Erinnerung und Gesellschaft/Mémoire et Société. Kolloquium zu Werk und Wirkung von Maurice Halbwachs (1877-1945)

Erinnerung und Gesellschaft/Mémoire et Société. Kolloquium zu Werk und Wirkung von Maurice Halbwachs (1877-1945)

Organisatoren
Philosophische und Sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität Göttingen, Mission Historique Francaise en Allemagne, Max-Planck-Institut für Geschichte
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.07.2003 - 05.07.2003
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Von
Hermann Krapoth, Seminar für Romanische Philologie, Georg-August-Universität Göttingen

Die Stadt Göttingen hat Maurice Halbwachs am 4. Juli 2003 durch die Anbringung einer Gedenktafel am Hause Theaterstraße 18 geehrt. Sie folgte damit einer auch von der Universität unterstützten Anregung und dem entsprechenden Antrag von Hermann Krapoth (Seminar für Romanische Philologie der Universität Göttingen). Die Gedenktafel erinnert an den Göttinger Aufenthalt von Maurice Halbwachs, der im Wintersemester 1902/03 und im Sommersemester 1903 als Lektor der französischen Sprache am Seminar für Romanische Philologie lehrte. In einer seiner Lehrveranstaltungen behandelte Halbwachs hier ein Werk seines Lehrers Henri Bergson: „Le Rire. Essai sur la signification du comique“ (1899). Die Laudationes anlässlich der Enthüllung der Gedenktafel hielten Rudolf von Thadden (Göttingen) und Jacques Revel (Paris).

Die Philosophische Fakultät, die Sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität Göttingen, die Mission Historique Française en Allemagne und das Max-Planck-Institut für Geschichte haben die Gelegenheit genutzt, durch ein gemeinsames deutsch-französisches Kolloquium an Maurice Halbwachs und sein Werk zu erinnern. Dem Vorbereitungskomitee gehörten an: Martin Baethge (Soziologisches Seminar), Manfred Engelbert (Seminar für Romanische Philologie), Werner Frick (Zentrum für komparatistische Studien), Hermann Krapoth (Seminar für Romanische Philologie), Denis Laborde (Mission Historique Française en Allemagne), Rainer Neef (Soziologisches Seminar). Das Kolloquium wurde finanziell gefördert durch den Präsidenten der Universität Göttingen, die beiden genannten Fakultäten, durch die Mission Historique Française en Allemagne und durch einen Zuschuss der Sparkasse Göttingen. Das Max-Planck-Institut für Geschichte stellte seinen Bibliothekssaal für das Kolloquium zur Verfügung.

Die Beiträge wiesen zwar unterschiedliche Schwerpunkte auf, aber insgesamt war das Bemühen erkennbar, vor allem Grundlinien des Werks von Maurice Halbwachs herauszuarbeiten und diese zugleich in Beziehung zu Leben und Person sowie zur politischen Haltung zu setzen. Halbwachs’ Verhältnis zu Göttingen, zu Deutschland und deutscher Wissenschaft (z.B. Max Weber), insbesondere auch sein Aufenthalt und Tod im Konzentrationslager Buchenwald wurden in den Laudationes und im Eröffnungsvortrag von Wolf Lepenies (Berlin) thematisiert. Lepenies lenkte die Aufmerksamkeit auf den Text „Une expulsion“, den Halbwachs kurz vor seiner Deportation (1944) über seine Ausweisung aus Preußen (1910) formuliert hat, und deutete ihn als Nachzeichnung einer „Topographie des bürokratischen Schreckens“, in der sich die Vorahnung des kommenden Unglücks und Todes deutlich ausdrücke. Rudolf von Thadden zitierte das Zeugnis Jorge Semprúns über den Tod von Maurice Halbwachs („L’Écriture ou la vie“). Lepenies und Revel stellten Halbwachs’ besondere Bedeutung für die Rezeption der deutschen soziologischen Forschung in Frankreich dar. Den Aufenthalt in Göttingen sah Revel als Beginn der Abwendung Halbwachs’ von der Philosophie und der Hinwendung zur Soziologie.

Aus dem Blick auf Halbwachs’ Biografie entwickelten sowohl Lepenies als auch Gérard Namer (Paris) allgemeinere Gedanken über das Verhältnis von wissenschaftlicher Forschung und politischem Engagement, das zum Widerstand führt. Wenn auch in unterschiedlicher Weise, wurde in beiden Beiträgen dieses Engagement als Konsequenz aus dem Ethos wissenschaftlicher Arbeit abgeleitet. Lepenies betrachtete Maurice Halbwachs als Beispiel für einen bestimmten Wissenschaftlertypus. Er kontrastierte ihn mit einem anderen, eher für Deutschland charakteristischen Typus, der die Wissenschaft und sich selbst in Distanz zum politischen Leben hält.

Der Thematik des Kolloquiums entsprechend konzentrierten sich die Beiträge auf die Gedächtnistheorie von Maurice Halbwachs. Wesentlich waren dabei zunächst die Charakterisierung und die Abgrenzung der verschiedenen Gedächtnisformen. Jan Assmann (Heidelberg) betonte die beiden Prinzipien des Kollektivismus und Präsentismus in Halbwachs’ Verständnis des „kollektiven Gedächtnisses“. Gegenüber Halbwachs stärkte er den Pol des „kulturellen Gedächtnisses“ und machte auf das Kontinuum aufmerksam, das die verschiedenen Gedächtnisformen miteinander verbindet. Auch Marie-Claire Lavabre (Paris) beschäftigte sich mit der Frage, wie die Aufdeckung des kollektiven Charakters des Gedächtnisses in der Forschung fruchtbar gemacht werden könne. Der Ansatz ermögliche Einblicke in die Struktur und Organisation von Gruppen sowie in Systeme wechselseitiger Relationen. Von besonderem Aufschluss für eine Gesellschaft seien auch die „Erinnerungslöcher“. Walter Gierl (Berlin) verband seinen Bericht über bemerkenswerte Funde von unbekannt gebliebenen Halbwachs-Texten, die er im Laufe seiner Forschungen zur Rezeption von Halbwachs gemacht hatte, mit grundsätzlichen Überlegungen zu dessen Denkstrukturen und Arbeitsverfahren. Dies mündete in die These der Multiplizität der Erinnerungssysteme, die Halbwachs in seine Wissenschaft von der Gesellschaft eingeführt habe.

Die rezeptionsgeschichtlichen Aspekte in Gierls Vortrag standen in Beziehung zu den Betrachtungen über das Werk von Maurice Halbwachs in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive. Dies bestimmte insbesondere die Beiträge von Lutz Niethammer (Jena) und Jacques Revel. Niethammer unterstrich den paradigmatischen Wandel, durch den sich Halbwachs von der wissenschaftlichen Tradition abgesetzt habe. Der entscheidende Punkt sei die für das moderne Wissenschaftsverständnis so bedeutende Abwendung vom Essentialismus bei Halbwachs. An dessen Stelle sei gerade in der Analyse der Gedächtnisformen ein ausdrücklicher Konstruktivismus getreten. Revel entwickelte aus einer umfassenden Analyse des Verhältnisses zwischen Halbwachs und der Annales-Schule einen Einblick in den geschichtlich wirksamen Antagonismus zwischen verschiedenen Denkrichtungen. Der Statik der Synchronie in der Annales-Schule stellte Revel die alles bestimmende Dynamik in Halbwachs’ Sicht der „Erinnerungsproduktion“ (production mémoriale) und ihrer geschichtlichen Wirkung gegenüber. Revel markierte damit auch Halbwachs’ Distanzierung gegenüber dem Subjektivismus Bergsons wie gegenüber dem Objektivismus Durkheims.

Zwei Vorträge stellten aktuelle Forschungsprojekte vor, die der Erinnerungsthematik im Sinne Halbwachs’ gewidmet sind. Étienne François (Paris/Berlin) berichtete über empirische Untersuchungen zur Bestimmung dessen, was in den heutigen Gesellschaften als auf das europäische Erbe und die europäische Geschichte bezogener Gedächtnisbestand ausgemacht werden kann und auch in seiner geschichtlichen Dynamik der Deutung bedarf. Gerald Echterhoff (Köln) beschrieb ebenfalls empirische Untersuchungen. Die Frage richtete sich auf die sozialen Bedingungen des Erinnerns. Aufgrund bestimmter Versuchsanordnungen könne gezeigt werden, wie das Gedächtnis von Annahmen zu kommunikativen Situation abhängig sei. Dies verweist im Sinne Halbwachs’ auf das kollektive Element im Erinnerungsprozess.

Das Göttinger Halbwachs-Kolloquium hat einem Akt der Erinnerung eine wissenschaftliche Fundierung gegeben. Es vermittelte sowohl einen vertieften Einblick in die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung des Werks von Maurice Halbwachs als auch die Anregung zur weiteren Auseinandersetzung mit seiner Gedächtnistheorie in der aktuellen Forschung verschiedenster Disziplinen. Das Kolloquium war zudem ein gutes Beispiel für die Möglichkeiten deutsch-französischer Zusammenarbeit unter Beteiligung der in Göttingen bestehenden Institutionen. Eine Veröffentlichung wird vorbereitet.

Kontakt

Dr. Hermann Krapoth
Universität Göttingen
Seminar für Romanische Philologie
Humboldtallee 19
37073 Göttingen
Tel. (priv.): (0551) 43083
E-Mail: helgaheidecker@web.de