"'Fremde' in Hamburg- fremd sein in europäischen Städten" (Hamburg, 21./22.02.2002)

"'Fremde' in Hamburg- fremd sein in europäischen Städten" (Hamburg, 21./22.02.2002)

Organisatoren
Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und Körber-Stiftung
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.02.2002 - 22.02.2002
Url der Konferenzwebsite
Von
Gordon Uhlmann, Forum Zukunftsarbeit, Museum der Arbeit in Hamburg

Zur Geschichte der Migration nicht nur in Hamburg

Am Nullmeridian, jenem symbolträchtigen Ort in London-Greenwich, der auch für weltweite koloniale Expansion steht, begegnen im Juni 1997 Jugendliche aus den Hamburger Stadtteilen Altona und Bergedorf Gleichaltrigen aus den Londoner Stadtteilen Deptford und Isle of Dogs. Einer der Londoner Jungen, dessen Eltern einst aus Bangladesch an die Themse kamen, fordert einen Hamburger Jungen aus einer Familie türkischer Herkunft zu einem Fingerhakeln heraus. Während die LondonerInnen ihren Freund mit "England"-Rufen anfeuern, skandieren die Hamburger Jugendlichen lautstark "Türkiye, Türkiye". Als der Hamburger Junge gewinnt, jubeln seine UnterstützerInnen "Deutschland hat gewonnen". Beiläufig beim Fingerhakeln - Momentaufnahme eines ungewöhnlichen Forschungsprojektes 1 - lassen die Jugendlichen erkennen, wie uneindeutig und vielfältig nationale Zugehörigkeit sein kann.

Am 21. und 22. Februar 2002 trafen 70 Forschende, Lehrende und Kulturschaffende unterschiedlicher Herkunftsorte und Wissenschaftsbereiche im Warburg-Haus in Hamburg zusammen, um Forschungsergebnisse und laufende Projekte zum Thema Migration zu diskutieren. Unter dem Titel "'Fremde' in Hamburg - fremd sein in europäischen Städten" rückte die Konferenz Leben und Geschichte von Migranten in Hamburg im Vergleich zu weiteren Hafenstädten ins Zentrum der Betrachtung. Die von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) in Kooperation mit der Körber-Stiftung durchgeführte Fachtagung vermittelte ein interdisziplinäres Spektrum differenzierter Untersuchungen, ergänzt durch weiterführende Kommentare profilierter MigrationsforscherInnen.2

Die Beteiligung der Körber-Stiftung galt auch der Vorbereitung des im Herbst 2002 startenden bundesweiten "Schülerwettbewerbs Deutsche Geschichte" zum Thema Migration. Drei Sektionen der Tagung stellten historiographisch-ethnologische Fallstudien, die vierte wissenschaftlich fundierte Kultur- und Bildungsprojekte zur Diskussion.

Gefragt wurde nach der Macht national und ethnisch definierter Differenz gegenüber den vielfältigen anderen Differenzen, die gerade urbanes Leben versammelt. Besonderes Gewicht legte die Tagungskonzeption auf die intensive Einbeziehung der jüngsten Geschichte und ihre Aufarbeitung unter Berücksichtigung lebensgeschichtlicher Erinnerungen.

Aufschlussreiche Untersuchungen zur Geschichte der italienischen, polnischen und chinesischen Migration in Hamburg spannten eingangs einen Bogen vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Im Gefolge staatlicher Politik erfuhren die Eingewanderten repressive und lebensbedrohliche Einschnitte besonders im Ersten und im Zweiten Weltkrieg. Wie Elia Morandi (Hamburg) zeigte, fühlten sich viele italienische Einwanderer in Hamburg bereits als Deutsche, als sie nach Italiens Austritt aus dem Dreibund während des Ersten Weltkriegs als Feinde angezeigt wurden und anti-italienischen Ausschreitungen ausgesetzt waren. Unter den bewusst offenen Begriff des "polnischen Lebens" stellte die Organisatorin der Tagung, Angelika Eder, ihre Längsschnittstudie, um den Erfahrungen sehr unterschiedlicher Migrantengruppen aus Polen nachzugehen, darunter Zuwanderer nach Wilhelmsburg vor 1914, verschleppte Zwangsarbeiter, Aussiedler und politische Flüchtlinge verschiedener Phasen. Gestützt auf lebensgeschichtliche Interviews wurden vielgestaltige fluide Identifikationsbezüge polnischer Migranten sichtbar. Die große Relevanz des Themas erweist allein die Zahl von gegenwärtig nahezu 100 000 HamburgerInnen mit biographischer Bindung an Polen, davon 19 000 mit polnischem Pass.

Der Gruppe chinesischer Migranten widmete sich Lars Amenda (Hamburg). Während der Umstellung von der Segel- auf die Dampfschifffahrt kam es in den 1890er Jahren verstärkt zur Anwerbung chinesischer Seeleute als Heizer und Kohlenzieher, mit dem biologistischen Kalkül einer ihnen unterstellten größeren "Hitzebeständigkeit" und der Absicht, sie erheblich geringer zu entlohnen als deutsche Seeleute. Teile der Sozialdemokratie machten sie als "Reedereilieblinge" und "schmutzige" Konkurrenten verächtlich. Verbunden mit dem stereotypen Bild des "Kulis" wurden sie geradezu als Personifikation des "Fremden" wahrgenommen. Als Wäscher und Straßenhändler fanden sie eine prekäre Existenznische. Ihre Ansiedlung hauptsächlich im nördlichen St. Pauli wurde bald offiziell als "Chinesenviertel" bezeichnet. Die Tatsache, dass sie notgedrungen oft in Kellern unterkamen, verfestigte Assoziationen von "Unterwelt". Sie wurden Opfer staatlicher Feindbilder, publizistischer Stereotype und populärer Vorurteile sowie organisierter rassistischer Verfolgung während der NS-Herrschaft. In den seit den frühen 1950er Jahren in Hamburg entstehenden China-Restaurants suchten chinesische Migranten aus unterschiedlichen Ländern eine Nische, die konfliktbeladene Konkurrenz mit Deutschen vermied.

In seiner Untersuchung über vietnamesische Migranten in Hamburg beleuchtete Olaf Beuchling (Magdeburg) die weitgehend gegensätzliche Wahrnehmung, Aufnahme und Chancen einerseits der als "Kontraktarbeiter", andererseits der als "Bootsflüchtlinge" offiziell etikettierten Einwanderungsgruppen. Nur im letzten Fall öffnete sich die bundesdeutsche Republik zu einer begrenzten "Integration".

Die portugiesische Gruppe in Hamburg, über die Andrea Klimt (Dartmouth, USA) referierte, lebt ein zunehmend transnationales Selbstverständnis, erleichtert durch gesetzliche Regelungen für EU-Bürger und rege genutzte Möglichkeiten der Kommunikation per Telefon, Video oder Internet. Sie lässt sich nicht auf eine nationale Zugehörigkeit festlegen, nutzt vielmehr selbstbewusst beide Nationalräume.

Auf der Basis lebensgeschichtlicher Erzählungen interpretierte Susanne Schwalgin (Hamburg) Lebensweisen und Identifikationsbezüge armenischer Diaspora-Gemeinschaften in Athen bis hin zum Abriss ihrer "Ghettos" in den 1960er Jahren und verwies auf widersprüchliche Prozesse der "Verortung und Entortung".

Henk Delger und Leo Lucassen (Amsterdam) gingen der deutschen Einwanderung in Rotterdam in den 1890er und 1920er Jahren nach. Vielfach rekrutiert durch holländische Arbeitgeber war ihre Migration durch schlechte wirtschaftliche Bedingungen in Deutschland motiviert. Vorwiegend kamen sie in schlecht bezahlten Stellungen unter, darunter viele Frauen, die als Dienstmädchen verstreut in holländischen Haushalten arbeiteten. Die deutschen Migranten organisierten sich bevorzugt in national geprägten Vereinen. Eine Assimilierung lehnten sie ab.

Das Verhältnis der Hamburger Bevölkerung zu den 1945 einrückenden Angehörigen der britischen Besatzungstruppen beleuchtete Alan Kramer (Dublin). Dabei fiel auch ein kritisches Licht auf die übliche Unterstellung einer anglophilen Tradition des hamburgischen Bürgertums.

Fatima El-Tayeb (Amherst, USA) untersuchte (Anti)Identitätsmodelle der "Zweiten Generation", die gängige Definitionen von "Deutschen" und "Ausländern" nachhaltig durcheinander bringen. Junge Menschen, in Deutschland aufgewachsen und doch nicht "weiß", "deutsch" und "christlich" entwickeln urbane Identitäten über ethnisierte Grenzen hinweg und fragen, warum z.B. rund eine Million in Deutschland geborene "TürkInnen", ca. 500 000 schwarze Deutsche oder 70 000 deutsche Sinti nicht mitgedacht werden, wenn "deutsch" gesagt wird. Verbunden mit kulturellen Aktionsformen wie Theater, Graffiti, Tanz und Rap schaffen sie sich eigene Formen von Öffentlichkeit. Ihr Ausgangspunkt ist nicht die Herkunft, sondern eine gemeinsame Interessenlage und die Erfahrung "Fremd im eigenen Land", wie es ein Titel der HipHop-Gruppe "Advanced Chemistry" beschreibt:
"Ist es so ungewöhnlich, wenn ein Afro-Deutscher seine Sprache spricht
und nicht so blass ist im Gesicht?"
"Das Problem sind die Ideen im System:
ein echter Deutscher muss auch richtig deutsch aussehen."

Die Mitwirkung der Körber-Stiftung sowie des Museums der Arbeit und des "Netzwerkes Migration in Europa" an der Tagung gewährleistete eine praxisnahe Einbeziehung pädagogischer und kultureller Herausforderungen des Themas.3 Ein vertiefender Kommentar von Bettina Alavi (Heidelberg) nahm auch zu Defiziten der Unterrichtsdidaktik Stellung. Für das Museum der Arbeit stellte Jürgen Ellermeyer das urbane Kulturprojekt "Geteilte Welten" vor, das im Verbund mit fünf europäischen Partnermuseen durchgeführt wird. Auf der Basis von Interviews zu Migrations- und Lebenswegen zielt es auf den Auf- und Ausbau einer Sammlung und eine partizipative Ausstellungsfolge 2002/2003, die dem "Einwanderungsgedächtnis der Stadt" möglichst viele Gesichter, Stimmen und Gestalt geben soll.
Da Selbstzeugnisse von MigrantInnen selbst für die 1950er/60er Jahre kaum überliefert sind, und die verfügbaren Archivakten besonders die Perspektive von Frauen nahezu ausblenden, gilt es weitere Quellen aufzuspüren. Die Tagung offenbarte u.a. eine noch mangelnde Einbeziehung von Bilddokumenten, was schon deshalb erstaunlich ist, weil Medienbilder und Visiotype in besonderer Weise Vorstellungen des "Fremden" beeinflussen und spiegeln. Dies zeigte beispielhaft eine von Fatima El-Tayeb angeführte Titelillustration des "Spiegel" vom April 1997, die unter der Überschrift "Gefährlich fremd" ein Angst schürendes Bild von gewalttätig kriminellen, unintegrierbaren "ausländischen Jugendlichen" zeichnet, anknüpfend an eine fatale Tradition fremdenfeindlicher Bildprägungen.

Die Tagungsdiskussion legte fortbestehende Probleme einer adäquaten begrifflichen Beschreibung der vielschichtigen Vorgänge von Einwanderung offen. Selbst bei kritischer Verwendung beinhalten viele Begriffe einseitige Perspektiven, ohne dass tragfähige Alternativen hinreichend eingeführt wären. Kritisiert wurden nicht abreißende Diskurse des "Fremden", die bewirken, dass Migranten dauerhaft "Fremd im eigenen Land" bleiben. Martin Sökefeld (Hamburg) arbeitete dies am Beispiel alevitischer HamburgerInnen in ihrem Kampf um Anerkennung heraus.4 Als ein Ergebnis intensiver dialogischer Forschungen mit Jugendlichen - in den oben genannten Stadtteilen Londons und Hamburgs - formulierte Andreas Hieronymus: "Je mehr die Überlagerung von Vielfalt zum selbstverständlichen Bestandteil eines Ortes gehört, desto weniger ergeben sich daraus Konflikte für das Zusammenleben."

Das gesellschaftliche Gedächtnis der Migration ist kaum entwickelt. Teile dieses Gedächtnisses scheinen ausgelöscht, wie allein die kaum vorhandenen Sammlungsbestände der Museen dazu zeigen. Umso bedeutender ist die systematische Entwicklung von Forschungs-, Bildungs- und Kulturprojekten insbesondere unter Einbeziehung lebensgeschichtlicher Erinnerungen von MigrantInnen. Dies sind wichtige Bausteine einer erst in Umrissen erkennbaren Kultur- und Sozialgeschichte der Migration, die als integraler Bestandteil hamburgischer wie europäischer Geschichte zu entwickeln ist. "Begegnung am Nullmeridian" könnte symbolisch für die Notwendigkeit stehen, ein neues Selbstverständnis der Einwanderungsgesellschaft zu schaffen, die im Sinne von "Advanced Chemistry" "mit Respekt 'en direct' zu jedem Menschen steh(t)".

Gerade auch die Kontroversen dieser Konferenz - so um die Kategorie des "Fremden" und die angemessene Auseinandersetzung mit historischen wie aktuellen Erscheinungsformen des Rassismus - unterstreichen den großen Bedarf an Forschungen in diesem Bereich. Daher ist sehr zu wünschen, dass die Tagung weitere Studien nicht nur zur Hamburger Migrationsgeschichte anregt. Zu den Ergebnissen der Tagung wird ein Sammelband der Forschungsstelle erscheinen.

Informationen zu Projekten der beteiligten Institutionen unter:
http://www.rrz.uni-hamburg.de/FZH
http://www.koerber-stiftung.de
http://www.museum-der-arbeit.de
http://www.network-migration.org

Anmerkungen:
1 vorgestellt im Tagungsreferat von Andreas Hieronymus (Hamburg) "Gefährliche Welten - sichere Enklaven. Alltagsleben von Jugendlichen in zwei Hamburger und zwei Londoner Stadtteilen", durchgeführt 1996-1999 unter Leitung von Phil Cohen, Michael Keith, Les Back, Dirk Hoerder und Nora Räthzel.
2 Karen Schönwälder (Haifa), Marita Krauss (Bremen), Rainer Ohliger (Berlin)
3 So wertete Claudia Tatsch (Karlsruhe) ein lokalhistorisches Unterrichtsprojekt aus, das ausgehend von Schülerforschungen zu Erfahrungen von Amerikaauswanderern im 19. Jahrhundert, zugleich aktuelle Situationen und vorurteilsgeprägte Wahrnehmungen zur Einwanderung in der Region reflektierte.
4 Sökefeld stellte dar, wie sich die Aleviten, die eine "kulturell-religiöse Minderheit" unter den Einwanderern aus der Türkei bilden, seit Ende der 1980er Jahre in Hamburg und bundesweit in Vereinen organisieren. Dabei beziehen sie sich auch auf eine lange Geschichte der Nicht-Anerkennung, die bis zur osmanischen Herrschaft zurückreicht.


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