Schnittpunkte. Kultur im Fokus von Sozialwissenschaften und Ethik

Schnittpunkte. Kultur im Fokus von Sozialwissenschaften und Ethik

Organisatoren
Interfakultäres Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW), Universität Tübingen
Ort
Tübingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.04.2003 - 04.04.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Nicola Hille, Tübingen

Schnittpunkte. Kultur im Fokus von Sozialwissenschaften und Ethik lautete der Titel einer interdisziplinären Fachtagung, die vom 3.-4. April an der Eberhard Karls Universität Tübingen stattfand. HistorikerInnen, PolitikwissenschaftlerInnen, SoziologInnen und PhilosophInnen diskutierten über kulturelle Pluralität und Ethik.

Hans Joas (Max Weber Kolleg Erfurt) eröffnete die zweitägige Tagung mit einem öffentlichen Abendvortrag zum Thema Wertepluralismus und Verständigung, in dem er darstellte, unter welchen Bedingungen Vertretern unterschiedlicher Kulturen eine Verständigung über ihre Werte gelingen kann. Wie können sich Angehörige unterschiedlicher Wertesysteme verständigen? Und wie entstehen eigentlich Werte? Mit diesen Fragen und der Feststellung "Werte sind nicht das Ergebnis einer Wahl" sprach Joas über Wertepluralismus, Wertewandel, Ohnmacht und Gewalterfahrung. Anhand von historischen Beispielen -der Sklaverei im späten 18. Jahrhundert und der Französischen Revolution- zeigte er, wie Werte entstehen und sich verändern. Diese Beispiele dienten ihm zur Illustration seiner These, dass es bei der Entstehung von Werten immer um die Verarbeitung historischer Erfahrungen geht.
Joas sprach sich jedoch dagegen aus, Werte rein rational zu begründen. Es reiche zur Verständigung über Werte nicht aus, eine andere Person im rationalen Diskurs zu überzeugen, da Werte affektiv gebunden sind. Der Wert der Verständigung galt ihm als oberster Wert. Er sprach von der "Verständigung" als schwächerem Begriff für "Begründung", weil es keine rationale Letztbegründung geben könne. Die Verständigung bedeute für ihn ein Erkunden im Gespräch, ob gemeinsame Voraussetzungen geteilt werden. Wertbindungen liessen sich nur über das Erzählen von Erfahrungen mitteilen. Die Ebene der Narration habe daher eine hohe Bedeutung. Joas Ausführungen zu Wertwandel und Wertbindung waren eingebettet in eine soziologische Theorie historischer Wertwandelprozesse. Der perspektivreiche Vortrag eröffnete eine interessante Diskussion zum Wertpluralismus und zur Frage, inwieweit wir unsere Werte zur Teilung anbieten.

Läßt sich Kultur als eine "mitlaufende Betrachtung" beschreiben? Ist Kultur "alles", oder ist Kultur etwas, das übrig bleibt, wenn man andere Faktoren abgezogen hat? Christof Mandry (IZEW Tübingen) verwies in seiner Einführung Ethische Perspektiven in Kultur und Geschichte darauf, dass eine allgemein anerkannte und allgemeingültige Definition von Kultur unmöglich sei. Neben dem engeren Kulturbegriff, wie er beispielsweise im Feuilleton in Abgrenzung zu anderen Bereichen Verwendung findet, hat sich ein weites Kulturverständnis durchgesetzt, dass sich mit Kultur im Plural auseinandersetzt.

Der Politikwissenschaftler Andreas Hasenclever (Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung) sprach in seinem Beitrag Kultur und Gewaltkonflikte zwischen Staaten über die Kriegsursachenforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht. Untersuchungen über den politischen und ökonomischen Wandel in unterschiedlichen Ländern hätten ergeben, dass Staats- und Wirtschaftskrisen meistens Auslöser für Gewaltkonflikte sind und sich die Kultur hier zunächst nicht als das entscheidende Kriterium erweist. Potentielle Konfliktressourcen, die den Modernisierungsprozessen zugrunde liegen, würden jedoch oftmals auch kulturelle Verunsicherungen auslösen und nicht selten fundamentalistische Äußerungen nach sich ziehen. Gescheiterte Modernisierungsprozesse sind die Voraussetzungen für Krisen, denn sie schaffen häufig Situationen, in denen Staaten nicht mehr bereit sind zum friedlichen Dialog. Perioden des massiven Wandels setzten Eigendynamiken im religiösen und kulturellen Bereich frei. Anhand verschiedener Länderanalysen sei zu beobachten, wie politische Unternehmen in Krisensituationen auf ethnische und religiöse Themen zurückgreifen. Die Nähe von religiösen Gemeinschaften und staatlichen Einrichtungen erweise sich in diesem Zusammenhang als problematisch. Da die politischen Systeme in der Kriegsursachenforschung das primäre Untersuchungsfeld darstellen, werden religiöse und kulturelle Ursachen zunächst ausgeblendet. Kultur werde in der Konfliktforschung nicht als unabhängige Variable verstanden, ihre Wechselwirkung mit der Ökonomie und Politik würde jedoch sehr genau untersucht. Geraten stabile Machtungleichgewichte durcheinander, wird auch der Friede sehr schnell instabil. Die soziale Segregation werde ergänzt durch eine ethnische Polarisierung. Es stelle sich immer wieder die Frage, wie eine vorhandene Varianz innerhalb der Religionen in Konfliktsituationen für den Dialog genutzt werden kann. Die Erhöhung des religiösen Bildungsstandards sei ein wichtiges Kriterium für Krisenländer. Das Verhältnis von religiösem Analphabetismus und Alphabetismus sei bisher noch nicht ausreichend untersucht worden.

Siegfried Weichlein (HU Berlin) widmete sich in seinem Vortrag Die Entdeckung der Vielfalt: Die Historiker und die Kultur der Entstehungsgeschichte der Kulturgeschichtsschreibung. Er skizzierte die Karriere des Begriffs Kulturgeschichte im historischen Rückblick. Sein begrifflicher Rekurs fußte in einem weiten historischen Kontext. Weichlein gab einen Überblick über verschiedene Versuche im letzten Jahrhundert, die Kulturgeschichtsschreibung und ihr Verhältnis zur traditionellen Geschichtsschreibung zu konzeptionalisieren. Kulturgeschichte sei mehr als die methodische Erweiterung des Faches. Mit "Kultur" sei nicht nur ein neuer Großbegriff in die Geschichtswissenschaft eingeführt worden sondern auch ein neues Selbstverständnis der Disziplin erwachsen. Deutungsmuster und Mentalitäten rückten in den Vordergrund und setzten die Heterogenität in den Blickpunkt. Weichlein erläuterte, wie die Kulturgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert noch sehr eng an eine Fortschrittsutopie geknüpft war und der Kulturbegriff in der Nationalgeschichte einen doppelten Sinn erhielt. Die "nationale Kultur" fungierte als universales Ordnungsmodell. Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde Kultur vermehrt zum Kampfbegriff. Und was bedeutet Kultur heute? Der freiheitliche Staat lebt von kulturellen Voraussetzungen, die er selber nicht garantieren kann. Die Kulturgeschichtsschreibung hat aufgezeigt, wie zerbrechlich kulturelle Wertvorstellungen sind. Für die Herausbildung von Kulturideen sei die Wechselwirkung von ideellen Impulsen und Formen religiöser Ordnungen entscheidend gewesen. Toleranz selbst sei eine kulturelle Leistung. Weichlein appellierte, dass die Kulturen vor der Vereinfachung geschützt werden müssen. Der Begriff der kulturellen Differenz findet seine Verwendung sowohl in Abgrenzung als auch in Ausgrenzung, woraus sich verschiedene Bilder vom "kulturell Anderen" ergeben. Weichlein verwies auf die Zerbrechlichkeit der Werte. Kultur sei keine Konstante, sondern eine menschliche Errungenschaft, die von inneren Spannungsverhältnissen getragen ist und einer ständigen Wiederbelebung bedarf. Die Kulturgeschichtsschreibung stelle somit einen Ansatz dar, der sich primär nicht über die Themenfelder definiert, sondern durch die spezifischen Fragestellungen und Perspektiven auszeichnet. Der begriffs- und diskursgeschichtliche Beitrag von Weichlein zeichnete den Bedeutungswandel von "Kultur" nach und stellte dar, wie sich Kulturgeschichte als "Hintersinn" mit anderen Forschungsansätzen verband.

Burkhard Liebsch (Forschungsinstitut für Philosophie Hannover) widmete sich in seinem Beitrag Gastlichkeit als Anspruch? den verschiedenen Formen der Gastlichkeit -von der Hospitalität bis zum Asylrecht. Dabei rückte er die Begegnung der Kulturen in den Mittelpunkt seiner Analyse. Seine Überlegungen bezogen sich auf die Schnittpunkte kultureller Begegnungen und konzentrierten sich auf die Frage, ob wir bei kulturellen Phänomenen überhaupt von "ganzen" Kulturen sprechen können. Kulturelles Leben originiert sich von Anfang an durch das "Andere", aber wie gehen wir mit dem "Anderen" um? Findet eine wirkliche Begegnung der Kulturen statt oder gibt es lediglich eine Öffnung für andere Kulturen? Verstehen wir Gastlichkeit als Ethos lokaler Lebensformen? Wird das Fremde zur rigorosen Akkulturalität gezwungen? Wenn die Integration des Fremden nur durch Aufgabe der "Fremdheit" geschehen kann, so verbirgt sich dahinter ein gewaltsamer Anspruch. Liebsch plädierte für eine Anschauungsweise, die nicht nur das "Fremde" mit analytischer Distanz betrachte, sondern auch die Fähigkeit besitze, das "Eigene" in Distanz zu betrachten. Ein kulturimperialistischer Zugriff auf andere, fremde Kulturen könnte so vermieden werden.

Brigitte Rauschenbach (FU Berlin) begann ihren Vortrag über Kultur, die nicht eins ist - oder die systematische Zweideutigkeit von Kultur mit einer Narration über den generationellen Konflikt in der Wahrnehmung der Geschlechterrollen afghanischer Frauen. Die Erlebnisse einer interkulturellen Begegnung mit einer Hochschuldelegation weiblicher und männlicher Wissenschaftler aus Kabul diente ihr als Einstieg in die Frage der Geschlechterordnung.
In ihrem Beitrag thematisierte sie das Verhältnis von Kultur und Politik anhand des Geschlechterverhältnisses. Sie stellte verschiedene Prozesse der kulturellen Vergesellschaftung vor und wies auf Fragen des Kulturtransfers und des europäischen und außereuropäischen Kulturvergleichs hin. Mit ihrem Vortrag, in dem sie betonte, dass Fragen der Kultur immer auch Fragen der Geschlechterordnung umfassen, erweiterte sie die Diskussion. Wichtig erschien es Rauschenbach darauf hinzuweisen, dass sich Kultur in unterschiedlichen Perspektiven tradiert, Kulturen weder homogene noch statische Gebilde sind und eine Kultur ohne Geschlechterordnung nicht existiert. An den Ausgangspunkt ihrer Argumentation setzte sie eine These von Eward Said, nach der alle Kulturen hybrid und uneins sind. Während Said den Austausch und Übergang von Okzident und Orient fokussierte, untersuchte Rauschenbach die negativen Begleiterscheinungen von Universalismus und Modernismus für die Frau, die besonders häufig ihre als authentisch empfundene Lebensform verliere. Die Ambivalenz von Kultur zeige sich insbesondere dort, wo kulturelle Barrieren Frauen vom Zugang zur Bildung fernhalten. Explizit bezog sich Rauschenbach auf Seyla Benhabib und die Thesen vom "kulturellen Sexismus" bei Nancy Fraser und Judith Butler. Mit Benhabibs These, niemand dürfe an seine Zugehörigkeit gefesselt sein, eröffnete Rauschenbach eine neue Ebene für die Diskussion. Die Benachteiligung der Minderheitskulturen zugunsten des Privilegs der Mehrheitskulturen und die damit verknüpfte Rivalität um die Deutungshoheit der "Kulturen" beeinträchtige maßgeblich einen unbelasteten, freien Dialog. Rauschenbach plädierte für eine genaue Beobachtung von Prozessen zwischen den Stationen Ausgangskultur, Vermittlungsinstanz und Zielkultur. Kultur sei im langfristigen Wandlungsprozeß anhand von Identitätsbildung, politischer Kommunikation sowie der Ausbildung religiöser und kultureller Praktiken zu untersuchen.

In einer anschließenden offen gehaltenen Podiumsdiskussion mit den ReferentInnen sowie Rainer Forst (Institut für Philosophie/ Frankfurt) und Pia Nordblom (Historisches Seminar/ Heidelberg) wurden die wichtigsten Thesen der Referate noch einmal aufgegriffen. Die Diskussion vollständig und detailliert wiederzugeben ist nicht möglich, es können hier nur einige Aspekte Erwähnung finden. Nordblom eröffnete die Diskussion mit der Frage, ob wir einen "Schleier der Unkenntnis" im Umgang mit anderen Kulturen haben und welche Maßstäbe wir für Begegnung und Verständigung mitbringen. Statt übereinander zu reden, sollte ein Diskurs des "miteinander reden" einsetzen. Nicht selten bleibe der Gast der Fremde. Nordblom bezog sich hiermit auf den Aspekt der Asymetrie von Gastfreundschaft, mit dem sich Liebsch in seinem Beitrag auseinandergesetzt hatte. Liebsch plädierte in Erwiderung für einen Abstand zur Globalrhetorik und wies darauf hin, dass sich nicht ganze Kulturen begegnen, sondern einzelne Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen. Das Beispiel der "Kopftuchdebatte" an deutschen Schulen wurde im Anschluß kontrovers diskutiert. Forst sprach von einem Recht des "Andersseins". Die Urerfahrung von Kultur sei nicht Homogenität sondern Divergenz und es dürfe zu keiner Zwangsvereinigung unter dem Deckmantel der "Kultur" kommen. Mit Blick auf den Beitrag von Rauschenbach sprachen sich die ReferentInnen dafür aus, dass Herkunft und Zukunft voneinander entkoppelt werden sollten. Gerade mit Blick auf den Generationskonflikt wäre eine Lösung vieler Probleme in Sicht, wenn jeder seine Zukunft selbst bestimmen könnte. Bei der Frage nach den Syntheseleistungen und Synthesemöglichkeiten von Kultur wurde auf den Einfluß, die Bedeutung und Steuerung der Medien verwiesen, die nicht selten eine öffentliche Kommunikation lenkten. In der kulturvergleichenden Analyse müssten die Wertbestandteile in den einzelnen Kulturen erkannt und untersucht werden. Hieraus erwachse eine Verständigungsbereitschaft -jenseits eurozentrischer und kulturimperialistischer Standpunkte-die durchaus als interkulturelle Leistung bezeichnet werden kann.

Die unterschiedlichen wissenschaftlichen Zugänge und verschiedenen Standpunkte eröffneten eine breite Diskussionsgrundlage. Die Beiträge der Tagung werden in überarbeiteter Form in einem Tagungsband veröffentlicht.