"Krisenjahre der Klassischen Moderne"? Diskurs- und Erfahrungsgeschichte der Weimarer Republik

"Krisenjahre der Klassischen Moderne"? Diskurs- und Erfahrungsgeschichte der Weimarer Republik

Organisatoren
Dr. Moritz Föllmer und Rüdiger Graf M. A.
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.07.2003 - 26.07.2003
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Von
Per Leo, Humboldt-Universität zu Berlin

Können die 14 Jahre der Weimarer Republik als krisenhafte Episode der deutschen Geschichte gelten? Es liegt nahe, diese Frage als rhetorisch abzutun: Belastet mit den ungelösten Strukturproblemen des Kaiserreichs und der Hypothek des verlorenen Krieges, wehrlos gegen den Einbruch der nationalsozialistischen Diktatur und unterlegen im Vergleich mit dem Erfolg der Bundesrepublik, scheint das Krisenurteil über die Weimarer Zeit alternativlos. In der Geschichtswissenschaft ist es geradezu paradigmatisch geworden. Vor allem zwei Fixierungen haben den Befund der Krise immer wieder erhärtet: zum einen die Fokussierung auf das Jahr 1933 als "Untergang" in die "deutsche Katastrophe", die erst durch den Aufweis der vorangegangenen Krise der Republik plausibel wird 1; und zum anderen der Blick auf die Zeitgenossen, die geradezu inflationär von der Krisenhaftigkeit ihrer Gegenwart sprachen. Neuere Forschungen haben dieses Paradigma jedoch in Frage gestellt. Gegen die Niedergangsperspektive wird die historische Offenheit der Weimarer Periode betont, wenn sie nicht sogar überboten wird durch die These, das 'Dritte Reich' sei gekommen, weil es für eine Mehrheit der Deutschen die legitimere Alternative zur Republik dargestellt habe.2 Und das ubiquitäre Krisenbewußtsein wird kontrastiert mit Ansätzen zu einer Erfolgsgeschichte der Weimarer Republik, die den Nachweis erbringen, daß sich die deutsche Gesellschaft im europäischen Vergleich in vielen Bereichen als durchaus leistungsstark und innovativ erwies, also "alles gar nicht so schlecht" war wie gemeinhin angenommen.3 Von Krise wird in diesen Arbeiten bewußt nicht mehr gesprochen, im Gegenteil wird die umstandslose Gleichsetzung von "Weimar" und "Krise" problematisiert und ihr Erklärungspotential bestritten. Es zeigt sich zudem, daß der Krisenbegriff in der Weimarforschung zwar omnipräsent ist, aber keineswegs einsinnig verwendet wird und heuristisch sowohl als explanans, als auch als explanandum fungiert.4 Wenn sich nun zum einen der historiographische Krisenbegriff als überdeterminiert erweist, zum anderen die Zukunft der Weimarer Republik offener war und sich die Zustände insgesamt als weniger hoffnungslos darstellten als bisher angenommen, in welchem Sinne soll dann überhaupt noch von Krise gesprochen werden und wie interpretiert man das zeitgenössische Reden von der Krise? Mit Bezug auf Detlev Peukerts - im doppelten Wortsinn - "klassisches" Krisennarrativ 5 wurde diesen Fragen auf dem interdisziplinären Workshop "Die Weimarer Republik - Krisenjahre der Klassischen Moderne?" nachgegangen, der am 25. und 26. Juli an der Humboldt-Universität Berlin stattfand.

Die Tagungsbeiträge umspannten das ganze Feld von etabliertem Krisenparadigma über ikonoklastische Krisenentsagung bis zur differenzierenden Neubewertung des Krisenbefundes. Es zeugt von der ungebrochenen Virulenz des finalistischen Ansatzes der Weimarforschung, daß sich immerhin fünf von 14 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Krise und Scheitern der republikanischen Institutionen beschäftigten. Im Zuge neuerer Forschungen zur politischen Kulturgeschichte der Weimarer Republik setzten sich Sebastian Ullrich (Berlin), Manuela Achilles (Ann Arbor) und Thomas Koinzer (Berlin) mit den Fehlschlägen einer republikanischen Symbolpolitik auseinander.

Sebastian Ullrich zeigte an der "Namenskrise" des neuen Staates, daß die prinzipiell durchaus konsensfähige Verknüpfung der Embleme "deutsches Reich" und "Republik" daran scheiterte, daß im Sprachgebrauch die "Republik" zunehmend mit den Mängeln der Gegenwart (Gebietsabtretungen, verpaßter Anschluß Österreichs) assoziiert werden konnte, während das "Reich" zum Symbol einer anderen, besseren Zukunft avancierte. "Republik" wurde zu einem Kampfbegriff: als "deutsche Republik" bei ihren Befürwortern und in zahlreichen pejorativen Varianten bei ihren Gegnern. Obwohl schon Ende der zwanziger Jahre erstmals verwendet, setzte sich die Bezeichnung "Weimarer Republik" erst nach 1933, zunächst bei Republikbefürwortern im Exil und nach 1945 allgemein, als Bezeichnung für ein gescheitertes Projekt durch. Erst die ex-post-Festlegung auf Krise und Untergang ermöglichte also ein verbindliches Sprechen über die erste deutsche Republik.

Manuela Achilles zeichnete ein weniger eindeutiges Bild des Scheiterns republikanischer Identifikationsangebote. Am Beispiel des Gedenkens an den ermordeten Walter Rathenau erhellte sie einen kurzen Moment republikanischer Symbolhoheit, die sich in massenhafter Beteiligung an den Trauerfeierlichkeiten und hymnischen Reden im Parlament manifestierte. Die Analyse der Reden zeigt aber, daß Rathenau sich schon deshalb nicht als nachhaltige Identitfikationsfigur eignete, weil auch seine Lobredner über ihn erst als Republikaner und Juden und dann als Deutschen sprachen. So wirkte gerade die Verteidigung Rathenaus als republikanischer Jude gegen den "Feind, der rechts steht" effektiv spaltend. Thomas Koinzer legte am Beispiel von Schulfeiern am Verfassungstag dar, wie machtlos pädagogische Impulse zur Republikfestigung waren und die Feiern gegen die Absicht der Schulbehörden zu Orten exponierter Verfassungsfeindlichkeit wurden. An der Analyse zweier Einzelfälle wurde deutlich, wie anläßlich von Auseinandersetzungen über die Gestaltung der Feiern latente Konflikte zwischen Republikgegnern und -befürwortern in der Schule manifest wurden und so die Verfassung mit "Parteienstreit" assoziiert wurde statt einen verbindenden Identifikationspunkt zu bieten.

Thomas Raithel (München) widmete sich auf erhellend neue Weise einem prominenten Gegenstand der Weimarer Krisenforschung: dem Parlamentarismus. Ausgehend von einem funktionalistischen Modell, demzufolge bei modernen Parlamenten legislative Funktion, Kontrollfunktion, regierungstragende Funktion und Alternativfunktion zu differenzieren sind, zeigte Raithel die internen Defizite des Weimarer Parlamentarismus auf. Aufgrund eines "unterkomplexen" Parlamentarismusverständnisses, das sich einerseits am Festhalten an den parlamentarischen Regeln des wilhelminischen Konstitutionalismus, andererseits an den neuen Leitideen des nationales Konsenses und der Volksgemeinschaft festmachen läßt, seien besonders die regierungstragende und die Alternativfunktion unterentwickelt geblieben, was effektiv die Dysfunktionalität des Parlaments gefördert habe. Ohne den geschichtspädagogischen Impetus älterer Arbeiten, in denen vor allem die fehlende Kompromißbereitschaft der Parlamentarier betont wurde, konnten mit dem funktionalistischen Ansatz durch die Vergleichbarkeit mit funktionierenden parlamentarischen Systemen (z.B. im Frankreich der III. Republik) objektive Indikatoren für die Krisenhaftigkeit des Weimarer Parlamentarismus aufgezeigt werden. Daniel Siemens (Berlin) schließlich versuchte an einem Vergleich mit den USA zu zeigen, daß die häufig monierte "Vertrauenskrise" der deutschen Justiz ihren Ursprung weniger in der Kritik der allgemeinen, sondern v.a. der politisch relevanten Rechtsprechung hatte.

Gegen diese Erneuerung des Krisenparadigmas plädierte Gideon Reuveni (München/Jerusalem) für eine Geschichte der Weimarer Periode, die "ohne die Republik und ihr Scheitern auskommt". Der v.a. politikgeschichtlichen Betonung des Niedergangs müßten Perspektiven entgegengesetzt werden, aus denen das Entstehen neuer, unproblematischer Normalitäten außerhalb der politischen Arena erkennbar werde. Am Beispiel der in den zwanziger Jahren boomenden Versicherungszeitschriften 6 zeigte Reuveni, daß gerade die Erfahrung von persönlicher "Not und Krise" Strategien und Mechanismen produzierte, die eine gewisse Erwartbarkeit der Zukunft auch unter Bedingungen von Unsicherheit und Unübersichtlichkeit ermöglichte. Durch die Verallgemeinerung vormals exklusiv bürgerlicher Verhaltensmuster, im Falle der Versicherungszeitschriften dem Streben nach Bildung und Sekurität, seien somit in den zwanziger Jahren habituelle Grundlagen für das Gelingen der bundesrepublikanischen Wohlstandsgesellschaft gelegt worden.

Sowohl die Beiträge zum Scheitern der republikanischen Institutionen, als auch - ex negativo - Gideon Reuvenis Beitrag zu einer Weimarer Erfolgsgeschichte verwendeten den Krisenbegriff als objektive Kategorie zur Gesamtbeurteilung des Zustands einer historischen Gesellschaft. Die Mehrzahl der Beiträge näherte sich dagegen der Frage nach der Krisenhaftigkeit der Weimarer Epoche aus der Perspektive der zeitgenössischen Akteure, und zwar ausschließlich mit diskurs- und erfahrungsgeschichtlichen Ansätzen, also ohne Rückgriff auf die unscharfe psychologische Kategorie des "Krisenbewußtseins".

Rüdiger Graf (Berlin) untersuchte den strategischen Gebrauch, der in der politischen Publizistik der Weimarer Republik vom Krisenbegriff gemacht wurde. Indem er nach der Abhängigkeit der konkreten Krisendiagnosen von der politischen Programmatik fragte, konnte er zeigen, daß die Drastik des Krisenbefundes mit der Radikalität der Zukunftsentwürfe korrespondierte. Utopische und gegenwartsüberwindende Zukunftsentwürfe könnten demnach nicht aus "der" objektiven Krise der Gegenwart abgeleitet werden, vielmehr hätten umgekehrt Krisenrhetorik und negative Gegenwartsdiagnose die Dringlichkeit einer längst gewollten Erneuerung plausibilisiert und legitimiert. Besonders die revolutionäre Rechte bediente sich der apokalyptischen Denkfigur "radikale-Überwindung-der-Gegenwart-durch-Steigerung-der-Krise", was in der reflexiven Bemerkung des 'Tat'-Herausgebers Hans Zehrer, man müsse "den Mut haben, in entscheidenden Dingen manchmal die Not zu wollen, um zur Not-Wendigkeit zu gelangen", pointiert zum Ausdruck kommt. 7 Schon die Zeitgenossen hätten zudem bemerkt, daß die "Krise" zu guten Teilen diskursiv induziert worden sei, was sich daran zeige, daß das Schema Niedergang-Krise-Plan-Tat-gute Zukunft als stereotypes Narrativ reflektiert, kritisiert und karikiert wurde.

Auch Florentine Fritzen (Frankfurt/M.) verdeutlichte am Beispiel der Reformhausbewegung, daß die Krisendiagnose der Gegenwart konstitutiv war für die Plausibilität der prognostizierten Lebensverbesserung all derer, die sich entschlossen hatten, durch gezielten Konsum "neuzeitlich zu leben". Wenn auch weniger radikal als bei den rechten Publizisten, verband sich auch bei den Lebensreformern die Krisenrhetorik gerade nicht mit einer pessimistischen Sicht auf die Entwicklung, sondern im Gegenteil mit einer äußerst optimistischen Zukunftsgewißheit, zu deren Verwirklichung man die probaten Mittel für sich reklamierte.

Sabine Hake (Pittsburgh) analysierte die Krisendiskurse modernistischer und avantgardistischer Architekten. Sie vertrat die These, daß deren omnipräsente Rede von der Krise der architektonischen Formen und Funktionen nicht Ausdruck objektiver Krisenlagen gewesen seien, sondern ein ideologisches Konstrukt, das die Maskierung eines als bedrohlich empfundenen sozialen Wandels ermöglicht habe. Durch die Behauptung der Krise der wilhelminischen Architektur und, komplementär dazu, die Visionen des Neuen Bauens seien die realisierten (modernistischen) ebenso wie die unrealisierten (avantgardistischen) Bauprojekte nicht als das kenntlich geworden, was sie eigentlich waren: nämlich Versuche, die Konfliktpotentiale einer sich verschärfenden Klassengesellschaft einzuhegen (z.B. sozialer Wohnungsbau) und die elitäre Position des bürgerlichen Subjekts gegen die Kontingenzen einer anonymisierenden Kultur des neuen Mittelstandes zu behaupten (z.B. unrealisierte utopische Negationen der architektonischen Tradition).

Kerstin Barndt (Ann Arbor) verdeutlichte anhand zweier Romane der Neuen Frau aus der späten Weimarer Republik die strukturelle Homologie von melodramatischem Narrativ und Krisendiskurs. Im Anschluß an Peter Brooks' Konzeption der Melodramatic Imagination und Reinhart Kosellecks historische Semantik des Krisenbegriffs zeigte sie, daß in beiden Darstellungsformen Situationen des Übergangs markiert werden, die sich durch scharfe Differenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, "richtigen" und "falschen" Handlungsoptionen, und existentiellen Entscheidungsdruck auszeichnen. 8 In ihrer Analyse der Romane "Zyankali" (Friedrich Wolf) und "Gilgi - eine von uns" (Irmgard Keun) vertrat sie die These, daß die melodramatische Darstellung von Frauen, die über eine Abtreibung zu entscheiden hatten, als ästhetische Repräsentation einer Gesellschaft in einer historischen Krise fungiere. Die Situation der Neuen Frau, die entgegen dem gängigen Klischee nicht radikal mit der traditionellen Rolle der Frau als Mutter brach, sondern Mutterschaft zum Gegenstand einer Entscheidung erhob, als "Übergangsgeschöpf" (Hedwig Dohm) zwischen alten Rollenzuschreibungen und neuer Subjektivität habe die Verhandlung einer historischen Übergangssituation ermöglicht.

Ulrike Baureithel (Berlin) schließlich führte aus, daß der Krisenbegriff konstitutiv auch für den neusachlichen Männlichkeitsdiskurs war. Die gängige sozialpsychologische Deutung, derzufolge die Identifizierung des Männlichen mit Härte, Sachlichkeit und heroischer Haltung Ängste vor der Auflösung des männlichen Körpers und des Staates kompensiert habe, erweiterte sie um eine kommunikationstheoretische Lesart: die sachlich imaginierte Männlichkeit habe keine Substanz im Sinne eines entworfenen oder verteidigten Geschlechtsmodells dargestellt, sondern als Code fungiert, der "Männlichkeit" vor einer inhaltlichen Bestimmung als symbolische Differenzposition wieder einführte und so in einem Zeitalter der "Vaterlosigkeit" Sinnorientierung ermöglichte.

Betonten diese Beiträge die Funktionalität von Krisendiskursen, loteten Michael Mackenzie (DePauw University), Moritz Föllmer (Berlin) und Benjamin Robinson (Northern Illinois University) Dimensionen tatsächlicher Krisenerfahrung aus.
Michael Mackenzie vertrat die These, die kulturpessimistische Rede vom Niedergang des Subjekts sei eine minoritäre Position gewesen, deren privilegierte Beachtung den Blick doppelt verstelle: einerseits auf den konkreten Charakter der Krisenerfahrung, andererseits auf den nicht nur larmoyanten, sondern produktiven Umgang mit dieser Erfahrung. Im Kern sei die Krise des Subjekts eine Krise des organischen Körpers gewesen, hervorgerufen v.a. durch die massenhafte Erfahrung von funktionalem Ungenügen und Verletzbarkeit des Körpers in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs. Diese Erfahrung des Ausgeliefertseins an eine nicht mehr kontrollierbare Technologie wurde nun in den zwanziger Jahren nicht nur beklagt, sondern im neusachlichen Gestus des "Einverständnisses" (Helmut Lethen) mit den Zumutungen der Moderne zum Ausgangspunkt einer Neuerfindung des Menschen als Maschine. Die neuen Leitbilder des Ingenieurs und des Boxers, der Normalmensch der funktionalen Eignungsprüfungen oder Ernst Jüngers Typus des Arbeiters zeichneten sich durch Reaktionsschnelligkeit, Anpassungsfähigkeit, Ausdauer und Schmerzresistenz aus. Im Gegensatz zur polemischen Selbstverteidigung des Subjekts gegen die Dominanz der Artefakte enthielt somit das Ideal des Maschinenmenschen eine doppelte Affirmation des Technischen: In einer künstlichen Welt behaupten sich künstliche Menschen.

Moritz Föllmer untersuchte an einer Reihe von Fallbeispielen Grenzen und Möglichkeiten individueller Selbsterschaffung in der modernen Metropole Berlin. Auch seine Analyse relativierte und differenzierte die zeitgenössische Rede von der Krise des Subjekts: Die heterogenen Beispiele, die gereizte Vorstandsmitglieder, amtsenthobene Oberbürgermeister, suizidale Reformschüler und unglücklich Liebende umfassten, liefen alle eher auf eine mißglückte als auf eine prinzipiell gefährdete Individualität hinaus. Nicht der vielbeschworene Niedergang des Subjekts in einer technisierten und entindividualisierten Welt sei problematisch gewesen, sondern die Diskrepanz zwischen ambitionierten Selbstentwürfen und den Kontingenzen des modernen Lebens. Sowohl das unverbrüchlich attraktive Ideal bürgerlicher Selbstherrschaft als auch neue Leitbilder wie die rationale Lebensführung erwiesen sich in einer Welt, die Erfahrung permanent entwertete und in der die Regeln für alltäglichste Situationen erst ausgehandelt werden mußten, als unangemessen anspruchsvoll. Pointiert gesprochen, hatte eine tatsächlich weit verbreitete krisenhafte Selbstwahrnehmung ihre Ursache eher in einem Zuviel als einem Zuwenig an Individualität.

Auch Benjamin Robinson konkretisierte und differenzierte den Topos von der Krise des Subjekts. Am Beispiel zweier autobiographischer Erzählungen von Hans Fallada, in denen die Hauptfigur in die Obhut des "humanen" Strafvollzugs und Drogenentzugs gerät, analysierte er die Paradoxien der Subjektivität unter den Bedingungen des modernen Wohlfahrtsstaates. Einerseits fungiert die Kategorie des Subjekts in liberalen Gesellschaften als Zuschreibung von Handlungsfähigkeit (agency) und Zurechnungsfähigkeit (mens rea). Die Einlieferung in ein Gefängnis - statt in eine Irrenanstalt - setzt den Subjektstatus des Delinquenten also ebenso voraus wie es ihn bestätigt. Andererseits aber untergräbt die soziale Realität des Autors wie der Figur Hans Fallada innerhalb und außerhalb des Gefängnisses jede Autonomie der Entscheidung. Die einzige Möglichkeit, sich dennoch als Subjekt zu behaupten, besteht daher in einer Aufgabe seiner selbst als Subjekt von Handlungen und Rechten zugunsten einer Setzung als Subjekt von Erfahrung. In der Fiktion fungiert der Haftantritt als "Robinson-Moment", der schlagartig die Bedingungen für ein experimentelles Selbstverhältnis schafft: faktisch der Fähigkeit handeln zu können ebenso beraubt wie von der Zumutung handeln zu müssen entlastet, gewinnt die Figur Fallada Wahrnehmungsfähigkeit und Urteilskraft. Die Autonomie der Beobachtung des Elends und seiner wohlfahrtsstaatlichen Verwaltung kostete, so Robinsons Pointe, die Autonomie des Handelns und die gelungene Einordnung in die Gesellschaft.

Abschließend unternahm Michael Makropoulos (FU Berlin) den synthetisierenden Versuch, die Weimarer Jahre insgesamt unter dem Aspekt der Krise zu fassen. Die zwanziger Jahre hätten in Deutschland den vollen Durchbruch der - bis dahin auf die ästhetische Produktion beschränkten - Moderne gebracht. Versteht man unter Modernität allgemein die Kontingenz von Lebensentwürfen und Deutungsangeboten, die "irreduzibel selbsttragend" und somit nicht mehr absolut begründbar sind, so sei diese durch das Fundamentalereignis des Ersten Weltkriegs und seinen Folgen in Deutschland in Form von "Wirklichkeitsverlust", "Realitätszerfall", "Werteverkehrung" und abrupter Erfahrungsentwertung besonders drastisch erlebt worden. So begriffen, bestand die Krisenhaftigkeit der Weimarer Jahre nicht in der finalistischen Wahrnehmung eines Niedergangs, sondern in der plötzlichen Offenheit und Pluralität einer Gegenwart, die in der Ambivalenz von Verlust und Erneuerbarkeit als "tabula rasa" erfahren wurde. Anhand der Analyse intellektueller Diskurse unterschiedlicher Provenienz vertrat Makropoulos die These, daß die "strategische Situation" der zwanziger Jahre nicht primär durch die Unterscheidung von politisch "rechten" und "linken" Positionen gekennzeichnet gewesen sei, sondern durch den Gegensatz von "Kontingenzaufhebung" (z.B. Carl Schmitt, Georg Lukács, Ernst Bloch) und "Kontingenztoleranz" (z.B. Helmuth Plessner).

Die Ergebnisse des Workshops können dahingehend zusammengefaßt werden, daß der Krisenbegriff insgesamt zu vieldeutig erscheint, um als das bestimmende Merkmal der Weimarer Jahre zu dienen. Dennoch zeigten die Beiträge, daß er für die Erforschung der Weimarer Republik fruchtbar bleibt, wenn man seinen Gebrauch spezifiziert. Idealtypisch lassen sich gemäß ihrer Bestimmungskriterien vier Ansätze isolieren, wobei grundsätzlich zwischen Forschungen, die den Krisenbegriff analytisch zur Bestimmung historischer Verhältnisse verwenden (a, b), und solchen, die ihn als Kategorie historisieren (c, d), unterschieden werden muß:

a) Objektivistischer Ansatz: es erscheint durchaus nützlich, weiterhin von objektiven Krisen zu sprechen, wenn der Untersuchungsgegenstand klar eingrenzt ist und Indikatoren für den Krisenbefund benannt werden. Die Institutionen der Republik bleiben das naheliegende Objekt dieses Ansatzes. Die funktionalistische Methode, die Thomas Raithel zur Analyse des Weimarer Parlamentarismus verwendete, erscheint hierfür besonders geeignet, weil sie durch Setzung einer Norm Vergleichbarkeit herstellt und Krise und Scheitern als dysfunktionales Abweichen von der Norm bestimmbar macht.

b) Phänomenologischer Ansatz: Eine Reihe von Beiträgen bestimmte Krisenhaftigkeit als Problematischwerden von Weltaneignung. Sie konvergierten in der Beobachtung drastischer Entwertungsprozesse von sinnorientierenden Medien wie tradiertem Wissen, Subjektentwürfen, Geschlechtsmodellen, Liebe oder Geld 9, die sich bis zur Erfahrung von Wirklichkeitsverlust steigern konnten. Gleichwohl wurde die Ambivalenz der Erfahrung von Sinnkontingenz betont. Sie konnte ebenso Überforderung, Mißtrauen und Handlungsunfähigkeit bedeuten wie Einsicht in die Gestaltbarkeit von Welt. 10

c) Konstruktivistisch-ideologiekritischer Ansatz: als überfällig und äußerst fruchtbar erwiesen sich die Beiträge, die sich mit den zeitgenössischen Gebrauchsweisen der Krisensemantik beschäftigten. In den Analysen eben nicht "der" Krise oder "des" Krisenbewußtseins, sondern heterogener Krisendiskurse wurde deutlich, daß die Rede von Krise konstitutiv war für die Legitimierung, Plausibilisierung oder Maskierung von Interessen: sei es an politischer Veränderung, an der Gestaltung des öffentlichen Raumes oder am Konsum.

d) Dekonstruktivistischer Ansatz: in der Diskussion des Beitrags von Kerstin Barndt verdichtete sich die im Verlauf des Workshops immer wieder geäußerte Vermutung, die enge Verknüpfung von "Weimar" und "Krise" verweise vor allem auf eine - im doppelten Wortsinn verstandene - "Krise der Geschichtsschreibung". Der Befund der Konvergenz von melodramatischem Narrativ und Krisendiskurs wurde reflexiv auf die Frage nach der Funktion des Krisenbegriffs für das historiographische Narrativ ausgeweitet: inwiefern ist die Markierung von Krisen ein unverzichtbarer Bestandteil für die Ökonomie der Meistererzählungen der Moderne? Muß in diesem Sinne das Narrativ der "Krisenjahre der Klassischen Moderne" nicht in erster Linie als Klassiker der Moderne gelten?

Fazit: die experimentelle Vervielfältigung des Krisenbegriffs hat im Rahmen des Workshops seine Relevanz und Produktivität für die Geschichtsschreibung der Weimarer Jahre nachdrücklich bestätigt. In Umkehrung der pauschalen Krisenurteile erscheint die Notierung von Krise allerdings eher als Ausgangs- denn als Endpunkt der Forschung.

[Anmerkungen]
1 Programmatisch Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik, München 2000, S. 145: "Kein Versuch, die Geschichte dieser vierzehn Jahre aufzuhellen und den 'historischen Ort' der Weimarer Republik im Zusammenhang der deutschen Geschichte zu bestimmen, kann abstrahieren von dem, was nach Weimar kam: die auf den Trümmern der ersten deutschen Demokratie errichtete nationalsozialistische Diktatur hat Zerstörung und Terror eines vordem unvorstellbaren Ausmasses über Deutschland und Europa gebracht und das moralische Ansehen der Deutschen in aller Welt langfristig schwer beschädigt."
2 Siehe etwa Peter Fritzsche, Did Weimar Fail?, in: Journal of Modern History 68 (1996), S. 629-656; Ders., Wie aus Deutschen Nazis wurden, München 2002.
3 Siehe exemplarisch Deborah Cohen, The War Came Home. Disabled Veterans in Britain and Germany, 1914 - 1939, Berkeley 2001 für die Veteranenfürsorge im deutsch-britischen Vergleich; Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002 zur Relativierung des Krisenbefundes für den Weimarer Parlamentarismus; Conan Fischer, Continuity and Change in Post-Wilhelmine Germany. From the 1918 Revolution to the Ruhr Crisis, in: Geoff Eley/James Retallack (Hg.), Wilhelminism and Its Legacies. German Modernities, Imperialism, and the Meanings of Reform, 1890-1930, New York/Oxford 2003, S. 202-218 für eine positivere Interpretation des Nachkriegsarrangements zwischen Industrie und Arbeiterbewegung.
4 Darauf wies Rüdiger Graf in einer Kritik der historiographischen Krisensemantik, die er seinem Tagungsbeitrag voranstellte, hin. Zur Krise als explanandum siehe exemplarisch Heinrich August Winkler (Hg.), Die deutsche Staatskrise 1930-1933. Handlungsspielräume und Alternativen, München 1992; als explanans Hans- Ulrich Wehler, Radikalnationalismus - erklärt er das "Dritte Reich" besser als der Nationalsozialismus?, in: Ders. (Hg.), Umbruch und Kontinuität. Essays zum 20. Jahrhundert, München 2000, 47-64, pointiert auf S. 51: "die entscheidende Zäsur in der Entwicklungsgeschichte des deutschen Nationalismus seit 1914 [... stellt] das bis 1933 entstehende Krisensyndrom von Weltkrieg, Kriegszieleuphorie, Niederlage, Revolution, 'Versailler System', Territorialverlust, Entmilitarisierung, 'Reparationsknechtschaft' und Weltwirtschaftskrise seit 1929 [dar]".
5 Detlev J.K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt/M. 1987.
6 Gemeint sind Zeitschriften, deren Subskription mit dem Abschluß einer Versicherung gratifiziert wurden.
7 Hans Zehrer, Achtung, junge Front! Draußenbleiben, in: Die Tat 21.1 (1929/30), S. 25-40, hier S. 28.
8 Peter Brooks, The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess, New York 1976; Reinhart Koselleck, Krise, in Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 639.
9 Martin H. Geyer, Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne. München 1914 - 1924, Göttingen 1998 analysiert die Hyperinflation in diesem Sinn als Entwertungsprozess eines Kommunikationsmediums, der soziales Handeln verkomplizierte.
10 Theoretisch generalisierbar scheint die Analyse von Hansjörg Siegenthaler, Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Ungleichmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen als Ergebnis individuellen Handelns, Tübingen 1993 zu sein, der ökonomische Krisen als "Verlust von Regelvertrauen" deutet, auf die die Akteure mit Intensivierung von kommunikativen Handeln zur Wiederherstellung von Kommunikation als Handlung reagieren.