Spätestens seit dem 11. September 2001 sind Begriffe wie "zivilisierte Welt" und "Zivilisation" in aller Munde, werden dabei oftmals auf "den Westen" bezogen und so implizit (oder gar explizit) in Gegensatz zum "barbarischen Osten" und zur islamischen Welt gesetzt. Welche Vorstellungen verbinden sich mit dem europäisch geprägten Begriff der "Zivilisation", wie wurden mit seiner Hilfe (Selbst-)Bilder geschaffen, welche Wirkungen entfalteten diese und welche Rolle spielten dabei koloniale Erfahrungen? Wie wurde Alterität konstruiert, um Identität zu stiften, in welchem Verhältnis standen in diesem Kontext Exklusion und Integration, und wo verliefen die jeweils variablen Bruchlinien zwischen Zivilisation und vermeintlicher Barbarei?
Diesen und zahlreichen weiteren Fragen widmete sich der vierte Sommerkurs des Zentrums für Vergleichende Geschichte Europas (ZVGE), Berlin, der erstmals in Kooperation mit dem Frankreich-Zentrum der Technischen Universität Berlin und dem Centre interdisciplinaire d'Études et de Recherches sur l'Allemagne (CIERA), Paris, durchgeführt wurde. Unter dem Titel "Die europäische Zivilisation - Idee und Praxis. Methoden und Themen von Vergleich und Beziehungsgeschichte" trafen sich dazu im Zeitraum vom 1. bis zum 8. September 2002
33 Magistranden, Doktoranden und Postdoktoranden, um die angeführten Fragestellungen aus der Perspektive verschiedener sozialwissenschaftlicher Disziplinen und Methoden zu diskutieren. Neben Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Deutschland waren dabei Nachwuchswissenschaftler/innen aus Argentinien, Frankreich, Großbritannien, Italien, Litauen, Österreich, Polen, Russland, der Slowakei, Tschechien und Ungarn vertreten. Diese geographische Diversifikation trug wesentlich dazu bei, dass (europäische) Geschichte und Gegenwart im Rahmen des Sommerkurses nicht nur theoretisch diskutiert, sondern intensiv praktiziert wurden - ein Anspruch, dem sich alle beteiligten Institutionen ausdrücklich verschrieben haben. Finanziell unterstützt von der Volkswagen Stiftung, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der Deutsch-Französischen Hochschule und der Robert-Bosch-Stiftung bot der Kurs den Teilnehmer/innen die Möglichkeit, neben den jeweiligen Referaten auch die individuellen Projekte zu diskutieren und somit die übergreifende Themenstellung auf die eigene Arbeit zu beziehen.
Eröffnet wurde die Veranstaltung von Philipp Ther (ZVGE) und Jakob Vogel (Frankreich-Zentrum, TU Berlin), die das inhaltliche Konzept des Sommerkurses darlegten: In drei Sektionen, die jeweils mehrere Referate umfassten, sollten Grundlagen und Methoden sowie die Idee und Praxis einer "europäischen Zivilisation" hinterfragt und der Zivilisationsbegriff im Rahmen einer abschließenden Podiumsdiskussion auf seine Tragfähigkeit als analytisches Instrument der Sozialwissenschaften evaluiert werden. In ihren Ausführungen betonten Ther und Vogel die neuerliche Aktualität des Konzeptes, warnten in diesem Zusammenhang jedoch nachdrücklich vor vereinfachenden Thesen wie der vom "Clash of Civilizations" (Samuel Huntington). Anhand eines historischen Abrisses verwiesen sie vielmehr auf die mehrfache Ambivalenz des Begriffes, seine normativen und deskriptiven Dimensionen sowie den engen Nexus von Identität und Alterität. Um diesen Spezifika gerecht zu werden, müsse es ein Hauptanliegen der Forschung sein, die Methoden von Vergleich und Beziehungsgeschichte eng miteinander zu verknüpfen, um damit Differenzen, ungleiche Beziehungen und Transfers besser in den Blick zu bekommen.
Nach diesen einführenden Überlegungen widmete sich die erste Sektion des Sommerkurses den Grundlagen und Methoden einer Beschäftigung mit der "europäischen Zivilisation". Im Mittelpunkt standen dabei die historische Ausprägung des Begriffes vom späten 18. Jahrhundert bis hin zu seiner "Renaissance" nach dem 11. September 2001 (Hermann Korte, Hamburg), die Zivilgesellschaft als möglicher Träger von Zivilisation oder Zivilität (Manfred Hildermeier, Göttingen) sowie die Frage nach dem Verhältnis von Zivilisationsvergleich und Zivilisationstransfer. Hierbei betonte Michael Werner (Paris) in Übereinstimmung mit seinen Vorrednern die enge Verflechtung beider Methoden: So müsse jeder Zivilisationsvergleich die Transfergeschichte zwingend berücksichtigen, im Umkehrschluss impliziere jeder Transfer Vergleiche zwischen den zu untersuchenden Einheiten. Eine klare Trennung zwischen beiden Ansätzen sei daher nicht möglich, entscheidend sei vielmehr ein ausgeprägtes Methodenbewusstsein, das die normativen Vorgaben des Zivilisationsbegriffes ebenso berücksichtigt wie dessen deskriptive Möglichkeiten. Letztlich könnten hier sowohl der Vergleich als auch die Beziehungsgeschichte zu weiterem Erkenntnisgewinn beitragen.
Diente die erste Sektion des Sommerkurses vor allem der Reflektion methodischer Probleme, stand im Mittelpunkt der zweiten die Idee einer "europäischen Zivilisation". Wie fand diese ihre jeweils spezifische Ausprägung? Wie wurde sie zu politischen und anderen Zwecken funktionalisiert? Wo verliefen die Bruchlinien zwischen "dem Zivilen" und "dem Unzivilen"? Wie und unter welchen Umständen verschoben sich die Trennlinien? Anhand konkreter historischer Beispiele wurde diesen und weiteren Fragen nachgegangen - und die Befunde lebhaft diskutiert. Bénédicte Savoy (Paris) widmete sich zunächst dem Blick der Deutschen auf die "barbarischen" Franzosen um 1800, Eli Bar-Chen (München) erläuterte das spannungsvolle Verhältnis zwischen europäischen und orientalischen Juden im 19. Jahrhundert und Alexej Miller (Budapest/Moskau) fragte nach der Rezeption und (Selbst-) Konstruktion europäischer Zivilisation in Russland.. Einig waren sich die Referenten, dass "Zivilisation" seit spätestens dem frühen 18. Jahrhundert politisch verortet gewesen sei, semantisch damit jedoch keineswegs festgeschrieben war und oftmals nur dazu diente, durch Alterität die eigene Position genauer zu bestimmen.
Die dritte, abschließende Sektion des Sommerkurses widmete sich vor allem der Praxis einer "europäischen Zivilisation". In vier Vorträgen wurden dabei sowohl deren Konstruktion als auch deren Wahrnehmung dargelegt und ihre Bedeutung sowie ihre Folgen innerhalb wie außerhalb Europas evaluiert. Die Konzepte von Zivilisation und Moderne als reflexive Konstitution erläuterte Martin Fuchs (Heidelberg/Berlin) am Beispiel Indiens und Europas und warnte davor, den Zivilisationsvergleich innerhalb der bestehenden "asymmetrischen Beziehung umzudrehen", also die westliche Perspektive spiegelbildlich durch eine indische Variante zu ergänzen. Neben dem Zivilisationsvergleich müsse auch immer die transkulturelle Beziehungsgeschichte berücksichtigt werden, da nur so das eigene wie das fremde Bild genauer bestimmt werden könne. Daran anknüpfend, skizzierte Sebastian Conrad (Berlin) Versuche, die europäische Moderne aus postkolonialer Perspektive zu beschreiben und sprach sich dabei nachdrücklich für das Konzept der entangled histories (Verflechtungsgeschichte) aus, da dieses Wechselbeziehungen als asymmetrische Interaktionsprozesse begreife, die bei allen Beteiligten Anpassungsstrategien und damit Formen von Hybridität hervorbrächten. Kirstin Kopp (Harvard University) analysierte anschließend am Beispiel des preußischen Teilungsgebiets von Polen das Wechselverhältnis von Macht und Diskurs. Da es Zivilisation an sich nicht gäbe, so ihr Fazit, sei die Verwendung des Begriffes immer machtpolitisch motiviert, mobilisierte Bilder und Diskurse vor allem zum "Gebrauch als Waffe" bestimmt. Der Begriff der "Zivilisation" diene daher oftmals lediglich als Medium, durch das eigene Interessen zur Geltung gebracht werden könnten. Paul Michael Lützeler (Washington/ZVGE) setzte mit seinen Ausführungen über die Konstruktion und Repräsentation europäischer Zivilisation den Schlusspunkt unter die Vielzahl der Referate. Dabei betonte er am Beispiel von Paris und Wien die wechselseitige Bedingtheit von Abgrenzung und Verflechtung, die ein wesentlicher Bestandteil der Debatte um die europäische Identität - und damit auch über die "europäische Zivilisation" - während der vergangenen 200 Jahre gewesen sei.
Im Mittelpunkt der von Etienne Francois (Berlin) moderierten Podiumsdiskussion zum Abschluss des Sommerkurses stand die Frage, ob und inwiefern der Begriff der "Zivilisation" bzw. der "Zivilisationen" ein sinnvolles analytisches Werkzeug innerhalb der Sozialwissenschaften sein kann, welche Möglichkeiten er eröffnet und wo seine Grenzen liegen. Jürgen Kocka (Berlin) betonte dabei zunächst, dass der Begriff sowohl normative als auch deskriptive Komponenten beinhalte, aber dennoch als Konzept für vergleichende Studien geeignet erscheine. Er plädierte dafür, hierbei die Verflechtungsgeschichte zu stärken, da diese die Objekte eines Vergleiches als Einheit betrachte, somit Prozesse der gegenseitigen Wahrnehmung und Beeinflussung weitaus stärker als etwa die traditionelle Beziehungsgeschichte berücksichtige und auf diesem Wege weitreichende Erkenntnismöglichkeiten eröffne. Daher müsse man "Zivilisation" durchaus als eine ernst zu nehmende Bezugsgröße ansehen, die in ihrem Gebrauch jedoch oftmals ideologiebeladen sei. Dem stimmte Maciej Janowski (Warschau/Budapest) zu, verwies aber darauf, dass eine ideologische Konnotation bei sozialwissenschaftlichen Konzepten eher die Regel als die Ausnahme sei und dies daher nicht gegen einen Gebrauch des Begriffes spräche. Insbesondere als Kategorie von Vergleichen oder im Rahmen des Zivilisationsdiskurses als Objekt historischer Forschung sei er geradezu unerlässlich. Auch Albert Wirz (Berlin) erklärte "Zivilisation" zu einer sinnvollen Analyseeinheit, betonte aber die Notwendigkeit, sich jederzeit bewusst zu sein, dass es sich hierbei lediglich um eine Konstruktion, ein Denkmodell handele, bei dem immer die Gefahr bestehe, dass Komplexität und Heterogenität nivelliert werden. In der folgenden, engagierten Diskussion mit den Kursteilnehmern wurde auf die grundlegende Bedeutung der Kategorien "Macht" und "Herrschaft" für den Zivilisationsbegriff hingewiesen, die Institutionalisierung des Begriffes thematisiert, nochmals auf seine politischen Funktionen Bezug genommen und die Frage aufgeworfen, ob es denn einen pluralen Zivilisationsbegriff geben könne, der nicht auf einen "Kampf der Kulturen", sondern auf Kooperation zuläuft. Letzteres wurde einstimmig bejaht und trotz aller Differenzen im Detail waren sich die Podiumsteilnehmer in einem Punkt doch einig: Der Begriff der "Zivilisation" ist nicht nur eine mögliche, sondern eine notwendige Analyseeinheit, die durchaus weiteren Erkenntnisgewinn verspricht. Somit bildete die Podiumsdiskussion nicht nur einen instruktiven Schlusspunkt des Sommerkurses und bündelte die Fragestellungen und Probleme, die hier behandelt wurden, sondern gab durchaus auch einen optimistischen Ausblick.
Neben den Vorträgen und der Abschlussdiskussion bildete die Arbeit in den Projektgruppen einen dritten Schwerpunkt des Sommerkurses, für den erstmals ein vollständiger Tag zur Verfügung stand. In drei Arbeitsgruppen bot sich die Gelegenheit, die eigenen Projekte detailliert zu besprechen, mit den anwesenden Referenten zu diskutieren und auf die übergreifende Themenstellung des Sommerkurses zu beziehen. Das Spektrum der erörterten Themen reichte dabei von der Konstruktion der "Denkfigur Russland" in der Ideologie der Eurasier-Bewegung über das Bild des "Anderen" in deutschen Schulbüchern bis hin zur englischen Sprache als kultureller Ressource imperialer Integration. Eines jedoch war allen Projekten gemein: Sie beleuchteten spezifische Aspekte der (europäischen) Zivilisation und trugen somit dazu bei, diesen Begriff weiter auszudeuten - womit ein wesentliches Ziel des Sommerkurses bereits erreicht war.
Ein ausführlicher Tagungsbericht kann auf der Homepage des ZVGE (www.fu-berlin.de/zvge) eingesehen werden.
Jens Schöne