Mannsein und Männlichkeiten

Organisatoren
Arbeitskreis für interdisziplinäre Männer- und Geschlechterforschung: Kultur-, Gesellschafts- und Sozialwissenschaften (AIM Gender)
Ort
Stuttgart-Hohenheim
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.11.2002 - 09.11.2002
Url der Konferenzwebsite
Von
Toni Tholen, Frankfurt am Main

2. Fachtagung des Arbeitskreises für interdisziplinäre Männer- und Geschlechterforschung: Kultur-, Geschichts- und Sozialwissenschaften (AIM Gender)

Vom 7. bis 9. November 2002 fand an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart (Stuttgart-Hohenheim) unter der Leitung der Historiker Dieter R. Bauer (Referat Geschichte der Akademie), Prof. Dr. Martin Dinges, Dr. Thomas Kühne und Erik O. Ründal M.A. die zweite interdisziplinäre Fachtagung von AIM Gender statt. 1 Wie schon anläßlich der ersten Konferenz im Februar 2001 kamen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus zahlreichen Fächern zusammen, um ihre gegenwärtigen Projekte (darunter auch Dissertations- und Habilitationsprojekte) im Bereich der Männer- und Geschlechterforschung vorzustellen. Dabei erwies sich die Bandbreite der Frage- und Problemstellungen in dem in Deutschland noch recht jungen Bereich der Erforschung von Männlichkeit(en) als enorm. So spannte sich der Themen-Fächer zwischen der Untersuchung von Formen mann-männlicher Freundschaft und Liebe im Mittelalter und der Erörterung auf, welche rechtliche und sozialpsychologische Funktion das sog. "Elterliche-Entfremdungs-Syndrom" (PAS) für die Konstituierung neuer Väterlichkeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat. Die Veranstalter hatten sich angesichts des breiten Themenspektrums mit gutem Grund dafür entschieden, die zwölf Sektionen chronologisch zu strukturieren, d.h. im Mittelalter zu beginnen, um mit "Männlichkeitskonstruktionen heute" in eine Schlußdiskussion einzumünden, in der zukünftige Perspektiven und Aufgaben der Männer- und Geschlechtergeschichtsschreibung skizziert wurden.

1. Männlichkeiten im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit

Die 26 Texte, die einige Wochen zuvor schon im Internet zugänglich gemacht worden waren, wurden kurz vorgestellt und anschließend im Plenum diskutiert. Den spannenden Auftakt machte Klaus van Eickels, indem er von Hugo von St. Victor ausgehend nachwies, daß Liebe unter Männern im Mittelalter akzeptiert war und lediglich der enge Bereich genitaler Handlungen normativ ausgegrenzt wurde. Er konnte zahlreiche Quellen anführen, die belegen, daß der Austausch von Küssen unter Männern, gemeinsames Essen und Schlafen als Praktiken mann-männlicher Freundschaft und Liebe in den mittelalterlichen Lebensstrukturen tief verankert waren. Ausgehend von der Behauptung, daß das moderne Bild von Homosexualität ein Verständnis der mittelalterlichen Auffassungen gleichgeschlechtlicher Freundschaft und Liebe verstelle, wurde das Desiderat einer Geschichte mann-männlicher Liebe im Mittelalter erkennbar.

Bea Lundt stützte sich in ihrem Beitrag über das Verhältnis von Herrschaft, Weisheit und Männlichkeit auf die Erzähltradition von den "Sieben Weisen Meistern", deren erste überlieferte Druckausgabe 1473 in Augsburg erschien. Erzählt wird darin von einem Königsjungen, der von sieben Weisen erzogen wird. Während die mittelalterlichen Varianten noch eingängig von der Sexualitätserziehung des Königsjungen in Kindheit und Jugend hin zu einer klösterlich-brüderlichen Lebensweise berichten, tauchen die Erzieher in den frühneuzeitlichen Fassungen als umsichtige Helfer des Thronfolgers auf, insofern sie sich darauf verstehen, die Rituale der Macht zu inszenieren. Lundt wies zudem darauf hin, daß die männerbündischen Erziehungspraktiken, wie sie in den mittelalterlichen Varianten deutlich werden, aufgrund der Durchsetzung des Zölibats im Zuge der Gregorianischen Reform in eine "Krise" gerieten.

Zwei weitere Beiträge untersuchten die Selbstdarstellung und Konstruktion von Männlichkeit in der Frühen Neuzeit an unterschiedlichem Material: Tom Brüstle an protestantischen Leichenpredigten aus den Jahren nach der Reformation, die eine genealogische Verortung des der sozialen Oberschicht zugehörigen Verstorbenen, seinen Bildungsweg und seine Karriere nachzeichnen, und Bernd Klesmann an Kriegserklärungen. Er ging der darin begegnenden Männlichkeitskonstruktion u.a. auf den Ebenen männlicher Ehr-, Vernunfts- und Rechtsvorstellungen nach.

2. (Nicht-)Hegemoniale Männlichkeiten im Bürgertum, in Politik und Kultur: vom 18. Jahrhundert bis zur Weimarer Republik

Die zahlreichen Beiträge zur Erforschung der Männer- und Geschlechtergeschichte seit dem 18. Jahrhundert zeigten in beeindruckender Weise, daß man - wie Walter Erhart es in einem Abendvortrag auf den Punkt brachte - von Männlichkeit nicht im Singular, sondern "im Plural" zu sprechen habe. Die vielen Geschichten von Männlichkeit, die wissenschaftlichen eingeschlossen, müßten dabei in eine Historische Anthropologie eingebettet werden, die den komplizierten und widerspüchlichen Zusammenhang von Natur und Kultur, strukturbildenden Meistererzählungen und individuellen Praktiken der Vergeschlechtlichung ausleuchten. Erhart selbst entsprach dieser Forderung in seinem Vortrag über das Verhältnis von Männern, Familie und Wissenschaft, indem er seine "Geschichten der Männlichkeit" um drei strukturbildende Narrative der modernen Familienmännlichkeit gruppierte: dem von "Narziß am Scheideweg" um 1800, erläutert an F. Schlegels "Lucinde", dem "Mythos zerfallender Familien" um 1900, erläutert an Th. Manns "Buddenbrooks", und schließlich dem Topos "neue Väter" um 2000, wie er etwa bei D. Grünbein und P. Esterhazy verhandelt werde.

Die Sektionsbeiträge von Gudrun Heuschen und Martin Nissen gingen auf die Vermittlung und Konstruktion bürgerlicher Männlichkeit im 18. Jahrhundert ein. Dabei behandelte Nissen die Männlichkeitsvorstellung des Pädagogen und Kinderbuchautors Joachim Heinrich Campe. Er untersuchte die in dessen Schriften dem Mann als Vater, Erzieher und Oberhaupt der Familie zugewiesene hegemoniale Rolle im komplizierten Geflecht von privater und öffentlicher Sphäre. Im Kontrast dazu referierten Linda M. Koldau und Jakob Michelsen über nicht-hegemoniale, marginalisierte Männlichkeiten; im einen Fall über Kastraten wie Caffarelli und Farinelli, im anderen Fall über sog. "Sodomiter" am Beispiel Hamburgs. Während drei Beiträge sich mit Männlichkeitskonstrukten und -formen in Demokratisierungskonzepten (Ulf Heidel), kolonialen Reinheitsdiskursen (Felix Axster) und im Fußball (Franz-Josef Brüggemeier) um 1900 beschäftigten, galt dem normativen Diskurs in Freundschaftszeitschriften gleichgeschlechtlich begehrender Menschen (Stefan Micheler) und vor allem der Literatur in der Weimarer Republik besondere Aufmerksamkeit. Patrick Eiden führte in einer dekonstruktiv und "queer" orientierten Lektüre von R. Walsers Prosatext "Es war einmal" (1928) vor, wie die scheinbar männliche Identität des erzählenden Ich fortwährend in Auflösung begriffen ist. Und Toni Tholen wies nach, daß sich im dritten Teil von H. Brochs Romantrilogie "Die Schlafwandler" (1931/32) an zentralen männlichen Protagonisten männerbündische Erotik Blüherscher Provenienz verbunden mit Versatzstücken politisch-theologischer Ideologie der "Konservativen Revolution" ablesen läßt.

3. Männlichkeiten nach dem Zweiten Weltkrieg und Männlichkeitskonstruktion heute

Den dritten Tag der Konferenz leitete Dagmar Ellerbrock mit Überlegungen zur Formierung der Geschlechterordnung nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Sie zeigte am Quellenmaterial der Gesundheitspolitik im Deutschland der Besatzungszeit, daß die verbreitete These von der Emanzipation der Frauen nach 1945 kaum haltbar ist; statt dessen sei die bipolare bürgerliche Geschlechterhierarchie, begünstigt auch durch die amerikanischen Besatzer, bestätigt worden. Corinna Tomberger stellte den Mythos Beuys in Frage, indem sie vor allem an dessen Verwundungs- und Heilsemphatik anknüpfte, um zu zeigen, wie sehr darin Projektionen heroisch-schöpferischer, ja sogar soldatischer Männlichkeit schlummern.

Eine ganze Sektion widmete sich der Frage nach Männlichkeiten in und nach der DDR. Während Jennifer V. Evans der Formierung normativer Vorstellungen über Sex und geschlechtliche Zugehörigkeit in der Verflechtung moralischer Diskurse, der Praxis des Rechtssystems und der polizeilichen Überwachung nachging, analysierte Kerstin Stüssel Konrad Wolfs Film "Die Sonnensucher" (1958/72) auf eine Transformation der Männlichkeitsvorstellung im neu gegründeten Staat der DDR hin. Ihre These ist, daß der Film die Konstruktion einer nationalen Ursprungsgeschichte unternimmt, in der die Einheit der Differenz von nationalstaatlicher Kontinuität und Diskontinuität durch unterschiedliche Vaterschaftsformen allegorisiert wird. Zwei weitere Referate widmeten sich der Frage unterschiedlicher Männlichkeitsperzeption in Ost- und Westdeutschland (Holger Brandes) und der biographischen Konstruktion von Männlichkeit, wie sie von Männern vorgenommen wird, die in den 50er und 60er Jahren in der DDR geboren sind (Sylka Scholz). Neben einem Beitrag zu Richard Nixons Modellierung von Geschlecht und Scheitern in seinen Autobiographien (Stefan Zahlmann) folgten drei Vorträge zur Männlichkeitskonstruktion heute: Jörg Fichtner referierte über die Funktion des "Elterlichen-Entfremdungs-Syndroms" (PAS) für die neue Väterlichkeit, Michael Meuser analysierte in luzider Weise die Geschlechtslogik männlichen Gewalthandelns und machte u.a. mit Bourdieu auf den sozialen Sinn, auf den "symbolischen Gewinn" von männlicher Gewalt aufmerksam; schließlich verwies Michael Groneberg auf die im Schnittfeld von Natur- und Kulturwissenschaften geführte Debatte, ob nicht Männer eher als Frauen biologisch gesteuert seien.

Eine sehr informative und organisatorisch gelungene Tagung abschließend, stellten Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz das Konzept für einen Einführungsband in die Geschichte der Männlichkeiten vor. Darüber, daß angesichts der lebhaften internationalen Forschungssituation im Bereich der Männer- und Geschlechterforschung ein solcher Band dringend benötigt wird, herrschte Konsens. Genauso einig war man sich darüber, daß nach den beiden Überblickstagungen von AIM Gender nun eine weitere Konferenz folgen sollte, die unter einem gemeinsamen Themenschwerpunkt steht. Anbieten würde sich etwa eine genauere und umfassende Erörterung zweier Konzeptualisierungen, die die Männlichkeitsforschung von Beginn an begleitet haben: Connells Kategorie der "hegemonialen Männlichkeit" und die Rede von der "Krise" der Männlichkeit.

1 Umfassende Informationen über die Entstehung und Zielsetzung von AIM Gender, über die Mitglieder, Projekte und bisherigen Tagungen können auf der Homepage des Arbeitskreises (http://www.ruendal.de/aim/gender.html) abgerufen werden. Auch finden sich dort die Tagungsbeiträge im pdf-Format.

http://www.ruendal.de/aim/gender.html
Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts