuchungen einzelner Unternehmens(-standorte) und deren Verwicklung in die nationalsozialistische Kriegwirtschaft mit all ihren Konsequenzen erbringen können. Geschärft hat sie auch die Erkenntnis, dass sich nicht alle Firmen und nicht einmal alle Werke und Standorte desselben Unternehmens beim "Arbeitseinsatz" gleichförmig verhalten haben. Diese aufnehmend, konkretisierten sich bereits während des Symposiums erste Ansätze, auf Basis der in Salzgitter und Linz erarbeiteten Ergebnisse ein Nachfolgeprojekt zu initiieren, das die Geschichte der Reichswerke Hermann Göring AG unter besonderer Berücksichtigung der Zwangsarbeit aufarbeiten soll.
Einzig zu kritisierender Punkt an der ansonsten vorbildlichen Organisation der Tagung ist die Reihenfolge der Referate. Möglicherweise zwangen die terminlichen Vorgaben einzelner Referenten zur gewählten Abfolge. Für das nicht en detail vorinformierte Publikum wäre jedoch eine Überblicksdarstellung des Linzer Arbeitseinsatzes, wie sie Michael John erst am Schluß des Symposiums gab, vor den Ausführungen der Einzelaspekte und Blickweitungen sinnvoller gewesen. Besser wäre es auch gewesen, die vergleichenden Beiträge zu Daimler-Benz und VW vor die Darstellungen zu den Hermann-Göring Werken zu stellen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede beim Einsatz der Zwangsarbeiter in diesem Konzern augenfälliger zu machen. Mit Spannung ist jedenfalls dem von Gabriella Hauch noch während der Tagung angekündigten Band entgegenzusehen, der die Beiträge dieses fruchtbaren Symposiums zusammenfassen wird.
Anmerkung:
1 Oliver Rathkolb (Hrsg.): NS-Zwangsarbeit: Der Standort Linz der "Reichswerke Hermann Göring AG Berlin" 1938-1945, 2 Bde., Wien [u.a.]: Böhlau 2001.