"Geschichte der NS-Zeit vor Ort" (Krefeld, 29.11.2001)

"Geschichte der NS-Zeit vor Ort" (Krefeld, 29.11.2001)

Organisatoren
NS-Dokumentationsstelle der Stadt Krefeld
Ort
Krefeld
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.11.2001 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Ingrid Schupetta

Konferenz anlässlich des 100. Geburtstages von Aurel Billstein"

Am Donnerstag, dem 29. November 2001 fand in Krefeld eine Konferenz anlässlich des 100. Geburtstages Aurel Billstein statt. Der Zeitzeuge und Autodidakt Aurel Billstein war einer der ersten, die sich in Nordrein- Westfalen mit der Geschichte der lokalen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus beschäftigten (Der eine fällt, die andern rücken nach ... Dokumente des Widerstandes und der Verfolgung in Krefeld 1933-1945, Frankfurt/Main 1973). Die Veranstaltung begann mit den Grußworten der Bürgermeisterin der Stadt Krefeld Karin Meincke, dem Mitarbeiter der Landeszentrale für politische Bildung Herbert C. Cormann und dem Vorsitzenden des Villa Merländer e. V. Dr. Eugen Gerritz.

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Das einleitende Referat hielt Prof. Dr. Bernd Faulenbach von der Ruhr- Universität Bochum. Prof. Faulenbach gab einen kurzen Überblick über den generellen Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik nach 1945:

Die Nachkriegsgesellschaft war mit der Hinterlassenschaft der NS-Zeit direkt konfrontiert. Die Entnazifizierung und die Trümmerbeseitigung bestimmte die Erinnerungsarbeit der 50er und 60er Jahre. Man gedachte der Opfer des Nationalsozialismus in allgemeiner Form als "Kriegsopfer", wobei sich die ganze Gesellschaft als Opfer empfinden konnte. Auf den zeitnahen Mahnmalen wurde in Ausnahmefällen dem Gedenken an die Opfer der Krieges die Formel "und den Opfern der Gewaltherrschaft" hinzugefügt. Die Frage nach Schuld und Verantwortung wurde einfach beantwortet: Adolf Hitler war schuld, die SS war schuld, die Nazis waren schuld.

Die Störung dieser Muster begann mit den Prozessen gegen die Täter von Auschwitz, von Maidanek, von Treblinka. Erst danach begann die Beschäftigung mit der konkreten Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen: der Schwerindustrie, der gesellschaftlichen Institutionen im allgemeinen, der Kirchen. Sie hält bis heute an.

Im lokalen Kontext waren es in der Regel die Verfolgten, die sich mit der konkreten Erinnerung beschäftigten. Aurel Billstein war ein Pionier der lokalen Geschichtsschreibung. Seine Biographie und sein Wirken wurde daher für diese Konferenz als Beispiel ausgewählt.

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Privatdozent Dr. Michael Zimmermann vom Ruhrlandmuseum in Essen gab anschließend einen detaillierten Überblick über die Forschung über den Nationalsozialismus auf lokaler Ebene in Nordrhein-Westfalen. Auch er konstatierte für die 50er und 60er Jahre eine "große Stille" und die Stilisierung des 20. Juli und der weißen Rose zu dem einzig beachtenswerten Widerstand. Der Widerstand von Sozialisten und Kommunisten und das Exil wurden ausgeklammert.

Im Zuge der Fragen, die 1968 durch die neue Linke aufgeworfen wurden, geriet der Arbeiterwiderstand und der Widerstand der kleinen Leute in das Blickfeld. Eine ganze Serie unter dem Generaltitel "Widerstand und Verfolgung in ..." erschien. Der anfänglichen Idealisierung folgte eine Ernüchterung. Resistenzverhalten, etwa bei den Mitgliedern der Edelweißpiraten konnte durchaus eine partielle Zustimmung zu nationalsozialistischem Gedankengut beinhalten. Der mutigste Widerstand war chancenlos, da er niemals eine reale Bedrohung der NS-Herrschaft bedeutete.

Die Lokalhistorikerinnen und -historiker mußten die Perspektive der Verlierer einnehmen, um nicht einem analytischen Zynismus zu verfallen. Ein gewisser Ausweg war die Beschäftigung mit der Erforschung der konkreten Arbeits- und Lebensbedingungen. Es zeigte sich, dass der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit durch die NS-Volksgemeinschaft nicht aufgehoben war. Die deutsche Arbeiterschaft machte jedoch durch eine neue Freizeit- und Familienorientierung, berufliche Aufstiegschancen und eine neue Mobilität, die Erfahrung, dass starre soziale Differenzen aufweichbar waren. Die Befunde zeigten, dass auch die Arbeiterschaft an der Beute des imperialistischen Raubzuges beteiligt wurde, solange es etwas zu verteilen gab.

Erst spät - mit einem Durchbruch 1988, zum 50. Jahrestag des Novemberpogroms - rückte die Judenverfolgung in das Blickfeld. Zahlreiche Gedenkbücher beschäftigten sich mit ihrer Verfolgungsgeschichte. Noch später nahm die Lokalgeschichte Notiz von anderen, die ebenfalls aus der Volksgemeinschaft ausgegrenzt waren: Homosexuelle, geistig- und körperlich Behinderte, Roma und Sinti, sogenannte Asoziale und Berufsverbrecher. Als eine der letzten Gruppen wurden die ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter interessant. Auch hier war Aurel Billstein ein Vorreiter. Quer zu allem, was an Universitäten und Forschungseinrichtungen thematisiert wurde, erwies er sich als ein unorthodoxer Autor, der neue Forschungsfelder betrat, bevor sie andere überhaupt wahrnahmen.

Das Interesse an den Tätern vor Ort ließ lange auf sich warten. Bis heute fehlt zum Beispiel eine Gesamtdarstellung der Gestapo in Düsseldorf. Dass die politische Polizei nicht unabhängig vom Gesamtsystem der Ordnungskräfte gesehen werden kann, ist das Ergebnis lokaler Erkundung im Zusammenhang mit dem Chef der Ordnungspolizei für den Wehrbezirk VI (etwa dem Gebiet des heutigen NRW entsprechend), der seinen Sitz in der Villa ten Hompel in Münster hatte.

Neueste Studien beschäftigen sich mit den Arbeitserziehungslagern, den Aktionen "T 3" und "M", bei denen das Hab und Gut der deutschen und europäischen Juden an die deutsche Bevölkerung verteilt wurde und einzelnen Berufsständen, wie etwa den Lehrern, den Medizinern im öffentlichen Dienst, den Richtern und Staatsanwälten. Diese Reihe wird fortgesetzt werden. Generell stellt sich die Frage nach Handlungsspielräumen und deren Nutzung.

Auch die Lokalgeschichte des Nationalsozialismus erlebt eine allmähliche zeitliche Entfernung von ihrem Forschungsgegenstand. Die unvermeidliche Historisierung ist aber auch eine Chance neue Fragen zu stellen und alte Antworten kritisch zu hinterfragen.

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Dr. Ingrid Schupetta von der NS-Dokumentationsstelle der Stadt Krefeld stellte nach diesem Grundsatzreferat die Biographie Aurel Billsteins mit dem Schwerpunkt der Zeit seiner Verfolgung von 1933 bis 1945 vor. Sie machte deutlich, was für ihn das Motiv seiner Erinnerungsarbeit bildete: die Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur die er buchstäblich am eigenen Leib machen mußte. Nicht davon zu trennen sind die Schicksale seiner Mutter, die nach der Haft im Konzentrationslager Lichtenburg starb, und seiner KPD-Genossen, von denen einige die Verfolgung ebenfalls nicht überlebten.

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Eine Zeitzeugenrunde mit Dr. Ernst Schmidt, einst "Staatsfeind", jetzt Stadthistoriker in Essen; Willi Wahl, ehemaliger Gewerkschaftssekretär der IG Metall und Alt-Oberbürgermeister der Stadt Krefeld; Dr. Eugen Gerritz, ehemaliger Geschichtslehrer und Kulturpolitiker der SPD in Stadt und Land; Fritz Junkers, Geschichtslehrer und zeitweilig ehrenamtlicher Mitarbeiter Aurel Billsteins und Dr. Ingrid Schupetta beschrieb Begegnungen mit Aurel Billstein aus vier Jahrzehnten. Alle hoben seine Zielstrebigkeit und seine Beharrlichkeit hervor. Jeder kannte sein gewisses ironisches Lächeln, dass Dissens anzeigte. Zur Verwunderung des Moderators Franz-Josef Jelich (Forschungsinstitut für Arbeit, Bildung, Qualifikation) konnte das Phänomen Aurel Billstein von dieser Runde nicht erklärt werden. Jeder wußte (oder meinte zu wissen), dass Aurel Billstein bis zu seinem Lebensende 1996 Kommunist war. Keiner konnte sich jedoch erinnern, mit ihm eine politische Kontroverse gehabt zu haben. Selbst die Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Stadt Krefeld an einen Kommunisten verlief im Konsensverfahren: wer Einwände gehabt hätte, äußerte sich nicht öffentlich.

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Zum Abschluss sprach Prof. Dr. Faulenbach. über die Perspektiven der Erinnerungsarbeit. Prof. Faulenbach sieht mit dem allmählichen Ausfall der Zeitzeugen eine Änderung der Perspektiven einhergehen. Eine Historisierung ist unvermeidbar. Während die Forschung weiter an der Erledigung offener Fragen arbeitet, redet man bei Anlässen wie dieser Konferenz nur noch zur Hälfte über die Ereignisse in der Vergangenheit, die andere Hälfte der Zeit widmet man sich bereits der Reflexion über den bisherigen Umgang mit der Geschichte.

Der Holocaust als das größte Verbrechen der Deutschen tritt nach den Beobachtungen von Prof. Faulenbach in den Vordergrund des öffentlichen . Interesses. Dabei gilt es sich eines Importes des Geschichtsbildes aus den Vereinigten Staaten zu erwehren. Notwendigerweise kommt man dort ohne die Verortung der Geschehnisse aus. In Europa wird jedoch die Betrachtung der Lokalgeschichte in dem Zusammenhang des Judenmordes ihre Bedeutung behalten. Wo sonst ließe sich am konkreten Beispiel zeigen, dass der Nationalsozialismus ein konkretes Geschehen war, dass die Decke der Zivilisation sehr dünn ist und dass sich darunter die Barbarei verbirgt.

Prof. Faulenbach konstatierte, dass die Anfang der 90er Jahre von vielen erwartete grundsätzliche Änderung der Erinnerungskultur durch das Einbringen der ostdeutschen Erfahrung ausgeblieben ist. Sicher müssen die Opfer des Stalinismus berücksichtigt werden. Sie sind jedoch in die Erinnerungskultur als einem wesentlichen Bestandteil der demokratischen Gesellschaft durchaus integrierbar. Das Thema ist die Menschenwürde. In der politischen Bildungsarbeit gilt es ihren Wert zu vermitteln. Die Geschichtsarbeit zum Nationalsozialismus vor Ort wird auch in Zukunft wichtig bleiben, weil die "Volksgemeinschaft" das Gegenbild zu einer die Menschen- und Bürgerrechte respektierenden Gesellschaft ist.

Hinweis: Die Konferenz wurde vollständig auf Tonträger aufgezeichnet. Über die Form einer Dokumentation wird noch entschieden werden.


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