Urmensch und Wissenschaftskultur. Konzeptionen und Funktionen des Urmenschen in den modernen Wissenschaften

Urmensch und Wissenschaftskultur. Konzeptionen und Funktionen des Urmenschen in den modernen Wissenschaften

Organisatoren
Sonderforschungsbereich 511 "Literatur und Anthropologie", Kulturwissenschaftliches Forschungskolleg "Norm und Symbol" an der Universität Konstanz
Ort
Konstanz
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.11.2002 - 17.11.2002
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Von
Bernhard Kleeberg, Konstanz

Eine interdisziplinäre Tagung des Sonderforschungsbereichs 511 "Literatur und Anthropologie" und des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs "Norm und Symbol" an der Universität Konstanz (14.-17.11.2002) anläßlich des 70sten Geburtstages von Dieter Groh, organisiert von Fabio Crivellari, Bernhard Kleeberg und Tilmann Walter.

Konzeptionen der Anfänge der Menschheit scheint der Charakter universaler anthropologischer Selbstentwürfe zuzukommen. Seit jeher denkt der Mensch über seine Ursprünge nach, sei es im Rahmen religiös-metaphysischer Weltbilder, sei es im Rahmen heutiger Wissenschaften. Mitgedacht werden dabei immer auch spezielle körperliche und charakterliche Eigenschaften des Urmenschen, die ihn zwischen Natur und Kultur, Animalität und Menschlichkeit situieren, seine Fortpflanzungs- und Überlebenstechniken sowie die sozialen Strukturen seines Zusammenlebens. Anläßlich des 70sten Geburtstages des Konstanzer Emeritus für Neuere Geschichte Dieter Groh, dessen Name sich seit vielen Jahren mit einer kulturphilosophisch reflektierten Geschichtswissenschaft verbindet, fokussierte die Konstanzer Tagung "Urmensch und Wissenschaftskultur. Konzeptionen und Funktionen des Urmenschen in den modernen Wissenschaften" diese Zusammenhänge. In 20 Beiträgen wurde der "Urmensch" aus einer Vielzahl disziplinärer Perspektiven beleuchtet.

Eröffnet wurde die Tagung mit Vorträgen des Frankfurter Paläoanthropologen Friedemann Schrenk und des Konstanzer Literaturwissenschaftlers Albrecht Koschorke. Zunächst informierte Schrenk, als einer der Leiter des "Hominid Corridor Research Project" selbst aktiver Feldforscher, über den aktuellen Stand der paläoanthropologischen Forschung: Ausgrabungserfolge des letzten Jahrzehnts hätten aus dem menschlichen Stammbaum einen "Stammbusch" gemacht, mit dessen zunehmender Verzweigung sich vielfältige Kontroversen über die Ursprünge der Menschheit verbänden, die oft genug auch die Weltbildabhängigkeit der Wissenschaft zeigten. Hier knüpfte Koschorke an, der anhand einer Analyse der für die historische Selbstreflexion der Moderne zentralen Ursprungserzählungen Rousseaus auf das "Anfangsproblem der Anthropologie" zu sprechen kam: Daß die Natur vor der Kultur epistemologisch unzugänglich ist. Die mit einem solchen "epistemischen Anthropozentrismus" (Ruth und Dieter Groh) verbundene Problematik der Bestimmung des Verhältnisses von Natur und Kultur als Kontinuum oder Grenze bildete eine der thematischen Grundlinien der Tagung.

Für die Annahme eines Kontinuums von Natur zu Kultur plädierte in Sektion I "Phylogenie und Ontogenie" der Mainzer Paläoanthropologe Winfried Henke in seinem Beitrag zur Entstehung des Menschen als "global player". Henke stellte die Frage nach den spezifischen Merkmalen der Gattung Homo, nach anatomischen Anpassungen, aus diesen resultierenden physiologischen Veränderungen und entsprechend kanalisierten Verhaltenmustern. Henke siedelte das Überschreiten der Schwelle zur Kultur vor rund 2 Millionen Jahren an, als es frühen Hominiden gelungen sei, aufgrund der Weitergabe erworbener Fähigkeiten und Erfahrungen eine "enorme Nischenexpansion" zu erreichen, die schließlich in die "ökologische Superstellung" des Menschen mündete. Mit der Sprache als entscheidender Kulturleistung des Menschen beschäftigte sich anschließend der Düsseldorfer Sprachwissenschaftler Dieter Wunderlich. Er stellte die These auf, daß sich die "Stufen in der Evolution der Sprache" nach zwei unabhängigen Entwicklungen aufschlüsseln ließen. So habe sich die Gestensprache als symmetrisches Kommunikationssystem, die Lautsprache als digitales System der "Doppelartikulation" entwickelt. Den wesentlichen Schritt zur Sprache des Homo sapiens vermutete Wunderlich in der Einführung von lexikalischen Kategorien (Verb und Nomen). Ontogenetischen Aspekten der menschlichen Entwicklung widmete sich sodann der Konstanzer Entwicklungspsychologe Wolfgang Friedlmeier in seinem Vortrag zur "Sozialisation menschlicher Gefühle". Friedlmeier betonte die Grenzen evolutionärer Erklärungen menschlicher Emotionen: Anhand des Beispiels der Ontogenese von Emotionen in Mutter-Kind-Interaktionen hob er auf die soziale Vermitteltheit emotionalen Erlebens ab. Mit der Fähigkeit der bewußten Reflexion seiner emotionalen Zustände seien neue, auf kulturellen Deutungsmustern aufbauende Möglichkeiten der Emotionsregulation entstanden.

Sektion II "Menschen, Affen, Affenmenschen" fragte nach historischen und aktuellen Grenzziehungen zwischen Affen und Menschen. Der Belfaster Wissenschaftshistoriker Peter J. Bowler leitete die Sektion mit einem Überblick über Konzepte des Urmenschen im 19. und 20. Jh. ein. Bowler kontextualisierte die verschiedenen Modelle des "missing link" im Rahmen schöpfungstheologischer bzw. evolutionistischer Denkmuster und zeigte Unterschiede und Gemeinsamkeiten der jeweiligen Grenzbestimmungen zwischen Mensch und Affen auf. Wo diese Grenze aktuell angesiedelt wird, davon berichtete der Molekularbiologe Wolfgang Enard aus Leipzig. Enard gab einen Überblick über methodische und experimentelle Voraussetzungen einer vergleichenden Analyse von Mensch und Affe, die den molekularen Phänotyp ins Zentrum rückt. Anhand des Beispiels des im Zusammenhang mit der Sprachfähigkeit stehenden Genes "FOXP2" erklärte er neue molekularbiologische Ansätze zur Deutung phylogenetischer Vorgänge. Grenzziehungen im Hygienediskurs des 19. Jhs., der seinerzeit tragende Elemente der Kultur des Wissens bereitstellte, behandelte der Züricher Historiker Philipp Sarasin. Anhand von kontrastierenden Figuren des Übergangs untersuchte Sarasin die "Rasse" als einer Ordnungskategorie neben dem Temperament, dem Alter und dem Geschlecht im Diskurs über den Körper und dessen Gesunderhaltung. Der Jenaer Wissenschaftshistoriker Uwe Hoßfeld zeigte anschließend theoriehistorische Kontinuitäten in der deutschsprachigen evolutionsbiologischen Literatur der 1940er bis 1970er Jahre auf. Hoßfeld arbeitete den im Umfeld einzelner deutscher Biologen originären Versuch heraus, (paläo-)anthropologische Daten und Forschungsergebnisse mit denen aus der Evolutionsbiologie, Systematik und Genetik in Einklang zu bringen.

Sektion III "Aggression und Kooperation: Sozialverhalten" setzte sich mit dem Phänomen dichotomischer Theoriebildung zwischen optimistischen und pessimistischen Menschenbildern auseinander. Der Züricher Ethnologe Jürg Helbling behandelte die Phänomene "Gewalt" und "Krieg" in Wildbeutergesellschaften, welche vielfach als Modell für die menschliche Urgesellschaft herhalten. Wie ethnographisch dokumentierte Befunde zum Sozialverhaltens sowie archäologischer Funde zeigten, träfe die einseitige Charakterisierung der Verhaltensweisen in Wildbeutergesellschaften als kriegerisch oder friedfertig, wie sie alternativ humanethologische bzw. sozialwissenschaftliche Interpretationen favorisierten, nicht zu. Vielmehr ließen sich hoch differenzierte Formen von Gewalt aufweisen. Auf Universalisierung der Vorstellung aggressiver Urtriebe basierende aktuelle Denkfiguren stellte der Züricher Wissenssoziologe Felix Keller mit der jüngst im populärwissenschaftlichen Diskurs geschilderten These eines Genozids des modernen Menschen am Neandertaler vor. Anschließend analysierte die Heidelberger Philosophin Ruth Groh systematisch Formen der Universalisierung partikularer Menschenbilder, wie sie idealtypisch in zwei Gesellschaftsmodellen ihren Ausdruck finden: Dem vertikalen, hierarchischen und irrationalen Modell der Rache, das auf Selbstbehauptung zielt, und dem horizontalen und rationalen Modell des Ausgleichs durch Schadensersatz, das auf Versöhnung und sozialen Frieden zielt. Groh stellte u.a. mittels der Analyse des Begriffs der Reziprozität die These des Altertumswissenschaftlers Walter Burkert in Frage, das biologisch tief verwurzelte vertikale Modell sei dem erst auf der Stufe des Menschen entstandenen horizontalen übergeordnet.

Sektion IV "Ästhetische Morphologie des ‚Primitiven'" hatte die Bedeutung ästhetischer Fiktionen für das Verständnis der Anfänge der Menschheit zum Gegenstand. Thematisiert wurden mediale Vorgaben, narrative Muster und gesellschaftliche Funktionen des "Urmenschen". Der Kieler Kunst- und Medienwissenschaftlers Norbert M. Schmitz eröffnete die Sektion mit einem Vortrag über den Wandel von Naturdarstellungen in der Moderne. Schmitz führte die Herausbildung einer zunehmend als unüberbrückbar angesehenen Kluft zwischen dem Naturbild von Kunst und Wissenschaft im 19. Jh. auf den Anspruch der modernen Kunst auf absolute Autonomie zurück. Die Literaturwissenschaftlerinnen Julika Griem (Stuttgart) und Virginia Richter (München) analysierten anschließend literarische Texte des 19. und 20. Jhs. im Spannungsfeld zwischen Biologie und Kriminologie: Detektivgeschichten, Abenteuer- und Entdeckungsromane inszenierten "Frühgeschichte als ‚whodunit'", als Suche nach "missing links". Die binäre Logik von Mensch und Affe sowie Analogisierungsstrategien von Detektiv und Wissenschaftler hätten sich dabei von der viktorianischen Belletristik bis hin zu aktuellen Romanen durchgehalten. Im folgenden zeichnete der Konstanzer Medienwissenschaftler Kay Kirchmann fiktionale Strategeme und die konstitutive Funktionsbestimmungen des Phantasmas des "Affen-Menschen" im Science-Fiction-Film nach. Der Topos des Affenmenschen erfreue sich großer Beliebtheit in der Geschichte des Genres, lieferte er doch ein geeignetes Projektionsfeld, die Schismata zwischen autochtonen und evolutionistischen Abstammungslehren, linearen und zyklischen Zeitvorstellungen symbolisch außer Kraft zu setzen. Der Historiker Rolf Peter Sieferle (St.Gallen) schloß die Sektion mit einem Vortrag über die geschichtsphilosophische Figur des "Barbaren" ab, die er von Hegel bis ins Denken der 1930er Jahre verfolgte. Die Idee einer kulturschaffenden Kraft der Barbarischen Völker, die die ansonsten kraftlose westliche Zivilisation mit neuen Prinzipien belebten, sei als "vitalistisches Paradigma der Selbstbarbarisierung" Ende des 19. Jhs. im Rahmen zivilisationskritischer Positionen in neuem Gewand aufgetaucht. Hier sei die jugendliche Entscheidungskraft und Willensstärke einer zunehmend degenerierten und handlungsunfähigen Zivilisation gegenübergestellt worden.

Die abschließende Sektion V "Ursprungsmythen und Kulturentstehungstheorien" beschäftigte sich mit der Rolle von Ursprungskonstruktionen für menschliche Identitäten. Der Konstanzer Kulturpsychologe Pradeep Chakkarath präsentierte mit der hinduistischen Konzeption des "Purusha" eine außereuropäische Version des ersten Menschen. Chakkarath ging der legitimatorischen Funktion des "Purusha" als Ursprungsmodell des indischen Kastensystems ebenso nach, wie dessen konstitutiver Bedeutung für das hinduistische Menschenbild und Selbstkonzept. An letzterem Punkt konnte er zeigen, wie ein Ursprungsmythos alltägliche Handlungen und Erziehungsmaßnahmen unmittelbar vorstrukturiert. Der Bamberger Mediävist Klaus van Eickels behandelte anschließend die Schilderung der Ursprünge der Besiedelung Böhmens durch Cosmas von Prag. Diese sei im Mittelalter singulär, denn Cosmas entwerfe das Bild einer Gruppe von Menschen, die noch nach der Sintflut in einem paradiesischen Naturzustand vollkommener Gemeinschaft leben. Der Berliner Psychoanalytiker Wolfgang Hegener sprach sodann über Schnittstellen zwischen dem psychoanalytischen und dem biblischen Ursprungsmodell. Er interpretierte die Erzählung vom Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies als idealtypische Darstellung des Dramas der Subjektwerdung aufgrund sexueller bzw. geschlechtlicher Individuierung. Den letzten Beitrag der Tagung steuerte der Gießener Philosoph Martin Seel bei: "Vom Nutzen und Nachteil der evolutionären Ästhetik". Deren Anspruch und Reichweite beschrieb Seel als sehr viel begrenzter als sie selbst es annehme: Sie könne weder ihren eigenen Status noch den Sinn der menschlichen ästhetischen Tätigkeiten ausreichend explizieren, da sie sich grundsätzlich auf der Ebene vorkultureller Prädispositionen ästhetischer Theorien bewegte.

Die Vorträge und Diskussionen im Rahmen der Tagung haben die Fruchtbarkeit eines transdisziplinären Zugriffs auf den "Urmenschen" deutlich gemacht. Nicht nur die Kommunikation fachspezifischen Wissens über disziplinäre Grenzen hinweg, sondern vor allem die Möglichkeit, die unterschiedlichsten Außenperspektiven einzunehmen, stellte sich als gewinnbringend heraus. Dabei wurde deutlich, daß nicht nur die historischen Konstruktionen der Grenze zwischen dem Menschen als Natur- und Kulturwesen den Blick für aktuelle Positionen der Naturwissenschaften schärfen, sondern daß auch umgekehrt die aktuellen naturwissenschaftlichen Grenzziehungen Hinweise auf den Spielraum zu geben vermögen, innerhalb dessen sich kulturelle Variabilität entfalten kann.

Kontakt

Weitere Infos und Kontakt: http://www.uni-konstanz.de/urmensch
bernhard.kleeberg@uni-konstanz.de

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