Transdisziplinarität und Methode. Repräsentationen von Medizin und Ethik in Literatur und Kunst der Moderne

Transdisziplinarität und Methode. Repräsentationen von Medizin und Ethik in Literatur und Kunst der Moderne

Organisatoren
Dr. Bettina v. Jagow, Dr. Florian Steger
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.09.2003 - 17.09.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Maximilian Gröne, Freiburg im Breisgau

"Transdisziplinarität" und "Methode" bildeten die begrifflichen Eckpfeiler einer Tagung, die vom 15. bis 17.9.2003 in der Münchener Carl Friedrich von Siemens Stiftung stattfand, von der Münchener Universitätsgesellschaft e.V. finanziell unterstützt und von Bettina v. Jagow (Institut für Deutsche Philologie, LMU München) und Florian Steger (Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, FAU Erlangen-Nürnberg) konzipiert, organisiert und geleitet wurde. Kernanliegen der Veranstaltung war es, Repräsentationen von Medizin und Ethik in Literatur und Kunst der Moderne einer kritischen Sichtung zu unterziehen, auf wechselseitige Einflüsse zu hinterfragen und die daraus resultierende gesellschaftspolitische Wertigkeit aufzuzeigen. Die Pluralität der hierfür vorgestellten methodischen Ansätze lag in der programmatisch angesetzten Transdisziplinarität begründet und wurde in der Diskussion auf Abgrenzungen wie auch Möglichkeiten der wechselseitigen Integration überprüft. Die BeiträgerInnen entstammten den Bereichen der Literaturwissenschaften, der Medienwissenschaft, der Medizingeschichte, der Musikwissenschaft, der Wissenschaftsgeschichte und der angewandten Künste. Vor allem Mehrfachqualifikationen, welche sich auf die Kombination mehrerer Fachdisziplinen bzw. die Vereinigung einer Forschungstätigkeit mit der praktischen Kompetenz auf den Feldern der Medizin/Psychiatrie/Psychologie oder Kunst erstreckten, leisteten einen Beitrag zur Klärung der Interdependenzen zwischen dem Bezeichneten der Naturwissenschaft und dem Bezeichnenden der Kulturwissenschaften.

In exemplarischer Weise thematisierte der Eröffnungsvortrag von Sigrid Weigel (Berlin) die geisteswissenschaftliche Dechiffrierung medizinischer Analysetechniken ("Phantombilder des 'Lebens' zwischen Wissenschaften und Künsten"). Mit Hilfe der Metapher des 'Phantombildes' wurden dabei jene Visualisierungsmöglichkeiten in den Blick genommen, welche in der Hirnforschung bzw. der Neurologie zur Darstellung von Geistestätigkeit Anwendung fanden bzw. aktuell finden. In einem chronologischen wie auch systematisierenden Vergleich unterschiedlicher Meßverfahren der Hirntätigkeit, mit einem Akzent auf den Einsatzmöglichkeiten von Magnetresonanztechnik und Computertomographie, wurde deutlich, inwieweit medizinisches und biowissenschaftliches Wissen einerseits der Visualisierung bedarf, um die erhobenen Daten im Kürzel des Bildes anschaulich zu machen und auch an LaienbetrachterInnen zu vermitteln. Zugleich traten andererseits die metaphorischen Qualitäten des betrachteten Abbildungsprozesses selbst zutage: Die Medizin generiert Bilder aus Meßwerten, sie liefert Anschauungsmodelle für eine den menschlichen Sinnen nicht unmittelbar zugängliche Nerventätigkeit. Die Vereinheitlichung der gewonnenen Daten in der optischen Repräsentation vermag schließlich auch die Aufhebung von "Momenten des Nicht-Wissens" in der Gesamtdarstellung.

Die darauf folgenden Beiträge waren der künstlerischen Bearbeitung medizinischer Phänomene in unterschiedlichen Medien gewidmet. Lorenz Welker (München) zeichnete anhand zweier Fallanalysen die zeitgenössische Rezeption des Wahnsinnsmotivs der romantischen Oper nach ("Wahnsinn auf der Opernbühne: Ein romantisches Konzept und sein Reflex in der Gegenwart"). So findet Gaetano Donizettis Lucia di Lammermoor ein unerwartetes Pendant in jener zentralen Sequenz aus Luc Bessons Film The Fifth Element, in welcher sich die außerirdische Diva auf weltraumgerechter Opernbühne noch in grotesker Verzerrung um die exakte Orientierung am tragischen 'Wahn' ihres Rollenvorbilds bemüht. Ähnlich rauh nimmt sich die Transformation des Teufelspaktes aus Carl Maria von Webers Freischütz zur Heroinsucht in William Burroughs Rock-Musical The Black Rider aus. Beide Adaptationen, so vermochte der audiovisuell unterstützte Vergleich zu demonstrieren, benutzen die bereits von ihren Hypotexten verwendeten Laienvorstellungen von Wahnsinn, um die damit erzielbaren psychologischen Effekte auf das Publikum (Darstellung von Entfremdung bzw. des Unheimlichen) an zentralen Passagen der Werke zu verankern.

Karin Tebbens (Heidelberg) Vortrag "Dissoziation des Ich im Expressionismus. Kunst und Literatur im Vergleich" wiederum schlug anhand der Biographie Ernst Ludwig Kirchners die Brücke von der Medizin zur Darstellung prekärer psychischer Verfassung. Der Künstler, traumatisiert von seiner Implikation in den I. Weltkrieg, setzte nach mehreren Nervenzusammenbrüchen noch während seines Aufenthaltes in diversen Sanatorien die Arbeit an seinem zusehends persönlich geprägtem graphischen Werk fort, so in den Illustrationen zu Adelbert von Chamissos Peter Schlehmihl, die Kirchner selbst als 'Mann ohne Schatten' zeigen. Die von Kirchner vorangetriebene neuartige Bildersprache speist sich aus dem künstlerischen Anliegen, das sichtbare Bild als Verweis auf ein dahinterliegendes wesenhaftes, geistiges Bild zu verwenden. Dem korrespondiert, so konnte Tebben verdeutlichen, der Kontakt Kirchners zu Ludwig Binswanger und dessen phänomenologischer Blick auf die Subjektivität des Patienten. Die kulturgeschichtlich bedingte Parallele zwischen den Anschauungen des Kranken und des ihn (kurzzeitig) behandelnden Arztes wirft ein Schlaglicht auf die Formung jenes Expressionismus, der als 'Nervenkunst' nur allzu gerne verballhornt wurde. Nur Psychiater und 'echte Künstler', so Binswanger, seien indes zum wesenhaften Erfassen eines Gegenübers fähig.

Horst-Jürgen Gerigk (Heidelberg) täuschte mit seiner bewußt lakonisch gehaltenen Formulierung "Jeder Autor ist auf Wirkung aus" nicht lange über die Vehemenz hinweg, mit der die literarische Darstellung von Krebs ihre Leserschaft bei Philip Roth und Thomas Mann konfrontiert ("Liebe, Krankheit und Tod in Philip Roths The Dying Animal und Thomas Manns Die Betrogene"). Beide Texte sparen nicht mit einer kruden Beschreibung der Krankheit und überbieten sich in ihrer Schockwirkung, die auf dem Einbruch des Todes in eine Liebesbeziehung (oder deren Restbestände) basiert. Die klinische Realität von Krebs, welche bei Roths Ich-Erzähler noch narzißtisch bemäntelt wird, gewinnt bei Thomas Mann misogyne Dimensionen; für beide Autoren allerdings spiegelt die Krankheit einen allgemeinen Weltzustand, der auf die traditionelle metaphorische Funktion literarischer Krankheitsmotivik rekurriert.

Die autobiographische Gestaltung der Krankheitserfahrung stand im Mittelpunkt des Beitrags von Maximilian Gröne (Freiburg i.Br.), der am Beispiel des französischen Schriftstellers, Photographen und Journalisten Hervé Guibert die medialen Darbietungsformen einer HIV-Infektion bzw. nachfolgenden Aids-Erkrankung thematisierte ("Zwischen 'sida-fiction' und Feuilleton: Die medialisierte Krankheit des Hervé Guibert"). Die subjektiv als Skandolon empfundene Krankheit wurde von Guibert durch gezielte Tabubrüche in Veröffentlichungen, Zeitungs- und Fernsehinterviews zu einem Medienereignis gesteigert. Die lebenslange künstlerische Beschäftigung mit sich selbst mündete zudem in einem Dokumentarvideo über den eigenen von Aids gezeichneten Körper. Aus den Reaktionen in Presse und akademischer Literaturkritik auf die Selbstinszenierungen Guiberts resultierte schließlich eine Neuevaluation seines schriftstellerischen Status, wie anhand von Bourdieus' Theorie vom literarischen Feld nachvollzogen wurde.

Im Bereich der Autobiographie verorteten sich zunächst ebenfalls die Untersuchungen Stefan Willers (Berlin), welcher an Jeffrey Eugenides' Middlesex und Ulrike Draesners Mitgift der erzählerischen Ausgestaltung von Hermaphrodismus im zeitgenössischen Roman nachging. Dabei ließ sich die intensive Rezeption gender-theoretischer Diskussionen von seiten der AutorInnen nachweisen. Der medizinisch nicht per se behandlungsbedürftige Befund Hermaphrodismus, so machen beide Texte deutlich, gerät unter dem sozialen Prärogativ der Eindeutigkeit zum operativen Eingriff, der das 'einzig wahre Geschlecht' zu konstituieren verhelfen soll. Von besonderem Interesse sind nun die von den AutorInnen aufgewiesenen Wege, in der Verschriftlichung der Lebensgeschichte Identität zu stiften, ein Lösung inmitten des Dilemmas zwischen den Geschlechtern zu entwerfen. Mit dieser Selbstgenerierung als geschlechtliches Subjekt geht zugleich die Abwandlung narrativer Muster einher, denn als "Familien- oder Generationsromane", so Willer, inszenieren Middlesex und Mitgift nachdrücklich die Frage der biologischen Reproduktion.

Trivialisierenden Zerrbildern der Transplantationsmedizin widmete sich Irmela Krüger-Fürhoffs (Greifswald) Beitrag "Geraubt, verschenkt, gespendet. Feindliche Übernahme und geheimnisvolle Verschwisterung in literarischen und medialen Konstruktionen der Organtransplantation". Gilt der Laienwahrnehmung das Herz immer noch als das exponierteste und emotional am stärksten besetzte Organ, so scheint mit ihm in einer charakteristischen Mehrfachcodierung untrennbar der Sitz des Lebens, der Affekte, der charakterlichen Identität verbunden. Diese stark stereotypisierte Herzessymbolik wird im aktuellen Unterhaltungsangebot der verschiedenen Medien mit Vorliebe mit dem Motiv der Transplantation in Zusammenhang gebracht, wie der Vortrag unter Rekurs auf Romane, deren Verfilmung, oder auf Fernsehproduktionen offenlegte. Vorherrschende Handlungselemente sind die Suche nach dem verblichenen Spender oder aber die Vereinnahmung des das Herz aufnehmenden Individuums durch die Dispositionen des einstigen Organträgers. Während die zuvor verhandelten Fallbeispiele von Krebs, Aids und Hermaphrodismus dem medizinischen Fachwissen ihren Tribut zollen, trägt die Organverpflanzung ganz offensichtlich nur noch einen oberflächlichen Verweischarakter, der sich im weiteren den Erfordernissen von Melodramatik oder Spannungserzeugung unterwirft. Insofern wird dem Publikum ein "kardiozentrisches Körperbild" präsentiert, das geeignet erscheint, brüchig gewordene Identitätskonzepte im Gewande einer geistlosen Schauerromantik zu verhandeln.

Im weiteren befaßten sich zwei Beiträge intensiv mit Freuds Methode der Traumdeutung. Bettina v. Jagow (München) beschrieb das epochemachende gleichnamige Werk als eine zwischen Natur- und Geisteswissenschaften lokalisierte Hermeneutik des Traums in ihrer Abgrenzung zu Dilthey wie auch zu Schleiermachers Kunstlehre ("Traum - Schrift - Tod. Pathologisierungen des Schreibens in der Moderne"). Briefstellen belegen hierbei den entscheidenden Einfluß von Freuds Selbstanalyse, etwa die Nachwirkungen des Todes seines Vaters. Die methodische Grundlage wurde sodann an Kafkas Ein Traum und an Celans Der Sand aus den Urnen appliziert. In Kafkas Erzählung steht des Schriftstellers Traum vom eigenen Grabesgang noch ganz im Zeichen der Verweisfunktion auf die vertrackte Pathologisierung des Schreibens. In Celans Gedichtsammlung hingegen kann der Begriff 'Traum' nur noch als inhaltsleere Chiffre dienen, er wird reduziert auf ein diskontinuierlich erscheinendes Objekt, während er Melancholie bzw. Hoffnungslosigkeit nur noch signalisiert, nicht aber mehr füllt.

Brigitte Boothe (Zürich) widmete der bereits von v. Jagow thematisierten Implikation Freuds in die Erstellung seines Lehrgebäudes einen eigenen Beitrag ("Der Arzt im Traum - Arztsein als Traum. Aus dem Traumbuch von Sigmund Freud"). Ausgehend von Freuds Beschreibungen eigener Träume fokussierte Boothe auf eine spezielle Ausdeutung, die für den Begründer der Psychoanalyse paradigmatischen Wert einnahm. Allerdings las Boothe in ihrer intensiven Betrachtung das Traumgeschehen gegen den Strich und vermochte, die rhetorische Organisation der Traummitteilung zu erhellen, wodurch der Traum(bericht) als literarische Form in den Blick gelangte. Freuds Rolle als Arzt, so wurde ersichtlich, prägt dabei unmittelbar den manifesten und latenten Trauminhalt, wenn er sich etwa mit Hilfe der szenischen Figurationen von Selbstvorwürfen bezüglich einer von ihm betreuten Patientin entlastet.

Einen direkten Zugang zur künstlerischen Umsetzung von Krankheitserfahrung stiftete die Arbeit Reinhild Gerums (München). Die Installation eines begehbaren Kubus (Titel der Arbeit: "Es ist nur eine Haaresbreite") der Künstlerin speiste sich direkt aus ihrem sozial-therapeutischen Engagement im Umgang mit Patienten einer psychiatrisch-forensischen Station: transparente Wände verzeichneten auf der Außenseite Presseberichte über Gewaltverbrechen, während auf der Innenseite handschriftlich Interviews mit vier ausgewählten 'Gewalttätern' aufgetragen worden waren. Im Innenraum des Kubus symbolisierten Drahtgewirr und Messer die schwer entwirrbaren Lebensläufe hin zur Tat.

Florian Steger (Erlangen-Nürnberg) vereinte in seinem Vortrag ("Individuum und Öffentlichkeit. Zum Verhältnis von Psychiatrie, Recht und Macht") psychiatriegeschichtliche und medienwissenschaftliche Ansätze. Betrachtet wurde der Konnex zwischen Psychiatrie, Rechtsprechung und öffentlichen Medien am Fallbeispiel der 'Bestie' Frank Schmökel. Nachgewiesen wurde dabei, wie der Diskurs der Medien neben jene von Psychiatrie und Justiz tritt, Diskursformen, die allesamt über das delinquente Subjekt Macht auszuüben vermögen. Das Bild des Täters wird hier nicht mehr nach Maßgabe medizinischer Kriterien entworfen, sondern erhält seine Konturen dank des Rückgriffs auf festgefügte stigmatisierende Topoi und der Einbettung in eine mit fiktionalen Elementen gefüllten Narration. In der Folge davon entgleitet der Institution Psychiatrie die Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit, und journalistische Interpretationen von Tat und Täterschaft entfalten ihre meinungsbildende Wirkmacht bis in die Bereiche der Justiz oder der Psychiatrie selbst.

Aus der Sicht des Arztes erörterte Felix Tretter (München) die medialen Darstellungen psychischer Krankheit und psychiatrischer Behandlung ("Psychiatrie in den Massenmedien/Film und öffentliche Meinung"). Gestützt auf repräsentative Meinungsumfragen konnte der hohe Grad an Un- bzw. Desinformiertheit über die Realität des psychiatrischen Alltags ausgemacht werden. In einem zweiten Schritt fokussierte Tretter auf die Massenmedien und den ihnen eingeschriebenen Zwang zur "Sensationalisierung". Die Filmanalyse einer Sequenz aus der TV-Krimiserie Komissar Rex belegte erneut die bereits von Krüger-Fürhoff und von Steger konstatierten Verzerrungen. Tretters Fazit mündete, in Anlehnung an Noelle-Neumanns "Schweigespirale", in der Skizzierung einer "Verblödungsspirale", welche die wechselseitige Bedingung von Medieninhalten und Publikumserwartung erfaßte.

Einer im engeren Sinne wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive waren schließlich die Vorträge von Axel Gelfert (Cambridge) und Stefan Artmann (Jena) verpflichtet. Gelfert verfolgte in seiner philosophiehistorischen Analyse die Wechselbeziehungen zwischen Medizin und analytischer Philosophie anhand des skeptizistischen Motivs der 'Krankheit' ("'... like the treatment of an illness'. Medizinische Motive in der analytischen Philosophie"). Ist dem Zweifel an der philosophischen Erkenntnis, der einer Krankheit gleich wunde Stellen aufzudecken weiß, im pyrrhonischen Skeptizismus noch ein therapeutisches Moment des Dialogs zu eigen, so ändert sich dies nachhaltig mit der monologischen Selbstanalyse eines Descartes und seinem Postulat der makelfreien Logik. Indem von nun an Gesundheit zur einseitig gültigen Norm erhoben wurde, an der sich Krankheit als Abweichung orientiere, verlagerte sich des Verständnis vom Verhältnis von Krankheit und Gesundheit insgesamt, wurde die Auffassung eines Gleichgewichts der Kräfte diskreditiert.

Im Zentrum der Betrachtungen Stefan Artmanns stand der vor wenigen Jahren verstorbene englische Populationsgenetiker William D. Hamilton ("Hamiltons Leben. Autobiographisches Sein und evolutionstheoretisches Sollen in der populationsgenetischen Klinik"). Als markante Besonderheit ist seinen darwinistischen Untersuchungen die Verbindung wissenschaftlicher Darstellung mit autobiographischen Rahmentexten zu eigen. Jene Einleitungen leisten nicht nur eine wissenschaftstheoretische Reflektion, sondern versuchen, die Forschungstätigkeit Hamiltons im Rahmen der persönlichen Dispositionen und der biographischen Entwicklung einzubetten. Dadurch können auch seine evolutionsgeschichtlichen Modelle, welche in den Bereich der Ethik der Medizin übergreifen, als konstruktive Leistung am Knotenpunkt von Naturwissenschaft und kultureller Kontextualisierung erkannt werden.

Der von Dietrich v. Engelhardt (Lübeck) gehaltene Abendvortrag des zweiten Veranstaltungstages ("Vom Dialog der Medizin und Literatur im 20. Jahrhundert") bot in einer Art summa - weshalb er hier auch abschließend Erwähnung finden soll - die methodische Anleitung zur Befragung des Feldes von literarischen Texten und Medizin. Dabei kristallisierten sich drei grundlegende Beziehungen heraus: die literarische Funktion der Medizin, die medizinische Funktion von Literatur (Bibliotherapie, Graphotherapie) und die genuine Funktion der literarisierten Medizin. In diesem Zusammenhang wurde unter anderem der Beitrag hervorgehoben, welchen Literatur im Blick auf die Medizin zu leisten vermag, etwa in der Vermittlung eines Verständnisses von Krankheit, Gesundheit, Therapie, Diagnostik, Sterben u.a.m., wie es in der medizinischen Literatur selbst nicht thematisiert wird. Kann Kunst ihrerseits vernachlässigte Dimensionen ärztlichen Handelns zu Bewußtsein bringen, so formulierte v. Engelhardt im Gegenzug zugleich - in Analogie zur einstmals praktizierten ars moriendi - die Forderung nach einer neuen 'Kunst des Krankseins'.

Die Fülle der Perspektiven, welche sich unter dem gemeinsamen Motto der Veranstaltung präsentierten, boten insgesamt betrachtet nicht nur Möglichkeiten zur gegenseitigen Anregung thematisch benachbarter Forschungsinteressen. Vielmehr erlaubte die leitende Fragestellung - die kritische Analyse künstlerischer bzw. kultureller Umsetzungen medizinischer Inhalte - auf unterschiedlichen Gebieten analoge Phänomene zu vermerken: Die transformierende Anverwandlung medizinischen Wissens bedarf in ihrer Deutung unabdingbar einer Berücksichtigung der Eigengesetzlichkeiten der jeweils gewählten Medien und ihres sozio-kulturellen Standorts. Desweiteren verweist sie auf die spezielle Eignung der jeweiligen Krankheitsmotivik, Momente der Krisis für Identitätsentwürfe abzubilden, welche zwar am Einzelfall abgelesen werden, in ihrer Exemplarität jedoch Geltung für übergeordnete gesellschaftliche Zusammenhänge beanspruchen. Letztlich, hätte es der Bestätigung noch bedurft, erwies sich an den konkreten Beispielen, daß Krankheit bevorzugt dann evoziert zu werden scheint und den Kern kultureller Produktionen bildet, wenn sie Anlaß gibt zur Verhandlung ethischer Problematiken, weshalb sie sich als genuiner Untersuchungsgegenstand nicht nur der Medizin, sondern auch der Geisteswissenschaften präsentiert.

Die Ergebnisse der Tagung werden in Form eines Sammelbandes im Frühjahrsprogramm 2004 des Universitätsverlags Winter Heidelberg publiziert.