Die 16. Jahrestagung des Schwerter Arbeitskreises Katholizismusforschung versammelte vom 15. bis 17. November 2002 45 Historikerinnen und Historiker aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Belgien, den Niederlanden und Frankreich. Unter der Leitung von Dr. Gisela Fleckenstein (Detmold) und Prof. Dr. Joachim Schmiedl (Vallendar) und in Kooperation mit der Katholischen Akademie Schwerte (Dr. Johannes Horstmann) fand die Tagung im frisch renovierten Akademiegebäude in Schwerte statt.
Die Ergebnisse seiner kürzlich publizierten Dissertation stellte Dr. Michael Hirschfeld (Lingen) vor. Am Beispiel der katholischen Vertriebenen in Oldenburg zwischen 1945 und 1965 untersuchte er deren Integration in das bestehende katholische Milieu. Größere Konfessionsverschiebungen lassen sich vor allem auf der Ebene der Kreise und Kommunen ausmachen. Begegnungsfelder zwischen den Vertriebenen und den Einheimischen ergaben sich vor allem in der caritativen Fürsorge und in interkonfessionellen Annäherungen, vor allem durch die vorläufige Zur-Verfügung-Stellung evangelischer Kirchen, belastet aber durch die zunehmende Zahl konfessionsverschiedener Ehen. Öffnend wirkte sich auch das Engagement durch die Jugend- und Liturgische Bewegung geprägter schlesischer Priester aus. Insgesamt kam Hirschfeld zu dem Ergebnis, dass parallel dem Verlust der alten Heimat auch religiöse Desintegrationstendenzen zu beobachten waren.
Christine Bartlitz vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam analysierte die Darstellung von Religion und Katholizismus in Kino- und Fernsehfilmen der DDR in den 1950er und 1960er Jahren. An drei Filmbeispielen stellte sie den unterschiedlichen Umgang mit Kirche und Glaube vor: den Konflikt zwischen sich für die Staatspartei engagierenden Pfarrern und ihren kirchlichen Oberhirten; den Versuch, die Kirche als Hort überlebten Aberglaubens der fortschrittlichen Organisation der Landwirtschaft entgegenzusetzen; die propagandistische Ausnutzung eines Mordfalls aus religiösen Motiven zur Denunzierung einer Allianz von Kirche und Politik in Westdeutschland. Insgesamt lässt sich, so Bartlitz, ein behutsamer Umgang mit Religion und Kirche in den Anfangsjahren der DDR feststellen.
Dem Kommunikationsverhalten deutscher Katholiken zwischen 1870 und 1933 ging Dr. Armin Owzar (Münster) nach. Anhand der Trias von Kommerzium (geschäftliche Beziehungen), Kommensalität (gesellschaftliche Kontakte im Vereins- und privaten Rahmen) und Konnubium (Heiratsbeziehungen) sollen milieubedingte Feindbilder und ihre Überwindung durch persönliche Fühlungnahme untersucht werden. Bei Katholiken und Protestanten bestanden wechselseitige Normen zur Vermeidung von Kontakten und diskriminierende Stereotype. Die reale Kommunikation setzte sich jedoch von solchen Verboten ab, was nach der Jahrhundertwende zu einer Revision der vorgeschriebenen Verhaltensweisen beispielsweise in Bezug auf den Wirtshausbesuch führte, das selbst zu einem wichtigen Ort der Pastoral wurde. Religiöse Themen waren in der Alltagskommunikation weitgehend tabuisiert, wie auch nach dem Kulturkampf politische Themen eher restriktiv behandelt wurden. Ein solches Defizit an Dialog, so Owzars These, habe einen höheren Einfluss auf die Desintegration von Milieus als eine konfliktreich und gewaltsam vertretene Differenz gesellschaftlicher Teilbereiche.
Dr. Michael Graf (Eichstätt) beleuchtete den 1901 verstorbenen Freiburger Kirchenhistoriker Franz Xaver Kraus. Unmittelbar nach seinem Tod kam es zu einer Kontroverse um seine kirchenpolitische Haltung zwischen Staatsnähe und kirchlichem Modernismus bzw. liberalem Reformkatholizismus, als dessen Exponent Kraus lange galt. Graf hinterfragte die Kennzeichnung Kraus' als liberal und modernistisch und charakterisiert ihn als strikt anti-ultramontanen monarchisch-aristokratischen Theologen und Politiker mit elitären und intrigenhaften Neigungen, ohne weitergehenden Einfluss innerhalb der katholischen Kirche. Kraus war nach Graf ein Solitär in seiner Kirche.
Mit diesem Beitrag wurde übergeleitet zum Themenschwerpunkt der Tagung, nämlich einer Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Ultramontanismus im 19. Jahrhundert. Am Beginn standen drei Vorträge, die aus der Perspektive europäischer Länder unterschiedliche Spielarten ultramontanen Denkens und Handelns beleuchteten.
Andreas Kotulla (Trier) stellte sein kirchenhistorisches Dissertationsprojekt vor. Lourdes gilt als Schablone für nachfolgende Marienerscheinungsphänomene, ist Vorbild für eine neue Dimension von Wallfahrt und Quelle eines universalisierten Marienbildes. Wann und wie Lourdes in Deutschland zum Gegenstand katholischer Kommunikation und Bezugspunkt katholischer Frömmigkeit wurde, will Kotulla für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg untersuchen. 1871 setzte in Deutschland die literarische Rezeption von Lourdes ein; 20 Jahre später war der Wallfahrtsort allgemein bekannt. Lourdes diente als Argumentationsfolie für die Bestätigung der ultramontanen Glaubenspraxis, als Beweis für den Sieg der Wahrheit, der göttlichen Vorsehung, des Glaubens und der Kirche. Lourdes war in Frankreich, dem Land der Revolution, eine gesellschaftliche Utopie des Miteinanders aller Gesellschaftsschichten. Die literarische Popularisierung bereitete so die von Deutschland ausgehenden Wallfahrten nach Lourdes vor.
Ein durch und durch ultramontanes Land sei Polen gewesen, so Dr. Victoria Pollmann (Hofheim/Ts.) in ihren Ausführungen. Den geistigen Ursprung des polnischen Ultramontanismus, der bislang nahezu unerforscht geblieben ist, sieht sie in der Wiederbelebung polnischer Tradition im Geist des Katholizismus nach dem Novemberaufstand 1830/31. Diese Bewegung, die ursprünglich im Exil agierte, forcierte in Polen die Papstverehrung und die Subordination des Klerus unter die Bischöfe, propagierte ein dualistisches Weltbild und wandte sich gegen die Gleichberechtigung anderer religiöser Gruppierungen als der katholischen Kirche. Marienverehrung und Herz-Jesu-Kult waren die Ausdrucksformen dieser Frömmigkeit. Der Ultramontanismus spielte in Polen auch eine wichtige Rolle bei der Ausformung eines kirchenoffiziell getragenen Antisemitismus.
Kritik an der Säkularisierungsthese übte Dr. Vincent Viaene (Leuven) mit seinen Ausführungen über den "Reveil" des belgischen Katholizismus im 19. Jahrhundert. Nach der belgischen Revolution von 1830 wurde sehr viel religiöse Energie freigesetzt. Das zeigte sich in einer Bedeutungszunahme des Ordensklerus, der über Volksmission und Seelsorge am Diözesanklerus sowie - weitgehend über neugegründete weibliche Gemeinschaften - im Sozial- und Bildungsbereich wirkte. Der Lösung der sozialen Fragen widmeten sich auch die von Laien getragenen Vinzenzkonferenzen. Das dahinter stehende Konzept zielte auf die religiöse Erlösung der Gesellschaft und war getragen von romantischen Gedankengängen. Sühne durch Selbstaufopferung, Pragmatismus in der Bußpraxis, Versöhnung dargestellt am Beispiel der Gottesmutter Maria, missionarischer Eifer, Mittelaltersehnsucht und Papstverehrung waren die spirituellen Grundpfeiler des belgischen "Reveil", der modernitätsfeindlich auf der einen und Teil des Modernisierungsprozesses auf der anderen Seite war.
Der Missionsbegeisterung als integrativem Teil des Ultramontanismus im frühen 19. Jahrhundert ging Privatdozent Dr. Siegfried Weichlein (Berlin) nach. Am Beispiel der Entwicklung des Lyoner Missionsvereins und seiner Wirkung in Deutschland arbeitete er als Elemente der genuin religiösen Mobilisierung des Ultramontanismus heraus: Als Antwort auf den Bedeutungsverlust von Kirche durch die Französische Revolution stellte das Programm der Weltmissionierung einen neuen Autonomiegewinn dar. Die Universalisierung der Mission geschah in Anlehnung an die Autorität des römischen Papstes. Bei den Trägerschichten der Missionen findet sich eine erwecklich-enthusiastische Frömmigkeit, welche die Bildung von Netzwerken Gleichgesinnter ermöglichte. Dabei arbeiteten Laien und Kleriker eng zusammen. Auf die empfundene Bedrohung durch die revolutionäre Forderung nach Menschenrechten, Volkssouveränität und Nation antwortete der universalistische Ansatz der Weltmission, dem allerdings eine strikte Homogenisierung im Innern der ultramontanen Bewegung entsprach. Schließlich diente das missionarische Anliegen zur Formierung einer einheitlichen, religiös fundierten Mentalität.
Ein wissenschaftliches Zeitzeugnis war der Beitrag von Prof. Dr. Victor Conzemius (Luzern). An den Stationen seines eigenen historischen Lebenswerks ging er den unterschiedlichen Facetten des Ultramontanismus und des liberalen Katholizismus nach. Ausgehend von der Beschäftigung mit Franz Xaver Kraus stieß Conzemius auf Lord Acton und seinen Briefwechsel mit Döllinger. Liberaler Katholizismus, den es seiner Ansicht nach in Deutschland nie gegeben habe, sei nur erkennbar im Spiegel des Ultramontanismus. Doch begegneten sich beide Strömungen immer wieder in Personen. So könne etwa der Schweizer Philipp Anton von Segesser als liberaler Konservativer charakterisiert werden. Liberale Katholiken seien stets elitär geblieben, wie beispielsweise der feinsinnige Denker John Henry Newman. Dagegen habe sein konservativer Gegenspieler Manning eine ausgesprochen soziale Ader gehabt. Die Person Pius' IX. diente für beide Richtungen als Projektionsfigur.
Auf dem Hintergrund dieser Ausführungen legte Prof. Dr. Bernhard Schneider (Trier) einen neuen Zugangsversuch zum Ultramontanismus vor. Vom begriffsgeschichtlichen Zugang her unterschied er drei Ansätze: einen polemisch-diffamatorischen, einen kirchen- und papstkritischen sowie einen deskriptiv-phänomenologischen. Schneider selbst brachte wichtige Unterscheidungen vor. So stelle sich der Ultramontanismus verschieden dar, je nachdem ob man ihn als Bewegung oder politische Partei sehe, als Mentalität oder als Ideologie, als Utopie oder als theologische Doktrin, als Frömmigkeitsform. Schneider plädierte für eine Unterscheidung in einen traditionalen Ultramontanismus vor 1800, einen neuen Ultramontanismus seit 1800 und eine neueste Erscheinungsform seit 1870. Dabei müssten je nach Land die Phasen des Aufbaus, des Ausbaus, des popularen Durchbruchs, der Vorherrschaft, der Krise und der Wiedergeburt des Ultramontanismus differenziert werden. Insgesamt stelle sich die Frage nach der Einheitlichkeit und Uniformität des Ultramontanismus, seinen Bezügen zur römischen Kurie, seiner Internationalität, der sozialen Basis und der Verbindung mit den Deutungsmodellen von Milieu und traditionaler Lebenswelt.
Eine Publikation der Vorträge zur Ultramontanismus-Thematik ist für das kommende Jahr geplant.
Die Ausführungen von Dr. Karl-Josef Hummel (Bonn), dem Geschäftsführer der Kommission für Zeitgeschichte, über die aktuelle Goldhagen-Debatte gaben Anlass für das Thema der Generaldebatte des kommenden Jahres. Angesichts der Schwierigkeiten, die Ergebnisse der deutschsprachigen Katholizismusforschung, besonders zur Zeit des Nationalsozialismus, differenziert und kompetent an die interessierte Öffentlichkeit zu vermitteln, soll sich die Generaldebatte mit Fragen der Geschichtspolitik und Rezeption von Geschichte sowie ihrer medialen Vermittlung beschäftigen. Die nächste Jahrestagung des SAK findet vom 14.-16. November 2003 in der Katholischen Akademie in Schwerte statt.
Joachim Schmiedl, Vallendar